Traum
Sie erwachte. Ganz verworren, undurchsichtig, aber beängstigend real war ihr Traum gewesen. Sie hatte Angst während des Traumes - auch jetzt war die Angst noch nicht verflogen.
In dem Traum war sie durch das Haus, in welchem sie wohnte geirrt. Zuerst wußte sie nicht, daß sie sich in einem Traum befindet. Es war alles so, wie es immer gewesen war: Der schmutzige Hausflur. Die Namensschilder an den einzelnen Türen. Die Farbe des Treppengeländers - es fühlte sich sogar genauso an, wie im Wachzustand.
Sie ist so selbstverständlich, wie sie es nach der Arbeit abends immer tat, die Treppen hinaufgestiegen. Auf dem Weg nach oben, sie wohnte direkt unter dem Dach in einer kleinen Mansardenwohnung, holte sie nach alter Gewohnheit den Haustürschlüssel aus der Manteltasche und spielte gedankenverloren mit dem Bund in der Hand. Vor ihrer Wohnungstür angekommen, die sie vor kurzem hellblau, in ihrer Lieblingsfarbe gestrichen hatte, suchte sie den passenden Schlüssel aus dem Bund heraus. Dann warf sie noch einmal einen Blick auf die Tür, um sich zu versichern, daß keine Nachricht von einem Besuch während ihrer Abwesenheit daran hing. Doch es schien niemand dagewesen zu sein, und sie schloß die Tür auf.
Sie hatte den rechten Fuß schon erhoben, um über die Schwelle zu treten, als sie plötzlich mit Grauen feststellen mußte, daß sich statt des gewohnten Dielenfußbodens vor ihr der unergründlich schwarze Schlund eines Abgrundes auftat. Entsetzt war sie zurückgewichen. Dabei hatte sie ihr Schlüsselbund fallen lassen und ein scheinbare Ewigkeit lang hörte man keinen Ton, bis dann doch das Echo des Aufpralls hohl und leise zu ihr heraufdrang.
Stille und Leere - beides wurde ihr auf einmal bewußt. Das Haus war tot. Niemand lebte in diesem Haus. Die stürzte die Stufen hinab, öffnete hastig die Türen der anderen Wohnungen und mußte jedesmal feststellen, daß sich immer wieder derselbe schwarze Schlund vor ihr auftat. Sie lief ganz hinunter, zur Eingangstür. Diese öffnete sie ebenfalls und als sich auch hier eine bodenlose Leere auftat, wurde sie besinnungslos vor Angst. Sie schrie auf und erwachte daraufhin schweißgebadet aus diesem Alp. Noch zitternd lag sie in ihrem Bett und versuchte, die schrecklichen Bilder aus ihrer Vorstellung zu verscheuchen.
Nach einiger Zeit aber stellte sich bei ihr ein Glücksgefühl ein, da sie erkannte, daß sie wach war und somit auch in der Wirklichkeit. Sie schaute sich in ihrem Zimmer um. Es war von dem hereinscheinenden Mond in fahles Licht getaucht und die vertrauten Gegenstände hatten durch dieses Zwielicht eine eigenartig verzerrte sowie befremdliche Form angenommen. Sie knipste das Licht an und atmete erleichtert auf, als sie sah, daß alles seine übliche Ordnung hatte.
Sie spürte das Verlangen, etwas zu trinken, und stand auf, um sich einen Saft aus der Küche zu holen.
Hastig und in großen Schlucken trank sie den Rest aus der Flasche, welche sie angebrochen im Kühlschrank vorgefunden hatte. Dann schaute sie auf die Küchenuhr, um festzustellen, wie spät es war. Mein Gott, erst halb eins., dachte sie und ging durch das Wohnzimmer, um zu ihrem Schlafzimmer zu gelangen. Im Wohnzimmer war es empfindlich kühl. Sie wunderte sich über diesen Umstand - haßte sie doch ausgekühlte Räume. Aus diesem Grund ließ sie auch nachts die Heizung an. Also schaute sie auf den Knopf am Heizkörper.
Eigenartig, er ist doch auf die höchste Stufe gestellt., wunderte sie sich. Sie spürte einen leisen, kalten Lufthauch im Nacken.
Vielleicht habe ich ein Fenster offen gelassen? Aber auch die Fenster waren geschlossen.
Um vielleicht bei Licht die Ursache für den Luftzug ausmachen zu können, ging sie zum Lichtschalter und drückte ihn hinunter. Doch das Licht ging nicht an. Sie schaute zur Deckenlampe. Doch da gab es keine Lampe, geschweige denn eine Decke. Die Schwärze des Nachthimmels blickte auf sie mit einem runden, blaßgelben Auge herab. Still und erstarrt stand sie ungläubig vor Kälte beim Anblick des nackten Himmels zitternd mitten im Zimmer, das nicht ihr Wohnzimmer sein konnte, da es keine Zimmerdecke besaß. Plötzlich bewölkte sich der Himmel und kurze Zeit später traf sie ein Regentropfen mitten ins Gesicht. Einer Träne gleich lief er eiskalt über ihre Wange, dann den Hals hinunter, um sich danach einen Weg über ihren nackten Körper zu bahnen.
Die Wolken quollen von Norden weiter hervor und bedeckten den gesamten Himmel. Auch das Mondauge verschwand hinter der Wolkenwand. Es war ihr, als hätte der Himmel ihr höhnisch zugeblinzelt.
Nach einem letzten Moment der völligen Stille brach ein gewaltiges Gewitter los, und sie stand im Regen - mitten in ihrem Wohnzimmer...
Mit einem erstickten Schrei in ihrer Kehle erwachte sie. Sie lag wieder in ihrem Bett. Sie wagte es vorerst nicht, aufzustehen. Zaghaft blickte sie sich in ihrem Schlafzimmer um. Alles war an seinem gewohnten Platz und jedes Ding in dem Raum vermittelte ihr ein Gefühl der Alltäglichkeit.
Nachdem sie ihr Zimmer eine Weile betrachtend dagelegen hatte, faßte sie den Entschluß, nun ins Wohnzimmer zu gehen, um nachzusehen, ob auch dort alles der Wirklichkeit entspräche. Fröstelnd streckte sie ihre kalten Füße aus dem Bett und setzte sie auf den Boden. Sie nahmen sich in dem Mondlicht wie zwei kleine lebende Tierchen aus. Einen Moment noch betrachtete sie ihre Füße und stand dann entschlossen auf.
Zögernd blickte sie ins Wohnzimmer. Es hatte wieder eine Zimmerdecke und alles im Raum stand in einem stillen, selbstverständlichen Frieden da. Erleichtert atmete sie auf und ging in die Küche, um auch jene zu überprüfen. Auch hier war alles in bester Ordnung. Kein Geräusch, außer dem Ticken der Küchenuhr, das die friedvolle Stille durchbrach, war zu hören.
Da spürte sie etwas warmes Weiches an ihren nackten Waden entlangstreichen. Erschrocken schaute sie auf den Boden und mußte dann lächeln, als sie dort das schwarze, seidige Fell ihrer Katze erblickte. Wie hatte sie nur ihre Katze vergessen können. Von einer zärtlichen Regung erfaßt, beugte sie sich hinunter und hob das kleine Tier auf ihren Arm. Die Augen der Katze leuchteten hell und starrten sie gelb aus der Dunkelheit an. Sie waren pupillenlos. Sie warf die Katze entsetzt auf den Boden und trat drei Schritte rückwärts zur Tür hin. Aus der Ecke ein vorwurfsvoller, pupillenloser Blick.
Sie erinnerte sich: Sie besaß seit dem letzten Sommer keine Katze mehr, da diese in einer warmen Sommernacht von einem Auto überfahren worden war. Sie hatte das tote Tier mit eigenen Händen heimlich im Garten begraben - direkt an der Mauer, neben dem Rosenstrauch.
Ich träume immer noch und muß aufwachen., stellte sie dieses Mal nüchtern fest. Und sie erwachte in demselben Augenblick dieses Gedankens in ihrem Schlafzimmer. Bin ich schon wieder in einem Traum oder bin ich nun wirklich wach ?, fragte sie sich ängstlich.
Sie erinnerte sich an eine eigenartige Methode, eher ein Spiel, sich selbst zu beweisen, daß man wach sei. Man mußte sich in den Arm kneifen, und wenn man einen Schmerz spürte, befand man sich im Wachzustand und somit auch in der Wirklichkeit. Sie kniff sich also in den Arm und stellte erleichtert fest, daß sie endlich wach war, da sie einen ziehenden Schmerz verspürt hatte.
Ich bin wach - wie gut das tut, wenn man sich dessen sicher ist. Während sie dachte, ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Doch dann hielt ihn eine große, rote Blüte gefangen. Die Blume stand langstielig in einer kristallenen Vase auf dem Nachttischchen und hatte ihren Kopf dem Gesicht der Liegenden entgegengesenkt. Sie hatte etwas Blutiges an sich - wie sie so, scheinbar die Frau verlachend, mit grinsend offenem Kelch auf dem Tisch stand.
Die Frau wußte, daß sie die rote Blume nicht auf den Nachttisch gestellt hatte und sie wußte ebenfalls, daß sie noch immer im Traum verfangen war.
Dieser Traum hat mich eingesponnen - wie einKokon. Was ist, wenn ich nun nochmals erwache? Werde ich mich wieder in diesem endlosen Traum vorfinden oder in der Wirklichkeit? Doch was ist Wirklichkeit? Bis jetzt habe ich alle Veränderungen wahrgenommen, die mich erkennen lassen, daß ich nur träume. Aber was ist, wenn der Unterschied zur Wirklichkeit so winzig und unscheinbar ist, daß ich ihn nicht bemerke. Ein Buchstabe in meinen unzähligen Büchern könnte vertauscht sein. Dieser Unterschied bliebe sicher von mir unentdeckt. Diese Gedanken hatte sie noch, bevor sie erneut erwachte.
Nun bin ich wach - ob nun im Traum oder in der Wirklichkeit. Die Blume ist fort, aber das ist nicht von Bedeutung. Vielleicht hat es nie eine Wirklichkeit gegeben, und das, an dem ich mich krampfhaft festhalte und als Wirklichkeit bezeichne, war auch schon ein Traum. Oder es gab doch einmal eine Wirklichkeit, aber ich habe sie vergessen und die ganze Zeit meines Daseins einen Traum für wirklich gehalten.
So vor sich hin sinnierend blieb sie bis zum Morgengrauen im Bett liegen. Die Helligkeit des anbrechenden Tages machte ihr wieder Mut. Der Tag streifte den Traum von ihr ab, wie einen Mantel, der von der Dunkelheit gesponnen ward. Diese traumreiche Nacht erschien der Frau im Laufe des tages letztlich als ein Hirngespinst.
Die Erinnerung an diese Nacht verschwand in den nächsten Wochen hinter einem Schleier des Vergessens. Zwar wunderte sich die Frau, als sie drei Wochen später bei einem genaueren Blick in den Spiegel entdecken mußte, daß ihre Augen eine grüne Iris aufwiesen, statt einer blauen, so wie sie es in Erinnerung hatte, aber sie sah darüber einfach hinweg, und vermied es künftig, häufiger als es notwendig war, in den Spiegel zu schauen.
2. April 1996
[ 30.07.2002, 22:02: Beitrag editiert von: nikto ]