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Traumurlaub
„Deshalb möchte ich abschließend im Namen des Firmenvorstandes nochmals einen herzlichen Dank für dieses überaus erfolgreiche Geschäftsjahr aussprechen. Umso mehr freut es mich daher auch, Ihnen mitteilen zu können, dass ab dem kommenden Quartal beträchtliche Gehaltserhöhungen beabsichtigt sind.“ Der Direktor sah sich lächelnd um, hob sein Weinglas und nickte kurz den wartenden Kellnern zu.
„Und nun wünsche ich uns allen einen angenehmen Abend.“
Nach dem obligatorischen Applaus erhob sich dezentes Stimmgemurmel. Personalbearbeiter in Anzügen machten Sekretärinnen in Kostümen schöne Augen, IT-Spezialisten plauderten mit Finanzexperten und überall prostete und lächelte man sich zu, während die Vorspeise serviert wurde. Cremefarbene Hummersuppe, auf der in verschnörkelten Mustern eine Haube aus Ingwersahne und karamellisierten Mandelblättern schwamm.
Hannah nippte an ihrem Mineralwasser und lächelte jedes Mal kurz und scheu, wenn ihre Kollegen sie ansprachen, was zum Glück nicht oft vorkam. Sie spielte unter der schneeweißen, steifen Tischdecke nervös mit ihrer Serviette, während sie gedanklich die Agenda des Abends durchging. Zehn Minuten für eine Suppe, die ihr nicht schmecken würde. Sie mochte keine Meeresfrüchte, hatte sich aber nicht getraut, nach einer anderen Vorspeise zu fragen. Dann kam eine weitere Rede, bei der man kurz die neuen Projekte und zukünftigen Pläne vorstellen würde. Die würde bestimmt 15 Minuten dauern. Der Hauptgang würde mindestens 45 Minuten in Anspruch nehmen. Danach schon wieder eine Ansprache über weiß Gott was Erwähnenswertes, für die sie auch mit einer Viertelstunde rechnete. Das Schokoladensoufflé würde sie weitere 10 Minuten kosten. Dann, wie könnte es auch anders sein, schon wieder eine Rede, diese zum Abschluss des offiziellen Teils der Feier. Aber selbst dann konnte Hannah noch nicht gleich aufspringen, denn es wäre in ihren Augen unhöflich gewesen, sofort zu gehen.
„Frau Konrad?“
Hannah musste also gut und gerne zweieinhalb Stunden warten, bis sie endlich wieder nach Hause zu ihrer Katze Susi, ihrem Sofa, einer schönen Tasse Tee und dem guten neuen Buch zurückkehren konnte, dass sie gerade angefangen hatte. Raus aus den Schuhen mit den hohen, unbequemen Absätzen. Keine anstrengenden, belanglosen Konversationen mit aufdringlichen Arbeitskollegen, die der Ansicht waren, die „schüchterne, introvertierte“ Hannah müsse sich endlich mehr in das allgemeine Betriebsgefüge einbinden und die es ja immer bloß gut mit ihren Rat- und Vorschlägen meinten.
„Frau Konrad?“
Noch 150 Minuten, und dann hätte sie für zwölf Monate wieder Ruhe vor den dummen Witzen, dem neusten Tratsch über die Affäre von Frau X mit Herrn Y und Zig-Sterne-Menüs in gezwungener Atmosphäre.
Sie lächelte trotzdem still vor sich hin, als sie an den restlichen Abend und das anschließende Wochenende dachte. In der Philharmonie wurde am Samstag ein Konzert von …
„FRAU KONRAD!“
Hannah schnellte aus ihren Gedanken hoch und sah erschrocken zum Kopf der langen Tafel. Der Direktor blickte missbilligend mit gerunzelter Stirn zu ihr hinüber. Sie musste zweimal schlucken, ehe sie ihrer Stimme genug vertraue.
„Ja… ja bitte, Herr Neubert?“
Der vorwurfsvolle Blick des Direktors wandelte sich in beinahe so etwas wie Mitleid. Und das traf Hannah mehr als die Vorstellung, der Direktor könnte vielleicht aus irgendeinem Grund wütend auf sie sein.
„Frau Konrad, jetzt entspannen Sie sich und machen Sie nicht so ein Gesicht. Dass unser Jahr so erfolgreich war, verdankt ViVoy nicht zuletzt Ihrem Gespür für Börsenentwicklungen.“
Mehrere Köpfe drehten sich zu ihr herum.
„Hört, hört!“, rief ihre Arbeitskollegin Mona grinsend. Hannah wurde knallrot und wäre am liebsten im Boden versunken. Sie hasste Aufmerksamkeit.
„Das ist mein voller Ernst“, sagte Direktor Neubert nachdrücklich. „Wenn es im nächsten Quartal Gehaltserhöhungen gibt, dann können Sie alle sich dafür auch bei Frau Konrad und ihren exakten Analysen bedanken.“
„Hannah, der Kaffee in der Kantine geht dann nächstes Jahr auf mich. Vorausgesetzt, du gehst ab und zu auch mal wieder mit uns essen.“ Allgemeines Gekicher und Gelächter erschallte. Die Bemerkung war von Dietrich Krüger, einem Witzbold aus der Reiseabteilung gekommen. Er hatte sie einmal in der Kantine zum Essen oder ins Kino einladen wollen. Natürlich hatte sie ihn unbeholfen mit ein paar gestammelten Ausreden abblitzen lassen. Von da an neckte er sie von Zeit zu Zeit. Er wusste genau, dass Hannah seit dieser für sie unvertrauten Annäherung durch einen Mann die Kantine und alle anderen Zusammenkünfte mit ihm mied, wo es nur ging. Und ihre Kollegen wussten das auch. Hannah lächelte gequält und nickte ihm so freundlich sie konnte zu. Direktor Neubert hob erneut sein Glas.
„Und deshalb, Frau Konrad, hat der Vorstand Ihnen einen kleinen Bonus bewilligt. Sie erhalten auf Firmenkosten einen zweiwöchigen Urlaub aus unserer Primus-Kategorie.“
Unterdrücktes Gemurmel und anerkennende Pfiffe wurden laut. Mehrere Arbeitskollegen warfen Hannah neidische Blicke zu. Schon in der Basic-Version kostete ein Zwei-Wochen-Primus-Trip selbst für Mitarbeiter eine ziemlich hohe Summe. Außerdem waren die Wartelisten unglaublich lang.
Hannah wurde gleichzeitig eiskalt und glühend heiß. Sie kannte die Reisen ihrer Firma nur von den internen Fortbildungen, und das reichte ihr schon. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, als würde sie jemand strangulieren. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn sie das Fernweh packte, dann machte sie es sich mit einem farbenprächtigen Bildband, einem Reisebericht und einer schönen Kanne Tee in ihrem Wohnzimmer gemütlich, während Susi schnurrend neben ihr auf dem Sofa lag.
Die notwendigen Untersuchungen, Vorbereitungen und das ganze Drumherum bei einer ViVoy-Reise waren ihr schon von dem Augenblick an unheimlich, als sie den Vorgang als Zuschauerin mitangesehen hatte. Niemals hätte sie freiwillig an sowas teilgenommen. Nicht mal geschenkt. Doch genau das machte ihr Chef jetzt und erwartete mit ziemlicher Sicherheit auch noch Dankbarkeit von ihr.
„Ähm… vielen Dank. Was… was für eine nette Überraschung, Herr Neubert.“
Der Direktor runzelte angesichts Hannahs kläglichen Tonfalls erneut kurz die Stirn.
„Melden Sie sich am Montag bei Herrn Faßbender oder Herrn Krüger in der Reiseabteilung. Die werden dann alles Weitere mit Ihnen klären.“ Damit nickt er ihr nochmals freundlich zu, ehe er sich erleichtert wieder seinen Tischnachbarn zuwandte.
Dietrich Krüger verdrehte genervt die Augen. Dann nahm er einen großen Schluck Wein und sah zu seinem Kollegen rüber.
„Das glaub ich doch jetzt echt nicht. Da kriegt die Konrad volle zwei Wochen ViVoy geschenkt. Und die macht ein Gesicht, als hätte ihre dämliche Katze ihr in die Schuhe gepisst. Mann, an ihrer Stelle würde ich zwei Wochen Décadence buchen und es so richtig krachen lassen.“
Sein Freund grunzte verächtlich.
„Als ob ausgerechnet die einen Trip nach Décadence nehmen würde. Wahrscheinlich wird sie die Insel-Tour oder den Trip in die Berge wählen. Aber ganz sicher nicht Décadence.“
„Na, das werden wir ja noch sehen.“ Dietrich grinste leicht und nippte an seinem Wein.
Hannah atmete tief durch und klopfte dann zaghaft an der Bürotür. Vielleicht war er ja gar nicht da. Sie könnte einfach sagen, sie hätte niemanden angetroffen. Vielleicht würden die anderen nicht weiter fragen, wenn sie dieses Spiel zwei, drei Tage erfolgreich durchziehen konnte. Zumindest hätte sie dadurch…
„Herein.“ Soviel also zu „niemanden angetroffen“.
Dietrich schien sie erwartet zu haben.
„Hallo Hannah. Wie schön, dass du da bist. Ich wette, du bist bestimmt schon ganz aufgeregt, nicht wahr? Ist das deine erste ViVoy-Reise?“
Hannah nickte stumm, während sie sich in Krügers Büro umsah. An den Wänden hingen riesige Hochglanzplakate von exotischen Stränden, schneeweißen Winterlandschaften, Bergen, Seen, Meeren, Wäldern und neonhellen Städten bei Nacht.
„Dann erkläre ich dir kurz, um was es geht. Auch wenn du aus der Firma bist, muss ich das machen. Du weißt schon, das Kleingedruckte.“ Dietrich grinste sie entwaffnend an.
Hannah lächelte kurz und setzte sich auf einen Bürostuhl.
„Mit Virtual Voyages bekommst du den absoluten Traumurlaub, den du dir nur wünschen kannst. Dazu wirst du in einen Tiefschlaf mit einer hyperenzephalitischen Traumphase versetzt. Mit einem Medikament stimulieren wir bestimmte Hirnteile und halten gleichzeitig deinen Herzschlag und Blutdruck stabil und niedrig. Rein körperlich gesehen ist es ein tiefer, erholsamer Schlaf. In dieser Phase übermittelt ein Computer mit Hilfe einer Sensorenhaube Impulse an dein Gehirn. Et voilá - du erlebst deinen perfekten Urlaub. Und zwar absolut real. Nicht wie in einem Traum oder einem Film. Viel besser. Es ist absolut echt. Du kannst sehen, riechen, fühlen, schmecken, reden, tanzen, trinken, lachen – alles. Du wirst keinen Unterschied bemerken. Wie gesagt, absolut real.“
„Aber die „zwei Wochen“ dauern, soweit ich weiß, doch nur ein paar Stunden, nicht wahr?“
„Ja genau. In der hyperezephalitischen Phase empfindet das Gehirn kein reales Zeitgefühl. Deshalb dauert der Aufenthalt im Traumsalon auch weniger als drei Stunden. Aber glaub mir, für dich werden es zwei ganze, wundervolle Wochen sein. Du musst dir das so vorstellen, dass du im Traumsalon die Augen zumachst und an deinem Urlaubsort aufwachst. Und dann geht der Spaß los. Mit allem Drum und Dran.“
Hannah schluckte schwer.
„Und was muss ich dann da machen?“
Dietrich konnte seinen Unwillen nur undeutlich verbergen. Unwillkürlich zogen sich seine Mundwinkel nach unten.
„Hannah, du musst überhaupt nichts machen, außer Spaß haben und das tun, was du in deiner Freizeit halt gerne so machst. Nur mit dem Unterschied, dass ViVoy-Trips perfekt sind. Kein Reisestress, immer fantastisches Wetter, keine betrügerischen Taxifahrer, keine baufälligen Hotelzimmer, kein Krach, keine Mücken, du kriegst am Pool immer die beste Liege und hast keinen Ärger mit miesem Essen und frechen Kellnern, die dich nicht verstehen. Eine perfekte Computerausrüstung, die nur dem einen Zweck dient, dir deinen perfekten Urlaub zu ermöglichen. Willst du auf einem schneebedeckten Berg bei strahlend blauem Himmel ein frischgezapftes Bier trinken, während du dich über der Wolkendecke befindest? Oder jeden Tag in kristallklarem, warmem Wasser surfen und unter Palmen in einer Hängematte Cocktails schlürfen? Kein Problem!“
„Ich kann nicht surfen.“ Hilflos sah Hannah zur Tür.
„Ein sexy durchtrainierter Beachboy kann es dir beibringen, wenn du willst. Der Computer passt die Simulation entsprechend an.“
„Und mein Gepäck? Ich brauche doch was anzuziehen. Oder mal ein Buch.“
Dietrichs halbseidenes Verkäuferlächeln kehrte zurück und er breitete die Arme aus.
„Na hör mal, wir wären nicht seit vier Jahren in Folge Testsieger in jeder Urlaubsbewertung, wenn wir nicht an solche Details gedacht hätten. Jedes unserer Urlaubsziele ist wie eine absolute Luxusferienanlage konzipiert worden. Du hast deine völlige Ruhe, aber wenn du etwas brauchst, dann steht immer Personal bereit, dass dir jeden deiner Wünsche von den Augen abliest. Wenn du was zum Anziehen haben willst, dann sprichst du den nächst besten Portier an und sagst ihm, dass du Kleidung brauchst. Und siehe da – in unmittelbarer Nähe erscheint die edelste Modeboutique, die es gibt. Maßgeschneiderte Seidenabendkleider? Bikinis? Jeans und Turnschuhe? Was du willst, du kriegst es. Und jedes Kleidungsstück passt wie angegossen. Egal, wie oft du beim Frühstücksbuffet zuschlägst. Apropos Essen - du kannst übrigens auch nicht zunehmen. Computergenierte Schlemmerorgien machen garantiert nicht dick!“ Dietrich lachte laut und jovial.
„Und wenn ich was lesen will, dann muss ich das nur einem der Hotelangestellten sagen?“
„Genau, und schon bringt dir jemand das Buch, das du haben willst. Vorausgesetzt, das Buch befindet sich als Download-Datei in einem unserer Archive. Der Computer erkennt deine Wünsche und lädt sie maßgeschneidert für dich in deine Urlaubswelt hoch. Wie gesagt – alles entspricht perfekt deinen Wünschen.“ Dietrich zwinkerte verschwörerisch mit einem Auge und grinste breit. „Deshalb ist der Spaß ja auch so schweineteuer und die Wartelisten einen Kilometer lang. Unsere Kunden, die zu ihrer goldenen Hochzeit oder für die einmalige Reise ihres Lebens sparen, haben schließlich auch nur das Beste verdient, nicht wahr?“
Hannah seufzte leise und sah sich dann die verschiedenen Hochglanzprospekte an.
„Was für Reisen gibt es denn zur Auswahl?“
„Nun, wir hätten da die Traumtour auf eine tropische Paradiesinsel mit eigenem Bungalow direkt am Strand. Dann gibt es noch das Winterressort. Eine wundervoll lauschige Hütte mit Kamin in verschneiten Bergen, falls dir der Sinn eher nach Skifahren oder Snowboarden steht. Oder wie wäre es mit einer Fotosafari durch Wüsten, Urwälder und Savannen voller Wasserfälle, exotischer Tiere und fruchtiger Cocktails? Eines der beliebtesten Urlaubsprogramme ist natürlich der Klassiker schlechthin – eine Fahrt auf einem Luxusdampfer. Garantiert Erste Klasse und du kannst dich an den Bug stellen und „Ich bin der König der Welt“ rufen, wenn du willst.“ Dietrich grinste. Hannah wusste nicht, ob er das ernst meinte oder sich über sie lustig machte.
„Ich kann mir gut vorstellen, dass ich schnell seekrank werde.“
Dietrichs Lächeln gefror.
„Hannah, warum siehst du eigentlich alles so negativ? Du wirst nicht seekrank, weil der Computer nicht zulässt, dass dir irgendwas Schlechtes passiert! Ein Traumurlaub wäre kein Traumurlaub, wenn du kotzend über der Reling hängen würdest, nicht wahr?“
Hannah warf einen Blick auf eine bunte, knallige Broschüre und hob neugierig eine Augenbraue. Dietrich folgte ihrem Blick und sein Grinsen erreichte die Grenze des anatomisch Möglichen.
„Ach so, das hätte ich ja fast vergessen“, sagte er gedehnt. „Wir hätten im Programm natürlich auch einen kleinen Ausflug nach…“ Dietrich machte eine kleine Kunstpause. „…nach… nach…TaTaaaa: Décadence!“
Hannah sah ihn ausdruckslos an. Er seufzte resigniert.
Das mit Abstand erfolgreichste Produkt und diese frigide Schlaftablette hat natürlich noch nie was davon gehört!, dachte er genervt.
„Décadence ist so eine Art Disney Land für Erwachsene. Du kannst es dir doch sicher denken, nicht wahr? Casinos, Glücksspiele, Alkohol, rauschende Partys und jede Menge, wirklich jede Menge äußerst… äh… freundliche und unkomplizierte Männer und Frauen jeden Alters, jeden Typs und für jeden Geschmack.“
Hannah verzog angewidert das Gesicht und schüttelte missbilligend den Kopf.
„Das ist ja ekelhaft!“
Dietrichs Miene verlor ihren heiteren Ausdruck.
„Was soll denn daran ekelhaft sein? Ekelhaft sind Sex-Reisen und Bumsbomber nach Südostasien, wo das wahre Leben spielt und man für ein paar Kröten zehnjährige Kinder kriegt! An einer Computersimulation, die keinem weh tut und wo garantiert nichts illegal ist, finde ich jedenfalls nichts Ekelhaftes. Wir verkaufen Träume, Phantasien und Wünsche in einem digitalen Umfeld. Das Ganze ist im Grunde genommen nichts anderes als das beste und realistischste Computerspiel der Welt. Die Armee hat’s als Trainings- und Kampfsimulator erfunden, und wir haben’s auf dem zivilen Markt im Entertainmentbereich etabliert. Das ist auch schon alles und du solltest das wissen, auch wenn du dich nur mit Aktienkursen und Berechnungen beschäftigst.“
Hannah sah verschüchtert auf ihre Schuhe und schluckte. Sie wollte endlich wieder ihre Ruhe haben. Schnell tippte sie auf das nächstbeste Prospekt.
„Na gut, Dietrich, ich nehme das hier… äh… die Berghütte, nicht wahr? Ansonsten diese Paradiesinsel oder meinetwegen den Ausflug in die Wüste. Schick mir doch bitte ein Mail, wann ich diesen… Urlaub antreten kann. Tschüss dann.“
Rasch stand sie auf und wandte sich zur Tür. Bloß wieder an ihren Schreibtisch und nach der Arbeit schnell zurück nach Hause, wo eine richtige Katze und ein richtiges Buch auf sie warteten, und keine digitale Märchenwelt.
Hannah atmete tief durch, während sie zurück in ihr Büro ging. Diesen „Traumurlaub“ würde sie auch überstehen. Und wer weiß, vielleicht würde die ganze Sache bei all dem unheimlichen Beigeschmack ja sogar tatsächlich ganz unterhaltsam werden. Sie erlaubte sich ein scheues kleines Lächeln und beschleunigte unbewusst ihre Schritte. Tatsächlich stellte sich fast so etwas wie eine vage Vorfreude bei ihr ein.
„Okay, sie ist jetzt in der Rem-Phase. Ich injiziere ihr den Neuro-Booster und dann können Sie das Programm starten.“ Der Arzt spritze eine Flüssigkeit in den Infusionsbeutel, der an einem Metallarm über der Liege hing, auf der Hannah schlief.
Dietrich nickte zufrieden und drehte sich zu seinem Kollegen an einer Computerkonsole um.
„Gut, dann fang jetzt an, Kevin.“
Kevin schluckte nervös und wischte sich die Hände an seinem Laborkittel ab.
„Ich weiß nicht, Dietrich. Ich weiß echt nicht, ob wir das machen sollen. Ich meine, Sie hat doch Tour Drei haben wollen. Das hat sie vorhin noch selbst gesagt. Dafür können die uns rausschmeißen.“
„Quatsch, keiner wird hier rausgeschmissen. Mag ja sein, dass sie Tour Drei gesagt hat, aber gezeigt hat sie in meinem Büro gestern auf Tour Fünf. Und sie war auch insgesamt nicht besonders wählerisch. Ich hatte sogar den Eindruck, dass es ihr relativ egal war, welche Tour sie gebucht hat.“ Dietrich kicherte leise.
„Das Ganze ist nur ein kleiner Streich. Außerdem wissen wir beide doch ganz genau, dass jeder, wirklich jeder, in Wahrheit Tour Fünf will. Die, die was Anderes behaupten, haben nur nicht den Mut, ehrlich zu sich selbst sein. Wir tun unserer guten Hannah hier also sogar noch einen Gefallen. Von sich aus hätte sie sich das nie getraut, nicht mal in einer Millionen Jahren. Du wirst sehen, das wird der beste Urlaub ihres Lebens. Also los, mach schon.“
Kevin murmelte leise vor sich hin, während er das Programm startete. Dietrich klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. Dann warf er Hannah einen Kuss zu.
„Danken kannst du mir, wenn du wieder wach bist. Jetzt erst mal viel Spaß in Décadence!“
Kevin überprüfte den Monitor und tippte dann einen Befehl in die Tastatur.
„Das Programm ist beendet. Ich fahre das System langsam wieder runter. Sie können sie aufwecken, Doc.“ Der Arzt nickte und beugte sich zu Hannah hinunter.
Dietrich zündete sich eine Zigarette an, während er feixend zu Kevin blickte.
„Du wirst sehen, Hannah wird so tun, als wenn nichts gewesen wäre und uns einfach nur danken. Aber das Grinsen werden wir wahrscheinlich den ganzen Monat nicht aus ihrem Gesicht kriegen. Mann, ich wette, die hatte in diesen drei Stunden mehr Sex als in ihrem ganzen Leben!“
Auch Kevin kicherte jetzt.
„Na ja, drei Stunden für uns. Für sie sind fast drei Wochen vergangen. Ich hab ihr noch ein paar Tage als kleinen Bonus draufgepackt. Hab einfach die Programmzeit ein wenig verlängert.“
„Wow, das ist ja richtig nett von dir.“ Dietrich lachte erneut und sah zufrieden zu Hannah hinüber.
Kevin tippte derweil weiter auf dem Computer herum und dreht sich kurz zu ihm herüber.
„Dietrich, zocken wir eigentlich jetzt am Wochenende mal wieder? Beim Server-Update am Samstag hätten wir ein Zeitfenster von einer Stunde. Ich hab den neuen Level von unserem Spiel fertig und bin schon ganz gespannt, wie er dir gefällt.“
„Geile Sache! Ein Jammer, dass wir das Spiel nicht in unser Angebot aufnehmen können. Das wär der Knaller, da wette ich drauf. Zeig mal ein paar Demos.“
Kevin öffnete ein Menü und klickte eine Datei an. Dann sahen beide gespannt auf den Monitor.
Eine braungebrannte Schönheit in einem hautengen, sehr knappen Abendkleid lächelte sie verführerisch mit strahlend weißen Zähnen an.
„Herzlich Willkommen in Décadence, wo Sie die schönste Zeit Ihres Lebens verbringen werden. Mein Name ist Caprice, und ich werde Ihnen alle Ihre Wünsche erfüllen. Wenn Sie lieber von meinem Freund Adam betreut werden möchten, dann freut auch er sich, Ihnen alle Ihre Wünsche zu erfüllen. Was immer Sie begehren, wir werden….“
Kevin runzelte die Stirn und stoppte das Programm.
„Was soll das denn?“, murmelte er, während er eine Datei öffnete.
Dietrich sah ihn verdutzt an und grinste.
„Soll das dein neuer Level sein? Hast du den etwa im Stil von Décadence gebaut? Ist ja abgefahren.“ Doch Kevin beachtete ihn nicht. Konzentriert starrte er auf den Bildschirm und öffnete eine Datei nach der anderen.
„Nein, das habe ich nicht. Keine Ahnung, was das hier ist, aber…“
Sie wurden vom Arzt unterbrochen, der mit ernstem Gesicht den Computerraum betrat.
„Herr Krüger, irgend Etwas stimmt nicht mit Hannah. Sie wacht nicht auf. So etwas habe ich noch nie erlebt. Sie scheint in einer Art Koma oder katatonischem Zustand zu sein. Ich muss einen Krankenwagen rufen, und zwar sofort.“
Dietrich sah alarmiert zu Kevin.
„Was hast du gemacht, verdammt noch mal?“
„Ich? Gar nichts, ich habe bloß das Programm gestartet und vorher die Laufzeit ein wenig verlängert, das ist alles.“
„Welches Programm hast du gestartet?“
„Na, Décadence, wie du gesagt hast.“
„Öffne die Programm-Datei von Hannah.“
„Was? Wieso? Mit dem Programm ist alles in Ordnung. Ich weiß auch nicht, was…“
„Öffne die beschissene Scheißdatei, verdammt nochmal!“, brüllte Dietrich.
„Haben Sie etwa das Programm geändert? Sind Sie komplett wahnsinnig geworden?!“ Der Arzt sah aus, als würde er jeden Moment auf Kevin losgehen.
„Nein, ich habe gar nichts geändert! Ich weiß nicht, was passiert ist. Moment, ich öffne Hannahs Programm.“
Der Monitor baute ein Bild auf. Kevin stieß wimmernde Laute aus. Der Arzt schüttelte wieder und wieder den Kopf. Dietrich musste sich am Tisch der Konsole abstützen.
„Du hast es verwechselt, du Idiot. Du… Du hast das Programm verwechselt. Das Programm. Unser Spiel! Du hast es verwechselt. Du Idiot! Drei Wochen lang! Hannah ist seit drei Wochen da drin. Du Idiot! Drei Wochen! Seit drei Wochen! Du hast es verwechselt!“
Die drei Männer starrten auf den Monitor. Unter dem Bild einer zerfetzten Leiche stand in blutroter Schrift: Alien Zombie Armageddon!