- Beitritt
- 12.02.2004
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TraumLoverBär
Zufälle sind die Menschen, Stimmen, Stücke,
Alltage, Ängste, viele kleine Glücke,
verkleidet schon als Kinder, eingemummt,
als Masken mündig, als Gesicht - verstummt.
(R. M. Rilke: Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen)
„Was beklemmt mit sehnlicher Pein so stürmisch
Dir die Brust? Wen soll ich ins Netz dir schmeicheln?
Welchem Liebling schmelzen den Sinn?“
(Sappho: Hymne an Aphrodite)
Nichts regte sich. Die Dunkelheit war schwarzer und undurchdringlicher Stoff. Hinter den Augenlidern Leere und vor dem Bett ein kleines Tier, das die Augen weit aufriss, um die wenigen Photonen einzufangen. Er schlief. Sog die Luft ein und blies sie wieder aus. Die Decke verhüllte seinen Körper wie ein Geheimnis. Er lag auf dem Bauch. Das Gesicht ruhte auf dem Kissen, der Mund war leicht geöffnet. Die Katze kroch der Kontur des Körpers entlang bis hinauf zur Nase. Er spürte etwas Kühles und Nasses. In ihm zündete der Funken des Bewusstseins. Er schaltete die Lampe ein, flutete das Zimmer mit Licht. Die Katze sah zufrieden aus. Seine Hand fand den Wecker: halb zwei Uhr.
Die Tür stand offen wie ein aufgeschlagenes Buch. Irgendwie hatte die Katze gelernt, hochzuspringen und der Klinke einen Schlag mit beiden Pfoten zu versetzen, sodass sie mit einem theatralischen Effekt aufging. Er war nun wach: Markus, 25 Jahre alt, Student der Rechtswissenschaften, schlaksig, mit schulterlangen braunen Locken. Er schlüpfte in die ausgetretenen Pantoffeln, die nach Fuß und Leder rochen, schnappte die Katze, die ihren Körper folgsam hängen ließ, wollte sie aus dem Zimmer schubsen, da bemerkte er im Flur einen rötlichen Schimmer hinter Milchglastür zum Arbeitszimmer. Konnte Vater um diese Zeit dort sein?
Markus schlich über den Flur. Er fror in T-Shirts und Boxershorts. Die Katze setzte sich auf die Türschwelle. Sie beobachtete ihn von hinten. Ganz sachte drückte er die Klinke nach unten und machte die Tür auf. Der 21-Zoll-Monitor auf dem Schreibtisch erfüllte den Raum mit sanftem Licht. Jemand hatte eine Website ganz in Pink geöffnet. Im Drehsessel saß sein einen Meter großer Teddybär aus Plüsch. Markus hatte ihn seit achtzehn Jahren. Er hieß „Bulli“. Es war still. Nur der Computer summte. Die Aktenordner mit Vaters Rechnungen und Belegen standen unberührt in den Regalen. Konnte es ein Einbrecher sein? Der würde kaum Zeit haben, so eine rosa Webseite mit lauter Herzen und Erfolgsgeschichten aufzurufen. Markus beugte sich vor. Er schaute dem riesenhaften Plüschteddy über die Schulter. Bulli roch nach ungezählten Kindheitstagen. Nie hatte er eine Waschmaschine von innen gesehen. Markus hob ihn auf, setzte sich hin, nahm ihn auf den Schoß und las, während er den Teddy an sich drückte, Schlaglichter einer Cyber-Romanze:
"Gute Nacht, lieber TraumLoverBär!
Noch schnell ein paar Zeilen. Ich habe deine Nachricht sehr genossen. Endlich ein normaler Mann (oder sollte ich sagen Bär? :-)) mit Sinn für Humor! Ich habe mir sagen lassen, ich sei attraktiv, obwohl das ja für dich keine so große Rolle spielt. *fg*
Wenn du magst, können wir uns gerne mal auf einen Kaffee treffen. Sag einfach, wann es dir am besten passt!
LG. B."
Der Empfänger antwortete, er sei momentan mit zu vielen Verpflichtungen eingedeckt. Schwache Ausrede…
Wer war er überhaupt? Markus klickte auf "Dein Profil" und sah als Profilbild eine Aufnahme von Bulli dem Bären. Geknipst mit der Webcam in diesem Raum. Benutzername TraumLoverBär.
Ganz am Anfang, in einer fernen Vergangenheit, hatte TraumLoverBär mit einer etwas tapsigen Nachricht den Kontakt zu Beate88 hergestellt:
"Dein Profil gefällt mir sehr. Du wirkst lustig und klug. Ich bin ein Bär in geregelten Verhältnissen. Leider weiß ich nicht, was ich mit meiner Liebe anfangen soll. Wirst du mir erlauben, dich kennenzulernen?"
Zehn Tage war das her.
Sie ließ sich mit der Antwort eine Woche Zeit. Sie schrieb, es sei ihr eine Freude. Er wirke sehr sympathisch.
Der Mauszeiger wanderte zu ihren Profilbildern.
Nummer eins: Beate hatte ein rundliches Gesicht mit großen braunen Augen und eine Stupsnase. Dunkelbraune Locken. Ihr Lächeln erhellte den Raum.
Nummer zwei: Beate stand auf einem Bein, streckte die Arme von sich, um die Balance zu halten. Unter ihr eine Düne. Hinter ihr das Meer.
Nummer drei: Beate trank aus einem großen Bierkrug, der ihr Gesicht verdeckte. Sichtbar waren nur ihre lustig zusammengekniffenen Augen und ein gebräunter Unterarm.
Sie war hübsch. Anscheinend mochte sie den geheimnisvollen Unbekannten, der ihr von diesem Computer aus geschrieben hatte. Der vor ein paar Minuten noch hier gewesen sein musste. Nun war er verschwunden. Hatte sich einfach in Luft aufgelöst und stattdessen saß Markus an seiner Stelle. Er konnte tun, als sei er selbst dieser Unbekannte. War das klug? In einer Vorlesung über die Sagen des klassischen Altertums hatte er einmal gehört, dass die griechischen Götter naive Helden besonders gerne mochten, weil sie sich von diesen die meisten Heldentaten erwarteten. Etwas zog ihn. Als würde man das offene Tor eines verborgenen Gartens entdecken. Die beste Methode um herauszufinden was hier vor sich ging war selbstverständlich, die Frau zu treffen! Ein verständlicher und vernünftiger Grund, seriös wie ein Tatort-Kommissar. Er nahm also den Faden auf und schrieb:
"Ich möchte dich gerne treffen! Obwohl ich so viel zu tun habe...", (Sie würde sofort merken, dass das ebensowenig stimmte wie alles andere im Profil von TraumLoverBär, aber das machte nichts. Anscheinend störte es sie nicht besonders.), "...möchte ich mir die Zeit nehmen, dich persönlich zu treffen. Könntest du morgen um 14 Uhr ins Café Toscana kommen? Meine Handy-Nr. ist..." usw.
Er schickte die Nachricht ab. Ein Gefühl der freudigen Erwartung blieb. Er hatte etwas losgetreten. Vielleicht eine von diesen Überraschungen, die dich in einem unerwarteten Moment von hinten anfallen und dir zurufen: "April! April!"
Oder etwas Schlimmes. Dieses Gefühl vor fünf Jahren würde er nie vergessen. Er als Schreiber einer Lehrkompanie. Er hatte den Sekretär des Bundespräsidenten am Telefon, der ihn zusammenschiss, weil seine Abteilung angeblich irgendwelche Dokumente verloren hatte. Markus stammelte etwas. Gelächter am anderen Ende: "Ich bins, der Leo! Scheiß dir nicht in die Hose!"
Sein angeblich bester Freund. Beim Gedanken daran biss er die Zähne zusammen.
"Mach das bloß nie wieder, du dumme Sau!"
Damals hatte er lachen müssen.
Und jetzt? Er stand auf und suchte nach versteckten Kameras und Mikrofonen. Möglicherweise hatte der Unbekannte die Webcam gehackt und filmte ihn gerade jetzt, wie er in Unterhosen kurz vor zwei Uhr morgens hier herumstand. Ihm war kalt. Die Haare an seinen Beinen sträubten sich. Er zeigte der Webcam den Stinkefinger. Zum Teufel mit all dem! Er wollte zurück ins Bett. Oder sollte er Vater aufwecken oder sogar die Polizei anrufen? Konnte am Ende Vater selbst TraumLoverBär sein? Er erstarrte. Die bloße Möglichkeit, dass der 60-jährige Mann mit dem Vollbart, der immer gebügelte Hemden trug und seit ewigen Zeiten nicht mehr verliebt gewesen war, auf diese Weise jemanden suchte, machte ihn traurig.
Es dauerte mindestens eine Viertelstunde, bis er einschlafen konnte. Seine Gedanken um die Frau aus dem Internet, die er nun durch irgendeine Verkettung seltsamer Umstände treffen würde. Wie sie wohl sein mochte?
Ein Gedanke verirrte sich zu Annemarie. Er schreckte vor ihm zurück wie vor einem glühenden Eisendraht. Zwei Monate war ihre Trennung jetzt her.
Unverändert lag das Arbeitszimmer im Halbdunkel. Die Katze schlüpfte durch die leicht geöffnete Tür. Umständlich umkreiste sie den Bürostuhl. Sie kletterte dem Teddybären auf den Schoß. Der Körper aus Plüsch gab nach, die Gliedmaßen erzitterten. Die rechte Hand des Teddys bewegte sich weiter, strich der Katze über den Kopf. Sie drückte sich gegen seinen Bauch und schnurrte.
Es war einfach nicht fair! Achtzehn Jahre lang hatte Bulli der Teddybär die ganze Freude und alle Tränen, die Liebe, den Schock beim Tod der Mutter und das Wissen unzähliger Lern-Nachmittage aufgesaugt. Ein heftiger Schwall von Liebeskummer vor zwei Monaten führte zu einer Kettenreaktion des Bewusstseins ähnlich der Explosion einer Neutronenbombe.
Bulli der Bär schlug seine Hände aus Plüsch vors Gesicht. Er drehte hier noch durch! Sehr langsam nahm er die Hände von seinen Glasaugen und entdeckte, dass Leben in ihm war. Er konnte sich bewegen!
Im selben Moment erkannte er seine Mission: Er musste die Liebe finden, um das Chaos in ihm zu heilen.
Anfangs versuchte er eine Liebesbeziehung mit der Katze. Leider fehlte eine gemeinsame Basis, denn die Katze interessierte sich mehr für den Mäusefang. Menschliche Gefühlen überforderten sie. Es musste wohl oder übel eine menschliche Frau sein. Eine, die ebenfalls lebte. Eine, wie sie Markus' Seelenleben mit ungeheurer Wucht erschüttert hatten.
Der neunjährige Markus, der sich fühlte, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Als wäre er hart auf Beton aufgeschlagen. So hart wie der LKW auf den VW Polo seiner Mutter, bei dem Unfall, bei dem sie starb. Er krampfte die Finger in den Teddybären und durchweichte den Plüsch mit Tränen. Die Augen hielt er fest geschlossen. Nie wieder wollte er sie öffnen!
Der 25-jährige smarte Student, der seine Freudin fragte, was mit ihr los war, weil sie bedrückt aussah. Sie saßen an einem Samstag um 13 Uhr beim Frühstück in ihrem Stammcafé. Der Live-Auftritt des Jazz-Pianisten (Name vergessen) näherte sich gerade dem Ende, als sie etwas sagte wie "... mit Leo geschlafen."
Die Töne des Klaviers überlagerten die Worte. Sie erwartete von ihm, um sie zu kämpfen. Er sagte, sie solle sich verpissen. Dann ging sie weg.
Die Leere, die sie zurückließ, tötete ihn fast.
Bulli der Teddybär hatte solche Dramen gründlich satt. Er wünschte sich Liebe. Salben, Umschläge und Eisbeutel für seine Seele, die Wunden trug, die nicht einmal seine waren. Ein feinsinniges Gegenüber! Streicheleinheiten! Eine Person, die ihn verstand und mit warmen Fingern über seinen runden Kopf strich. All das wünschte er sich für sich selbst. Beim Evaluieren seiner Möglichkeiten entdeckte er kostenlose Webseiten für die Partnersuche im Internet als erfolgversprechendste Option.
Was für ein Glück, dass er Daumen besaß! Er drückte immer mit dem einen Daumen die Shift-Taste und mit dem anderen den Buchstaben, den er groß schreiben wollte. Oft schaute ihm die Katze zu und machte einen Buckel, weil sie es missbilligte.
Eine wundersame Parallelwelt verschluckte ihn. Frauen klagten, weil es noch nie jemandem gelungen war, ihre überzogenen Ansprüche zu erfüllen. Die Bedürfnisse der Männer waren elementarer. Sie wollten Sex. Bulli der Teddybär übertraf sie an Zurechnungsfähigkeit. Er hatte keinen Penis. Er suchte tatsächlich eine Seelenverwandte. Nach vielen Enttäuschungen, weil keine Frau einen ein Meter großen Bären kennenlernen wollte, folgte er dem Beispiel der anderen. Er lernte zu lügen.
Seine richtigen Daten lauteten etwa:
Alter: 18
Größe: 100 cm
Gewicht: 5 kg
Beruf: Bär
Jahreseinkommen: 0
Er änderte sie geringfügig ab:
Alter: 28
Größe: 180 cm
Gewicht: 78 kg
Beruf: Privatier
Jahreseinkommen: 100.000,--
Bei dem letzten Wert fügte er so lange jeweils eine Null am Ende hinzu, bis sich die Zahl der Interessentinnen merklich erhöhte.
Er hätte das gar nicht tun müssen, um Beate kennenzulernen. Sie hatte wohl eine seiner halbwegs wahrheitsgemäßen Zuschriften erhalten und nannte ihn "Herr Bär". So begann der Austausch von Nachrichten zwischen der rundgesichtigen Frau, in der die Sonne tanzte, deren Güte aus allen ihren Zeilen sprach (so etwa die idealistische Sichtweise des Bären) und einem einsamen Kuscheltier, dessen Inneres sich nun zusätzlich zu den Sägespänen mit Liebe füllte.
Bis gerade eben, als Markus ins Zimmer gestolpert war und alles ruiniert hatte.
Kluger Bär! Bulli beglückwünschte sich selbst. Die Morgendämmerung hinter den Vorhängen brachte den Einfall, der die Situation vielleicht noch rettete. Er hätte Machiavelli alle Ehre gemacht. Die Katze knurrte leise im Schlaf. Bulli fuhr den PC hoch und verfasste mit neuem Mut eine Nachricht an Beate. Die Maus betätigte er ähnlich wie einen Hobel: schob sie mit einer Hand umher und drückte mit der anderen auf die linke Taste. Zum Beispiel, um die Nachricht abzuschicken. Ein mit Herzen verziertes Popup erschien. Der Bär rieb seine Handflächen aneinander. Nun hieß es warten…
Ein schöner Tag. Die Sonne glitzerte durch alle Schaufenster. Markus' altes Damenrad holperte über Kopfsteinpflaster, kam bei einem Haufen anderer Räder zum Stehen. Er betrat das Café und sah sie sofort. Sie schaute auf, lächelte. Sie trug einen dreifarbig gestreiften Pullover. An ihren Händen waren Reste von Farbe.
"Hallo", sagte er.
"Hallo!"
Er sagte halblaut: „Ich bin TraumLoverBär.“
Sie grinste. Ihre Augen waren groß.
"Hast du schon bestellt?"
Sie legte den Kopf schief und sagte langsam: "Ich habe deine Nachricht gelesen."
Nun kam wohl des Rätsels Lösung…
Sie sagte: "Es ist echt nett von dir."
"Was meinst du?"
"Na, das mit dem Bären!"
"Ach so!" (Wovon um Himmels Willen sprach sie?)
Sie sagte förmlich: "Ich finde es echt nett von dir, dass du mir deinen Plüschteddy schenken willst."
(Sie mussten beide lachen. Markus beschloss insgeheim, dass es für all das eine natürliche Erklärung gab. Welche das sein konnte? Er hatte nicht die leiseste Ahnung...)