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Traum
Ich wachte auf und taumelte zu meinem Schrank, um mir meine Hose und den Mantel anzuziehen, den ich vor ein paar Tagen geklaut hatte. Schnell ließ ich noch einmal meinen Blick über das Flugzeug gleiten, dann lief ich aus meiner Kammer hinaus, die alte Treppe hinunter und den Flur entlang, bis ich beim Esszimmer ankam. Ich war gerade noch rechtzeitig für die Frühstücksausgabe um halb sechs. Leise setzte ich mich neben einen spindeldürren Jungen und begann, mein Brot zu knabbern. Wenig später kam der Aufseher hinein und schickte uns aufs Feld. Ich zog runzelige Rüben aus dem Boden, warf sie auf den Karren und brachte sie zur Maschine. Als mein Rücken steif wurde und die Arme kraftlos und brennend an der Seite hingen, gab eine schallende Glocke mir zu verstehen, dass es Mittagszeit war, und ich schleppte mich wieder an den langen, massiven Holztisch, um meine Suppe zu essen. Nach weiteren darauffolgenden fünf Stunden harter Arbeit durfte ich endlich wieder in meine kleine Kammer. Eifrig, die Schmerzen des Tages vergessend, machte ich mich vorsichtig daran, die winzigen Holzstäbchen aneinanderzusetzen, aus denen in ein paar Wochen der rechte Flügel meines Flugzeuges werden würde. Immer wieder rutschte ich ab und beschädigte mein Werk, doch als ich mich vier Stunden nach Sonnenuntergang schlafen legte, war der Flieger wieder einmal um ein paar Zentimeter gewachsen. Wie von alleine fielen meine Augen zu.
„Steig auf!“, rief ein Mann mittleren Alters mit rauer Stimme über den Wind hinweg, der sein seltsames Gewand flattern ließ und seinen noch seltsameren Akzent kaum hörbar machte. Er saß auf einem Tier, das mich mit einem Bissen hätte verschlingen können, aber dennoch friedlich neben der Treppe lag, die auf seinen Rücken führte. Gemächlich wackelte es mit seinen ledernden Flügeln. Mein Mund klappte auf und wollte sich einfach nicht mehr schließen. Vor mir lag ein echter Drache!
„Kommst du jetzt?“, fragte der Mann und machte eine einladende Geste.
„Jaja, bin schon dabei, Papa!“, sagte ich und sprang voller Vorfreude die Treppe hinauf und zog mich vorsichtig auf den Rücken dieses Biestes. Ich spürte seine mächtigen Muskeln unter meinen Händen, mit denen der Drache mich, ohne mit der Wimper zu zucken, zerquetschen könnte.
„An deiner Stelle würde ich mich an den Zacken festhalten!“, riet mein Vater mir mit einem Lächeln.
Schnell befolgte ich den Hinweis und klammerte mich gerade noch rechtzeitig an die spitzen Auswüchse, bevor der Drache abhob. Einen Moment später schwebten wir in der Luft. Das Biest drückte seinen massigen Körper immer höher und höher. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen! Mein Traum, durch die Luft zu gleiten wie einer der kleinen Vögel auf der Farm, war endlich in Erfüllung gegangen. Hier oben musste ich nicht auf irgendeinen Aufseher hören, hier musste ich nicht den ganzen Tag arbeiten oder hungern, hier war ich frei. Begeistert schaute auch an der Seite des Drachens hinab. Unter mir glitt eine riesige Stadt entlang, aus der Türme, Mauern, und Paläste entwuchsen, welche alleine schon mein Heimatdorf in den Schatten stellten. Die Häuser bestanden aus weißem Stein mit roten Dächern, anstatt aus alten, dunklen Brettern und die Leute gingen aufrecht und stolz, anstatt gebückt und erschöpft. Es war das Herrlichste, was ich je gesehen habe.
Mein Vater drehte sich zu mir um und grinste mich fröhlich an.
„Echt schön, oder?“
Ich brachte nur ein einfaches „Ja“ heraus.
„Ich zeige dir den Markt, der ist noch besser, du wirst schon sehen!“
„Alles klar!“, rief ich über den Wind und grinste nun auch ihn an.
Er schob die Zacke, an der er sich festhielt, von sich und der Drache ließ sich fallen. Mein Herz setzte aus und ich fing gerade an zu schreien, als das riesige Wesen seine Flügel ausstreckte und langsam Richtung Boden glitt. Mein Vater lachte.
„Keine Sorge, du wirst dich daran gewöhnen.“
Wir landeten auf einem kleinen Haus, dessen Dachbalken sich unter dem Gewicht des Drachens lediglich etwas bogen. Vorsichtig ließ ich mich vom Rücken des Biestes gleiten. Mein Vater kam direkt neben mir auf.
„Und? Hatte ich Recht?“, fragte er und stupste mich an.
Vor uns erstreckte sich ein Meer aus Ständen mit bunten Planen und kunstvollen Fahnen, welche alle erdenklichen Waren anpriesen. Die Gespräche der unzähligen Menschen vermischte sich mit dem Geklapper von Münzen, Löffeln und Pfannen zu einem angenehmen Brummen. Voller Begeisterung kletterte ich vom Dach herunter.
„Schau dich schon mal um und such dir was Leckeres aus, ich komm gleich nach!“, rief mein Vater zu mir herunter und tätschelte den Bauch des Drachen. Mit glänzenden Augen lief ich los. Von überall strömten Gerüche auf mich ein. Ich wusste gar nicht, wohin ich schauen sollte, alles schien meine Aufmerksamkeit zu verdienen, egal ob Menschen, Stände, oder Waren. Letztendlich blieb ich jedoch vor einem Stand stehen, der besonders köstlich aussehendes Obst anbot. Die Auslage teilten sich Melonen, Orangen, Zitronen, Bananen und knallrote Äpfel mit seltsam bunten Früchten, die wie eine Mischung aus Ananas und Limone aussahen. Ich stibitzte mir eine und biss hinein. Der gelbe Saft des süßen Fruchtfleisches rann mir das Kinn hinunter und der Geschmack überwältigte mich. Wieder und wieder biss ich hinein, bis nur noch die weiche Schale übrig war. Als ich aufblickte, bemerkte ich, dass der Verkäufer mich anschaute.
„Ich hoffe, du weißt, dass du das bezahlen musst.“, sagte er mit einer ruhigen Stimme.
„Jaja“, antwortete ich, „Mein Vater macht das schon, er müsste gleich kommen.“
Ich wachte auf und taumelte zu meinem Schrank, um mir meine Hose und den Mantel anzuziehen, den ich vor ein paar Tagen geklaut habe. Schnell ließ ich noch einmal meinen Blick über das Flugzeug gleiten.