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Traumphasen, Schmetterlinge
„Das Leben ist ein Sommer“, sagte der alte Mann. Der Satz hing eine Weile zwischen unseren Stühlen in der Luft. Irgendwann verblasste er. Mir war kalt. Der Alte sah mich erwartungsvoll an. Ich hatte ihm nichts zu sagen. Mit einem Ruck erhob er sich, sein Stuhl kippte um. Er begann, im Zimmer herumzulaufen. „Ein Sommer auf dem Land. Wenn meine Frau wieder gesund ist, kaufen wir uns ein Haus auf dem Land.“
Er versteifte sich etwas, als er die Unsicherheit in seiner Stimme bemerkte. Dumpf klangen seine Schritte auf dem Teppich. Manchmal hielt er inne und wandte sich in meine Richtung. Dann sagte er Dinge wie Glück und Zufriedenheit. Ich zählte seine Schritte. Er begann lauter zu atmen und machte nur noch kleine Pausen zwischen den Sätzen. Als er nach einer Weile wieder an den Tisch zurück kam, hatte er ein dickes Fotoalbum unter dem Arm. Es war gefüllt mit unzähligen sorgfältig ausgeschnittenen Bildern, die kleine Bauernhöfe und Holzhütten zeigten. Er lächelte.
Ich stand auf und trat ans Fenster. Es hatte angefangen zu schneien. Bald würde das Laub im Garten vollkommen mit Schnee bedeckt sein. Ich dachte an das Geräusch meiner Schritte im Schnee und an die Fußspuren, die ich hinterlassen würde. In meinem Rücken hörte ich das Rascheln von Papier. Ich wandte mich um und fragte, ob ich mit seiner Frau sprechen könne. Er sagte ja.
Ich trat in das Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. Durch das Fenster fiel ein weiches Licht in den Raum. Die alte Frau drehte mir das Gesicht zu. Als sie sich bewegte, entstanden kleine Wirbel aus Staub und Licht über der Matratze. Sie versuchte zu lächeln. Ich trat etwas näher ans Bett. Sie streckte mir ihre Hand entgegen. Ich musste an trockene Zweige denken. Ich fragte, wie sie sich fühle und legte meine Hand auf die Bettdecke. Ich sagte: „Das Leben ist ein Sommer.“ Sie sagte: „Alte Menschen sind wie Steine.“
Ich blickte weg und schwieg. Der Kirschbaum vor dem Fenster fing Schneeflocken. „Es wird nicht besser. Unverändert, meint der Arzt.“ Sie stieß ein ersticktes Lachen aus. „Unverändert. Das hört sich so an, als stünde die Welt da draußen still. Ich weiß, dass es nicht so ist.“ Der Blick zur Tür, kleines Weltende vielleicht. „Mein Mann. Er sieht mich an und sagt bitte werde wieder gesund.“ Ich strich mit den Fingern über die Decke und berührte ihre Hände. „Warm“, sagte ich. „Mein Mann sagt, ich stinke. Er schläft im Wohnzimmer.“
Die Bettdecke hob und senkte sich jetzt in kürzeren Abständen unter ihren Atemzügen. „Manchmal frage ich mich, was ich falsch gemacht habe. Manchmal auch glaube ich, die Antwort zu wissen. Aber das ist nur das Fieber.“ Ich zählte ihre Atemzüge. „Ich habe Angst“, sagte sie plötzlich „Irgendwann beginnt man zu vergessen, dass man krank ist. So stelle ich mir den Tod vor.“ Vor ihren Lippen verwandelten sich die Worte in Licht und Staub und sanken langsam zu Boden. Winzige Flüsse zogen sich wie Falten durch ihre Haut. Ich brachte ihr einen Spiegel und sagte, sie dürfe die Krankheit nicht vergessen. Ich verabschiedete mich. Sie sagte auf Wiedersehen und danke.
Anna rief an. Sie sagte liebst du mich und ich sagte Liebe ist nur ein Wort. Sie sagte ich vermisse dich, vermisst du mich? Ich sagte vielleicht und dachte an Blicke, die wie Mondlicht waren. Sie sagte weißt du noch, der Herbst. Als die Bäume ihre Blätter und wir unsere Herzen verloren. Sie fragte, weshalb ich so still sei und ich sagte ich schreibe deine Worte mit. Sie lachte und sagte das sind nur Worte.
Im Flur sah ich, dass die Tür zu Iva´s Zimmer offenstand. Drinnen war es dunkel. Vor dem Fenster war der Mond. Auf dem Teppich saß Iva wie ein Schatten. Als ich durch das Zimmer ging, stieß ich einen Stuhl um. Iva sah mich an und schwieg. Ich setzte mich neben sie auf den Teppich und konnte mich nicht an den Klang ihrer Stimme erinnern. Sie deutete auf das Fenster. Die Schneeflocken wirbelten vorbei am Mond und klirrten leise, wenn sie die Scheibe berührten. Im Hof raschelte der Kirschbaum wie Papier. Ich dachte an Geschichten. Ich zählte die Flocken.
Irgendwann stand Iva auf. Sie ging langsam zur Wand. Ich hörte einen dumpfen Schlag und stellte mir vor, wie sie mit dem Fuß dagegen trat. Sie sagte: „Verdammt.“ Ich blickte zum Fenster und sah die Eisblumen auf dem Glas. Nach einer Weile ging ich zurück in mein Zimmer. Erst beim Hinausgehen fiel mir auf, wie leer ihr Zimmer war. Keine Möbel, nur der Stuhl.
Einige Tage später ging es der alten Frau etwas besser. Ihr Mann zeigte mir wieder seine Bilder und erzählte von Dingen wie Freiheit. Er redete viel und schnell und lief im Zimmer umher, um die Worte einzufangen, die wie Schmetterlinge aus seinem Mund kamen. Er ging ans Bett seiner Frau und sagte das Leben ist ein Sommer. Die Frau schwieg und strich den Staub von der Bettdecke.
Am nächsten Morgen wurde ich durch Lärm aus dem Nebenzimmer geweckt. Als mir Iva die Tür öffnete, sah ich, dass ihr Stuhl zerbrochen an der Wand lag. Geschmolzener Schnee lief wie Tränen über ihre Wangen. Sie sagte: „Ich sehe furchtbar aus.“ Ich sagte ja. Sie wandte sich um und starrte auf den Stuhl. „Entschuldige“, sagte sie. Sie erzählte von Liebe und ich dachte an schwarze Rosen. Dann sagte sie, dass sie nicht mehr an Liebe glaube und hob den Stuhl auf. Sie kam wieder zu mir und hielt mir den Stuhl hin. Ich sagte ich bin kein Held und sie sagte das macht nichts.
Wir setzten uns auf den Teppich. Sie sagte: „Manchmal würde ich gerne schreien.“ Ich fragte, warum sie es nicht tue und sie antwortete: „Weil ich noch nicht wach bin.“. Immer wieder trieben einzelne Schneeflocken durch das geöffnete Fenster ins Zimmer. Sie fielen auf den Teppich und schmolzen. Iva strich sich das Haar aus der Stirn und ich musste an Wind denken. Sie sagte hast du eine Heimat und ich sagte ich glaube nicht. Ich merkte, dass unsere Worte aus Glas waren und an den leeren Wänden zerbrachen.
Sie sagte das Leben ist ein Hotel und ich bewunderte ihre klare Stimme. „Früher war alles einfach“, sagte sie „Früher, ich mag dieses Wort nicht, das hört sich so an, als gäbe es nicht nur dieses eine Leben.“ Sie wandte sich zum Fenster und sagte: „Man muss einfach loslassen.“ Der Schnee verfing sich in ihren Haaren. Ich versuchte, mir den Frühling vorzustellen. „Aber was ist, wenn mich niemand fängt?“
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen.
Dann kam der Frühling.
Die alte Frau bekam wieder hohes Fieber. Ich saß im Wohnzimmer und verfolgte den Zeiger der Wanduhr, während der alte Mann hinter mir ununterbrochen redete. Die Worte jagten sich durch das Zimmer und flogen aus dem geöffneten Fenster in den Garten. Er reihte Worte wie Vertrauen und Hoffnung aneinander. Ich fragte, ob er mir sein Album zeigen wolle. Er sagte nein, heute nicht. Ich fragte, ob ich seine Frau sehen könne. „Meine Frau ist nicht krank“, sagte er und funkelte mich böse an. Er sagte, es gehe ihr gut, bald sei sie gesund, sie freue sich auf das Landhaus. Das Leben ist ein Sommer, sagte er.
Die alte Frau blickte aus dem Fenster. Draußen blühte der Kirschbaum in rosa und weiss. Als ich eintrat, wandte sie mir das Gesicht zu. Ich dachte an Pergament. Sie war dünn wie Schmetterlinge ohne Flügel.
Der Spiegel stand mit der Vorderseite zur Wand. Sie sagte: „Wenn ich in den Spiegel sehe, ist da nur mein Schatten.“ Ich setzte mich auf die Bettdecke und malte mit dem Finger kleine Blumen in den Staub. Die Frau hustete und die Blumen lösten sich auf. Sie sagte: „Manchmal träume ich, wieder gesund zu sein. Das ist schön. Dann wünsche ich mir, nicht mehr aufzuwachen.“ Ich ging zum Fenster und öffnete es. Der Wind trieb Blütenstaub ins Zimmer und ich dachte an Schnee. Ich nahm den Spiegel und drehte ihn um. „Bitte vergessen sie nichts.“
Ein paar Wochen später war der alte Mann fort. Seine Frau erzählte mir, dass er endlich ein Landhaus gefunden hätte. Neben ihrem Bett lag das Album.
Im Sommer begann Iva wieder zu lachen. Ich legte mein Ohr an die Wand und dachte an Anna und den Wind.
Im Juli brachte sie ihr Kind zur Welt. Ich lächelte, als ich es zum ersten Mal sah. Es war weiss wie der Schnee.