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Traumlos
Als ich erwache, erblicke ich einen Vorhang aus Haaren, so dicht vor meinem Gesicht, dass es mich in der Nase kitzelt, wenn ich einatme. Behutsam biege ich meine Zehen, wage keine weiteren Bewegungen. Schlafend ist er mir am liebsten. In Träumen beschäftigt. Vielleicht bewegt er sich dort noch immer tief in mir, vielleicht steht er aber auch schon an einem stürmischen Strand, wo nur die Möwen kreischen, vielleicht…
Er seufzt, das Bett knarrt – Wellen der Erinnerung an gestern Nacht schlagen mir unsanft entgegen. Mein Kopf schmerzt. Noch immer vermeide ich jede Bewegung. Bestimmt ist er längst wach und glaubt seinerseits, ich würde noch schlafen. Doch noch bevor ich mit übertriebenem Gähnen meine Glieder recken kann, bewegt sich die Flut aus Haaren vor meinem Gesicht. Er dreht den Kopf nicht, spricht gegen die orange Wand an. Als ich hier eingezogen bin, habe ich noch an die erotisierende Wirkung von Farben geglaubt.
„Was ist gestern passiert?“
Was soll diese Frage. Erleichtert über die wiedererlangte Bewegungsfreiheit, halte ich die Arme über mein Gesicht, betrachte meine Fingernägel, unter denen noch Reste von schwarzem Kerzenwachs kleben.
„Hast du beschlossen, mich ab heute zu ignorieren?“
Ich stelle mir seinen Gesichtsausdruck vor, sein ironisches Lächeln. Der breite Mund mit den etwas schiefen, aber blendend weissen Zähnen.
„War ich wirklich so beschissen?“
Typisch Mann. Ich drehe mich auf den Rücken, atme geräuschvoll aus. Es ist also tatsächlich passiert. Ich habe mit Ryad geschlafen. Es ist nicht mein Lieblingstraum geblieben, den ich geträumt habe, seit wir uns kennengelernt haben. Vorbei sind all die Tage, an denen ich die Sonne verwünscht und die Finsternis herbeigesehnt habe, um wieder in die Arme dieses Mannes zurückkehren zu dürfen.
Lodernde Flammen spiegeln sich im Blau seiner Augen, welche konzentriert auf die Messer in seinen Händen gerichtet sind. Ich warte darauf, dass er zu jonglieren beginnt. Es ist dunkel geworden, und auf dem Marktplatz brennen Fackeln. Er hat mir erzählt, er sei ein Feuerkünstler. Seine Truppe besteht aus mehr oder weniger verwahrlosten Männern und Frauen, die sich ihm im Laufe seiner Reise aus dem Südwesten angeschlossen haben – wie er hoffend, sich seinen Lebensunterhalt und vielleicht noch etwas mehr mit ihrer Begabung zu verdienen. Einige beherrschen ein Instrument, ich sehe Lauten, Flöten und Harfen. Er spielt den brennenden Messerkünstler – seine Hände sind Flammen, die aus mörderischen Werkzeugen fesselnde Surrealität zaubern. Die Dolche in der feuchten Erde bilden einen glühenden Ring aus verzierten Griffen, als er mich endlich anschaut.
Seine Haare, die jetzt meine Schultern streifen, sanft wie eine Rabenfeder, holen mich zurück in die Realität. Ich schaudere.
„Bis gestern Abend warst du jedenfalls noch nicht stumm, oder?“
Endlich dreht er sich um. Ich versuche, den Blickkontakt zu vermeiden, doch seine Augen haben die Kraft von Magneten. Noch nie war die Farbe Blau verwirrender.
Ich schlucke, schüttle den Kopf.
„Was zur Hölle haben wir getan, dass du dabei deine Sprache verloren hast?“
Er fesselt mich mit unsichtbaren Stricken, das Blut pocht in meinen Adern. Seine Stimme aber ist sanft wie ein lauer Frühlingswind, der über meinen nackten Körper streicht.
„Du denkst, es hätte niemals geschehen dürfen, nicht wahr?“
„Ryad – ich bin verheiratet.“
„Na und?“
Ich seufze. Vom ersten Augenblick an habe ich gewusst, dass es eines Tages kein Zurück mehr geben würde. Warum nur bin ich für mich selber so vorhersehbar geworden?
„Was hat denn dein Zivilstand mit uns zu tun? Ihr wohnt ja nicht mal zusammen!“
Ach, Ryad. Erneut stosse ich einen Seufzer hervor.
„Gibt es in dem Haushalt vielleicht Kaffee?“
Er richtet sich gähnend auf. Die unzähligen, feinen Narben auf seinen Händen.
„Den musst du dir schon selber machen.“
Ein leises, fast schon vertrautes Lachen.
„Solange ich die Kaffeebohnen nicht selber rösten und mahlen muss...“
Er zieht sich das T-Shirt und die Boxershorts über und wirft mir nochmals einen Blick zu.
„Ich finde mich zurecht. Du kannst ja duschen in der Zeit.“
Wider Willen muss ich lächeln. Er tut schon fast, als wären wir ein Paar. Kaum ist dieser Gedanke zu Ende gedacht, überfällt mich die Resignation. Sogar wenn ich es wollte, würden wir niemals ein Paar sein. Wie komme ich bloss auf solch absurde Gedanken. Ich drehe mich zur Seite, gähne, strecke mich.
Das Scheppern der Kaffeetassen aus der Küche nebenan macht mich melancholisch. Jetzt fange ich aber nicht noch an zu heulen. So geht das nicht. Er muss verschwinden, und zwar jetzt. Ich richte mich auf, ziehe mir eilig etwas über und betrete die Küche.
Bis zu unkenntlichen Stummeln heruntergebrannte Kerzen – in ihrem nächtlichen Zerfliessen haben sie schwarze Wachskreaturen hervorgebracht. Aber sie sind längst nicht mehr in Bewegung, sondern kalt und leblos, in den seltsamsten Formen erstarrt.
„Ryad.“
„Ja?“
Er dreht sich nicht um, hantiert an der Kaffeemaschine. Mein Blick fällt auf den kleinen Dolch mit dem verzierten, silbernen Griff.
„Es ist besser, wenn du gehst.“
„Ohne eine einzige Dosis Koffein?“
Jetzt wendet er doch noch den Kopf. Der Boden unter meinen nackten Füssen ist eiskalt. Ich lasse mich im Schneidersitz auf einem der Hocker nieder.
„Trink meinetwegen noch eine Tasse. Aber dann möchte ich allein sein.“
Ich sehe nicht, ob er nickt, denn ich starre wieder auf den Dolch.
„Die Waffe gefällt dir? Ich habe schon überlegt, sie dir zu schenken. Sozusagen als Erinnerung.“
Erinnerung? Ich ziehe die Brauen hoch, erwidere nichts.
„Leider ist das aber unmöglich“, fährt Ryad fort, während das Wasser zischend und dampfend durch den Filter läuft. Er hat den Kaffee natürlich viel zu stark gemacht – er gleicht einer Brühe, einem Fluss voller Unrat nach einem nächtlichen Gewitter.
„Warum?“, frage ich. Woher will er wissen, ob ich den Dolch überhaupt haben möchte.
„Geschenke darf man nicht weiterverschenken.“
„Wer hat ihn dir denn geschenkt?“
Er sucht wieder einmal meinen Blick.
„Mein Meister. Derjenige, der noch mehr Narben auf seinen Händen trägt als ich.“
So ein Schwachsinn. Sein Meister.
„Er hat mich vieles gelehrt, meine Liebe. Er wäre sehr enttäuscht, wenn ich sein Geschenk einfach so aus den Händen geben würde. Sehr enttäuscht. Doch ich war schon immer ein ungezogener Schüler…“
Ich kann sein unverkennbares Grinsen erahnen, obwohl ich ihn erneut ignoriere. Natürlich möchte ich wissen, wer sein Meister ist. Im Traum habe ich das nie erfahren. Aber ich tue ihm den Gefallen nicht, neugierig nachzufragen.
Er setzt sich zu mir an den Tisch, greift nach meinen Händen. Ich ziehe sie rasch zurück. Schaue ihm endlich in die Augen.
„Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“
Ich schüttle den Kopf, weiche seinem blauen Unschuldsblick erneut aus.
„Ich möchte dir eine Geschichte erzählen“, er räuspert sich, lehnt sich zurück, die Kaffeetasse in der Hand.
„Nein“, ich stehe auf, weise demonstrativ zur Eingangstüre, „ich brauche jetzt einen Moment für mich allein.“
Er soll verschwinden. Ich will keine Märchen hören, denn ich habe gerade eines zerstört. Ich bin wütend – nein, nicht wütend. Vielleicht wehmütig?
Er zögert.
„Bitte.“
Endlich erhebt er sich, stellt beinahe vorsichtig die Tasse auf den Tisch.
Wir berühren uns nicht mehr. Wir werden uns wiedersehen, irgendwann.
Erst als er weg ist, sehe ich den Dolch. Ich wage nicht, ihn anzurühren. Vergangene Nacht ist die Ernüchterung gekommen, meine Fantasie auszulöschen.