Trennung
Trennung
Es ist spät geworden diesen Abend.
Wieder einmal.
Wie so oft.
Traurig und einsam sitze ich hilflos in meinem Stuhl und starre vor mich hin.
Mein Blick gleitet aus meinen Augen heraus an den kalten und leeren Bierflaschen vorbei hinüber zu meinem leuchtenden Monitor.
Doch er trifft ihn nicht wirklich.
Leise schleicht er sich durch die Luft, schlängelt sich an den kunstvollen Rundungen der gläsernen Hälse vorbei nur um sich unbemerkt durch eine klitzekleine Fuge der Realität hinaus ins Nichts zu verdrücken.
Die Müdigkeit sitzt mir derb in den Knochen und mein Rücken schmerzt. Meine Augen sind glasig und schwer.
Ich frage mich, was ich wohl falsch gemacht habe...
Und frage mich, warum ich mich das jedes mal Frage, wenn es soweit ist.
Warum ist der Schmerz jedes mal so tief und nachhallend?
Die eisige Kälte, die sich im Inneren meines Bauches bildet, sich ausbreitet, alles verschlingend und gleich einer Naturgewalt langsam und unaufhaltsam nach oben wandert, vorbei an den filigranen Härchen der Lunge, hindurch das verletzliche Gewebe und todbringend bis in den Rachen wo sich riesengroße steinerne Blöcke bilden, die einem die Tränen ins Gesicht treiben.
Man versucht zu schlucken, doch alles was man damit erreicht ist ein erstickendes Keuchen, das ebenso einsam wie man selbst ungehört in den kleinen Weiten der eigenen Wohnung verhallt.
Schon mit dem atmen scheint man überfordert, denn jeder Schwall der unheiligen Luft dieser Umgebung treibt die eigene Verzweiflung tiefer in das gemarterte Herz.
Und es schlägt und pumpt und führt die Trauer in Wellen durch den Körper, solange bis ich es kaum mehr zu ertragen in der Lage bin.
Während sich eine kleine Träne der unendlichen Verzweiflung an den weitesten Ausläufern meiner Augen bildet klicke ich wahllos mit meiner Maus umher.
Ich kann nicht mehr in gewohnten Bahnen denken. Alles um mich herum scheint unwirklich, verschwimmend und leblos...
Der leere Teller an meinem Platz... der gefüllte Aschenbecher und das angerissene Päckchen Zigaretten blicken erwartungsvoll in meine Richtung...
Doch ich sehe in ihnen keine Hilfe mehr...
Meine Heizung steht auf höchster Stufe, mein Fenster ist geschlossen und doch greift in meinem Körper die Kälte um sich, so daß ich ein leichtes Zittern nicht unterdrücken kann.
Wenn ich noch die Kraft hätte wütend zu sein... nein... alles wozu ich noch in der Lage bin ist die Resignation... das Schicksal mit gedemütigtem Haupt ertragen.
Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf und ich beobachte sie alle auf einem Rollband dahingleitend gleich, hinführend vom Ursprung bis hin zur kraftlosen Nicht-Beachtung.
Hin und wieder greife ich zu, einerseits nach meinem letzten Bier, andererseits nach einer dieser Fragen...
Wenn ich doch nur vor ein paar Tagen...
Vielleicht hätte ich dann doch noch...
Und der Schmerz kochte leise zischend vor sich hin.
Ich wollte mich verstecken, mich wider der Tatsache stellen... die Realität verleugnen und mich einfach der Illusion hingeben, es wäre alles in Ordnung. Nichts könnte uns trennen, keine Tatsache, nichts was geschehen war, niemand anderes auf dieser Welt...
Es war zwei Uhr in der Nacht...
Meine Bewegungen waren fahrig und unkoordiniert, was einerseits an der unendlichen Trauer in meinem Herzen lag und andererseits am getrunkenen Bier.
Wieder und wieder versuchte ich vor meinem Verstand mögliche Rechtfertigungen zu erbringen, wie ich das Ende noch herauszögern... verbiegen... abwenden konnte...
Um alles in der Welt, es konnte doch nicht einfach so vorbei sein!
Flammend heiß ergoß sich das Eis der Verzweiflung über meine Seele, als meine Gedanken zu dem wanderten was mich erwartete. Ich knirschte fast weinend mit den Zähnen, als sich das Inferno durch meinen Brustkorb fraß und jegliche Hoffnung auf Besserung, Verständnis oder was auch immer mich noch retten konnte, vernichtete.
Zu einem lautlosen Schrei öffnete sich mein Mund... doch über meine Lippen ergossen sich nur die kullernden Tränen der Hilflosigkeit aus meinen schreckensgeweiteten Augen.
Wie fühlt man sich, wenn man vor den Trümmern seiner Existenz steht?
Keine Hoffnung mehr in Sicht und niemand da, der einem Trost oder Mut spendet.
Was sagt man, wenn alles gesagt ist und keiner mehr da ist, der einem zuhört?
Was tut man, wenn alles getan ist und keine Möglichkeit mehr bleibt?
Die Erkenntnis war vielleicht noch schlimmer als alle meine Versuche sie von mir zu schieben. Mit Worten kaum noch zu beschreiben saß ich in meinem Stuhl und ergab mich jeder Sekunde meines Lebens, die sinnentleert lachend an mir vorbeiraßte und mir im vorüberziehen noch ein hämisches Grinsen ins Gesicht schmetterte.
Wenn man sich aufgibt... spürt man noch die Schmerzen, die einem zugefügt werden? Oder fühlt es sich so taub an, wie ich mich gerade fühle?
Es tut nicht einmal mehr weh...
Nur das Blut rauscht in den Ohren.
Rauscht im Kopf... hinaus in das leer gefegte endlose Land der kargen Weiten meines Geistes. Überspült die Felsspalten der nie zuende gedachten Gedanken, fließt in die Täler der tiefgründigen Gedichte und ergießt sich donnernd über die Berge der großen und natürlichen Festung des eigenen Verstandes.
Rote Schlieren vernebeln meinen Blick, als ich wieder und wieder nach meiner Maus taste. Der monotone Klick der einfachen Mechanik gibt mir einen winzigen... aber vielleicht gerade den entscheidenden Halt an diese Welt... an diese Realität, bevor ich gänzlich hinabzugleiten drohe in diesen Wahnsinn, der sich hinter meinen Schläfen bildet.
Mit allerletzter Kraft klammere ich mich an diesem letzten mir gebliebenen Strohhalm.
Und als ich meine Augen wieder öffne, mein Blick wieder klar wird akzeptiere ich mein Schicksal. Ich kann nicht existieren mit dieser Bürde, ich muss es beenden, wenn ich nicht als ausgesaugte Wesenheit völlig leblos durch die unendlichen Facetten dieser großen Realität zu wandeln verdammt sein will.
Ich musste mich von ihr trennen, es führte kein Weg mehr daran vorbei...
Ein Gefühl wie das eines Henkers kurz vor der Enthauptung überkommt mich.
Ich habe Mitleid.
Und dennoch wandert mein Mauszeiger unaufhaltsam auf den "Internetverbindung trennen" Button zu.