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Traumesserin
Dieses miese Wetter! Regen rinnt die großen Scheiben herab. Die Fußgängerzone ist leer.
Im Café dagegen ein ständiges Auf und Ab der Gäste, es kann keine Ruhe einkehren. Vor mir auf dem runden Tischchen steht die halbvolle Tasse Espresso.
Ich blicke in zwei gütige Augen. Bernd ist mein bester Freund. Er ist auch mein Bruder, doch wir konnten erst in letzter Zeit miteinander. Lag es am Altersunterschied oder am Wohnort, jedenfalls kamen wir uns näher. Er lächelt mich wissend an.
„Du siehst schlecht aus, Benny. Ganz hager. Bist du krank?“
Ich sammle mich, nehme einen Schluck. Er schmeckt kalt und bitter. Bernd fragt das, was ich von ihm erwartet habe. So ist er halt, mein bester Freund. Er liest mir aus der Seele.
„Ja, mir geht' s nicht gut. Ich fühle mich ganz hohl und ausgelaugt.“
Bernd bläst mir Rauch ins Gesicht. Es ist mir aber nicht unangenehm. Ein vertrauter Geruch umgibt mich. Er lächelt immer noch.
„Es ist Nadine, nicht?“
„Vor ein paar Wochen hab ich es gemerkt. Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht und hab sie dabei erwischt.“
„Darf ich Ihnen noch etwas bringen, vielleicht ein Stück Kuchen?“
Die Bedienung steht in einem altmodischen, schwarzen Kleidchen mit Schürze vor mir. Sie erinnert an die Dienstmädchen aus Filmen. Auf ihrem Kopf trägt sie sogar so ein albernes Häubchen. Moment mal, ich kenne die doch, das ist Marlen aus der Schule!
„Mensch, dich habe ich ja lange nicht mehr gesehen. Das ist bestimmt fünf, nein, sechs Jahre her, beim einkaufen. Du hattest ein kleines Kind im Einkaufswagen. Ich fand, du sahst irgendwie gestresst aus und unglücklich. Hab mir gedacht, das geschieht dir ganz recht, nach dem wie du mich behandelt hast.
Ich hätt' dir den Mond vom Himmel geholt. Mit dir zusammen wär' s erreichbar gewesen, das große Glück. Aber ich war dir wohl zu unreif.“
„Wie wär' s dann mit einem Stück Linzer?“, sagt sie und schaut gelangweilt zur Decke. Genervt klopft sie mit den Kuli auf ihren Abreißblock.
„Nein, danke!“, sage ich so schroff ich nur kann.
Marlen prustet und wendet sich kopfschüttelnd anderen zu. Ich blicke auf ihren Arsch.
„Bleib bei der Sache!“ Bernd schaut jetzt ernster, seine Haare fallen ihm ins Gesicht. Ich wusste gar nicht, dass sie dunkelblond waren. Er muss sie gefärbt haben. Steht ihm irgendwie nicht.
„Was hast du gesehen?“, will er wissen.
„Na, ich wache also auf und sehe Nadine, wie sie mit geschlossen Augen neben mir auf dem Bett kniet. Sie sieht aus, als würde sie etwas kauen. Scheint ihr zu schmecken. Ich frage sie: 'Was machst du da?'
Und sie reißt die Augen auf, tut ganz erschrocken und fängt an zu husten. Ich setze mich auf, klopfe ihr auf den Rücken und da kommt etwas aus ihrem Mund.“
„Was denn?“
Es kommt Unruhe auf. Irgendwas scheint im hinteren Teil des Cafes geschehen zu sein. Eine schreit: „Oh Gott!“ Ich blicke mich um, sehe aber nur eine Menschentraube.
„Tja, ähm ...“, stammle ich.
Die Tür wird aufgerissen und ein Arzt im weißen Kittel und zwei Sanitäter kommen herein gestürmt.
„Aus dem Weg, aus dem Weg!“
„Was kam aus ihrem Mund?“ Bernd lässt nicht locker. Mir kommt es so vor als würde etwas mit seinen Augen nicht stimmen. Sie werden immer größer und bedrohlicher.
Ich nehme lieber noch einen Schluck, aber die Tasse ist leer. Mir wird so unsagbar übel. Es geht mir wirklich gar nicht gut in letzter Zeit. Und dann noch diese Kopfschmerzen. Ich schlage meine Hände vors Gesicht, fahre mir durch die Haare.
Der Tisch ist verschwunden. Bernd sitzt mir gegenüber und blendet mich mit dem Schein einer Lampe.
„Sag' s!“
„Es waren so Fotos ...“
Ich schwitze, mein Kragen wird mir zu eng.
„Auf dem einen sehe ich mich Motorrad fahren. Irgendwo in den Bergen. Kein Mensch weit und breit. Das andere zeigt mich mit meinen Freunden. Ich noch jünger, oh Mann, mit langen Haaren! Es ist abends, im Sommer, am Flussufer. Wir rauchen ne Tüte und sehen so unbekümmert aus.
Und dann ist da noch eines. Ich bin alt, inmitten vieler Menschen. Es ist eine Wallfahrt oder so was. Meine Augen sehen müde aus. Aber mein Gesicht leuchtet...“
Bernd packt mich am Arm.
„Warum will dir Nadine das alles kaputt machen?“, will er wissen.
Die Leute im Cafe reden immer lauter, rennen wie gestört umher.
„Vielleicht weil, weil ich sie es einfach tun lasse ...“, presse ich durch die Zähne.
Dann rutsche ich vom Stuhl.
Der Teppichboden riecht nach altem Staub. Rau kratzt er an der Wange. Schwerkraft drückt mich in den Boden. Dann wird es schwarz.
„Kommen Sie!“ Der Arzt und ein Sanitäter helfen mir auf. Mir ist noch ganz schwindelig. Ich sitze wieder auf dem Stuhl. Der Doktor schaut mir mit einem Spatel in den Mund.
„Das wird schon wieder“, sagt er im väterlichen Ton. Er erinnert mich ein bisschen an Papa, aber das kann ja nicht sein, denn Papa hat immer Angst vor Ärzten gehabt. Ich muss grinsen.
„Sagen Sie Ihrer Frau, dass sie damit aufhören muss!“
„Hab ich schon, sie tut es aber immer wieder.“
Er kratzt sich am Kopf. „Hm, dann sollten Sie ihr mal Ihre Zukunftsängste anbieten, Ihre Zweifel, Ihre Selbstzufriedenheit.“
Ich schaue ihn fragend an.
„Und das soll schmecken?“
„Am Anfang nicht, aber nach einiger Zeit würden es Ihnen beiden sicherlich besser bekommen.“
Das leuchtet mir ein.
„Danke, Herr Doktor.“
Er klopft mir aufmunternd auf die Schulter. Ich stehe auf und streiche meine Kleidung zurecht.
Das Café hat sich in ein Chaos verwandelt. Tische und Stühle liegend zerdeppert in den Ecken. Weit und breit keine Spur von Bernd. Die letzten Gäste eilen die Treppe hoch.
Bald bin ich allein.
Das tut so gut. Mir ist, als höre ich leise Musik. Von draußen nehme ich warmes Licht war, nach Wochen grauen Regenwetters das erste Anzeichen von Sonne.
Verwundert öffne ich langsam die Tür. Ein paar letzte, kalte Tropfen landen auf meinem Gesicht. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Die Luft riecht nach Frühling. Ich möchte fliegen.
Langsam hebe ich ab. Die Perspektive ändert sich und mir wird ganz leicht. Über den Dächern bestaune ich, wie die Morgensonne den Himmel in ein orangefarbenes Kunstwerk verwandelt hat.