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Traum von der Vernunft
Karl blickte in ein Gesicht, auf dem sich angeborene Hässlichkeit mit unglaublichem Zorn paarte. Sein Blick musterte das Gesicht, die Haarstoppel auf dem Glatzenkopf, die Bomberjacke und die Springerstiefel seines Gegenübers genauestens. Dann glitt sein Blick nach links und nach rechts. Dort standen zwei weitere Jugendliche, die Klone des ersten hätten sein können. Doch ihre Gesichter wiesen winzige Unterschiede auf: Ihre Gesichter waren irgendwie weicher, menschlicher. Karl glaubte in ihren Augen Intelligenz funkeln zu sehen. Ihm blieb nicht viel Zeit für seine Beobachtung, da riss ihm sein Gegenüber schon mit harter Hand einen Button von der Jacke.
„Gegen Nazis“,las er vor, starrte eine Weile auf den Button und sah dann Karl an. „Was haste denn gegen Nazis, hä? Gehste lieber zu den Kanacken ja?“
„Ich glaube, dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Leben hat, und das gleiche Recht dieses Leben ohne Angst und Benachteiligungen zu verbringen“, antwortete Karl und seine Stimme zitterte ein wenig vor Angst.
Sein Gesprächspartner ließ den Button fallen und trat mit seinem Stiefel darauf, dass es knirschte.
„Ups, dass tut mir echt leid!“, bemerkte er mit einem Grinsen, hob den völlig zerstörten Button auf und befestigte ihn irgendwie wieder an Karls Jacke. Dann sah er sich einen weiteren Aufnäher an, der auf dem Parker zu sehen war.
„Zahme Vögel singen von Freiheit, wilde Vögel fliegen“, las er wieder vor, und schaute Karl nachdenklich an.
Karl sah wie der Skinhead zögerte und ergriff die Initiative.
„Weißt du, ich fühle mich hier so eingesperrt. Dies darf man nicht und das ist auch verboten. Wo immer man hingeht begegnet einem nur Misstrauen, festgefahrene Meinungen und eine geplante Wirklichkeit, die keine Freiheit mehr zulässt.“
Der andere nickte gedankenversunken. „Ja, das stimmt. Kindergarten, Schule, Bund und Ausbildung. Dann Arbeiten, Rente und Tod. Das Leben ist schon fest verplant.“
„Und dann diese Angst, zu versagen, im großen Spiel zu verlieren“, beteiligte sich jetzt der rechte. „Wenn du nicht der Beste bist, dann kommt jemand anderer. Konkurrenz überall. Darum ist es wichtig sich nicht auch noch von Ausländern seinen Lebensunterhalt streitig machen zu lassen.“ Die anderen beiden nickten.
Karl hatte jetzt keine Angst mehr: „Und warum versucht ihr nicht einfach die Situation zu verändern, anstatt nur die Ausländer zu vertreiben? Wie wäre es denn, wenn es eine Welt gäbe, in der jeder Arbeit hat, in der alle genug zu Essen haben und in der niemand um sein Hab und Gut fürchten muss?“
„Ja, schön wäre es!“ murmelte der Anführer.
„Tja, und dafür kämpfe ich, das ist das Ziel welches ich vor Augen habe.“, bemerkte Karl so nebenbei und strich sich gedankenverloren über den Iro.
„Du?“, die Augen der drei blitzten überrascht auf.
„Ja. Ich bin Anarchist. Das bedeutet, dass ich möchte, dass niemand jemand anderen zu etwas zwingen kann.“
Die Skinheads waren fasziniert. Interessiert fragten sie Karl aus, und schon nach kurzer Zeit verabredeten sie sich für den nächsten Tag im Café um weiter zu reden. Schließlich gingen die drei.
Als Karl alleine war, blinzelte er ungläubig in die Sonne. Sein Kopf schmerzte und er fühlte eine warme Flüssigkeit an seinem Bein herablaufen. Eine Träne rollte durch sein Gesicht, kreuzte und verwässerte eine Blutspur und fiel auf den Asphalt. Zusammengekrümmt lag er auf dem kalten Pflaster und beobachtete wie seine Peiniger verschwanden.
Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was genau geschehen war. Der erste Schlag hatte ihm die Besinnung geraubt. Undeutlich erinnerte er sich daran, geträumt zu haben. Im Traum hatte es die Möglichkeit gegeben zu reden, zu argumentieren und zu überzeugen. Kein sehr realistischer Traum. Leider.