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Traum und Trauma

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07.08.2002
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Traum und Trauma

Der Schlaf, sanft und gleichmäßig, die Atmung gleitet. So wünsche ich mir meine Nacht. Ruhe im Schlaf.
Vielleicht geschieht es eines Tages,...wenn das Eis wieder bricht!

In mir wüten Impulse. Der Traum, Wunsch und Befürchtung zugleich, er wandelt sich vom Schrecklichen zum Himmlischen. Längst erworbener Primärtrieb, einzigartig in seiner Art, befremdlich in seiner Konsequenz. Jahre sind vergangen, doch von Vergangenheit keine Spur. Verdrängtes als Traum und Trauma.

Ein kalter Wintertag, so entsetzlich wie alle gelebten Tage zuvor.
Sonnenstrahlen spiegeln sich in der von Kufen zerfurchten Eisfläche. Die Kälte schneidet, die Sonne lacht. Kinder spielen, laufen und tanzen auf dem Eis. Werden sie mich dulden?
Habe keine Freunde und auch keine Schlittschuhe!

Vorsichtig betrete ich das Eis. Kein Knacken, kein Schwingen. Das Eis hält auch mich!
Anlauf nehmen, rutschen, ausbalancieren, ich wiederhole das Spiel.
Heute trage ich schwer, bin voller Schuld. Die Blicke meiner Eltern verraten es mir. Habe doch alles getan, es reicht nicht! Die Violine soll beherrscht werden.
Die Noten, sie sacken. Die Eltern klagen.
Schlittere über das Eis, es wird mir erlaubt, niemand regt sich.
Ich suche die verborgenen Winkel des Sees, will die auf dem Eis Tanzenden nicht stören, möchte die Einsamkeit finden und gelange zu merkwürdigen Eisverfärbungen und riesigen Wasserflecken. Was hat das zu bedeuten? Ich rutsche hindurch, das Wasser spritzt. Ich fühle mich frei, unbeobachtet. Bin weit hinaus, höre ganz leise noch Kindergeschrei aus der Ferne.
Einsame Stille. So friedlich. Die Wasserflecken! Warum Wasserflecken?
Ein wenig knarrt das Eis, so still? So friedlich? Ein laues Lüftchen weht, ich spüre es. Unter meinen Sohlen…ein Geräusch als ob Tausende von Papierseiten reißen.

So friedlich?

Es bricht! Das Eis bricht! Grausame Gewissheit. Eiskaltes Wasser, es schmerzt entsetzlich. Der See zieht an mir. Ich brülle und habe Angst, grässliche Angst. Klammere mich an das Eisloch, stütze mich auf, breche wieder ein, schreie so laut es nur geht, hört mich keiner? Was soll ich tun? Es zieht mich unter den Rand des Eislochs, mein Körper fühlt die innere Eisschicht, ich winde mich, drehe mich nach allen Seiten, atme Wasser, immer mehr. Die Glieder, kann sie nicht bewegen. Ich gerate in Rücklage, treibe unter die Eisdecke, bekomme keine Luft. Ertrinke. Was ist?

Bin unterm Eis. Still nun.
Mein Bauch reibt an der glatten Fläche, ich sehe Sonne. Ich sehe die Sonne durch die geschlossene Eisdecke! Sehe Kindergesichter, einige weinen. Weinen! Wen beweinen sie? Mich? Will atmen, es geht nicht, Meine Lungen füllen sich, blähen sich auf.

Diesen Kampf werde ich verlieren, ganz sicher! Habe keine Kraft, kann mich dem Tod nicht verweigern, will auch nicht, bin schwach geworden. Ich sehe den Himmel in hellblau, er scheint sich zu öffnen, einmalig schön! Ist das, das große Nichts? Ich hörte davon! Ein Gefühl der Freude, die Aussicht auf Frieden, unglaubliche Erleichterung. Plötzlich fühle ich mich seltsam frei und entspannt. Schwebe durch eine dunkle Dimension, höre ein Brausen und Summen, am Ende ein Licht, erst ganz matt, dann immer heller. Es zieht mich magisch an. Wärme und Liebe empfinde ich, so arg vermisst! Dort, wo es so hell ist, begegnet mir eine unvergleichliche Landschaft, mit nie erlebter Artenvielfalt. Gebäude aus Kristall, Städte aus Licht, hier lebt das Leben!

Diese Kinder! Diese schrecklichen Kinder! Sie ziehen und zerren an mir, halten sich gegenseitig und versuchen mich zu greifen. Ich erzeuge Gegendruck, mit steifen Gliedern. Presse meine Hände unter die Eisdecke, suche Halt, will mich festkrallen, zu schwach, es gelingt mir nicht. Ein letztes Mal leiste ich Widerstand, ganz wenig. Es ist umsonst, der Kampf verloren. Diese Kinder, sie sind stärker, mal wieder! Sie heben meinen Körper auf die Eisfläche, ich stehe neben ihnen, beobachte es, nicht bereit zurückzukehren, doch bleibt mir keine andere Wahl.

Morgens, nach durchlebter Nacht, da sehne ich mich nach Eisverfärbungen und Wasserflecken, so ruhig, so friedlich!

 

Heja Stefan,

puh - bin ganz erschlagen. Starker Text. Die Gedanken deines Protagonisten überschlagen sich, reissen einen mit - ein hohes Tempo legst du da dem Leser vor!

Ich hätte mir deinen Text besser nicht in Verbindung mit einer Klaviersonate von Beethoven vornehmen sollen ... bin jetzt direkt ein bisserl mitgenommen.

"Den dunklen Tunnel" würde ich weglassen, das ist irgendwie ein ausgelutschtes Thema.

Dort, wo es so hell ist, begegnet mir eine unvergleichliche Landschaft, mit nie erlebter Artenvielfalt. Gebäude aus Kristall, Städte aus Licht, hier lebt das Leben!

Wunderschön und fantasievoll formuliert!

Liebe Grüße
Liz

 

Hallo Liz, soll ich dir was verraten. Ich hab immer drauf gewartet, dass da jetzt ne Antwort kommt. Das ist bei mir bei der 1. Antwort immer so, die 1. ist mir die wichtigste. Und wenn sie dann von dir kommt...;) Ich werde den Tunnel wieder rausnehmen, du hast recht, fühlte mich beim Tunnel nicht wohl, dann soll man es lassen. Vielen dank.

liebe grüsse Stefan

Beethoven Sonate? tja. ich hab hier Götterdämmerung (Wagner)

 

Hallo Stefan!

Mir hat die Geschichte ebenfalls gut gefallen.
Sie ist mitreißend, gut hineinversetzbar und vor allem der Schluss sehr schockierend, u. z. dieses "Widerstand leisten" oder "Diese Kinder, sie sind stärker, mal wieder!".
Ziemlich heftig.

Besonders gefiel mir auch dein sprachlicher Stil; gut geschrieben, treffende Wortwahl und äußerst angenehm zu lesen.

Also weiter so! :thumbsup:

Viele Grüße,
Michael :)

 

Danke Michael, ich denke mit "mitreissend" meinst du den Absatz mit dem Eisloch, ich hoffe es ist mir durch den Wechsel in das abgehakte gelungen. Das soll dann die grösste Spannung sein. vielen dank freut mich wenn es gefällt. Zuerst ist man ja immer unsicher und wartet auf die ersten Antworten

danke arche

 

Hallo Arche!

Es fällt mir ziemlich schwer, meine Gedanken zu diesem Text in Worte zu fassen.
Er lässt mich nicht mehr so schnell los...
Über eine Formulierung bin ich leicht gestolpert:

Die Violine, ich muss sie besser beherrschen, die Mutter meint es.

Passt zu Deinem Stil, ist aber irgendwie...holpriger als der Rest.

Der Erzählstil passt absolut genial zum Inhalt. Toll, so schreiben zu können...

Schöne Grüße, Anne

 

@ Arche:

ich denke mit "mitreissend" meinst du den Absatz mit dem Eisloch
Stimmt. Die Geschichte fängt zuerst ruhig an ("Der Schlaf, sanft und gleichmäßig"), dann erzeugst du beim Leser eine spannende Vorahnung ("Vorsichtig betrete ich die gefrorere Horizontale") und schließlich trifft das erwartete Unglück ein: "Es bricht!". Dieser Absatz ist wirklich sehr mitreißend. Also ein klasse Spannungsaufbau.
Und das Ende ("Widerstand leisten") ist dann, wie gesagt, sehr überraschend, da man dachte, man weiß, wie die Geschichte endet.
Also sehr gelungen!

Grüße - Michael :)

 

Hey Michael, das freut mich echt, denn weiss ich das es richtig war. Nach dreissig mal umschreiben und dreissig mal lesen, da habe ich kein gefühl mehr für die story.

Und es freut mich genau so, wenn anne schreibt "toll wenn man so schreiben kann"

dann werde ich ganz verlegen, das könnt ihr aber nicht sehen!

liebe grüsse stefan

 

Hallo Arche,

beeindruckt hat mich „das Eis hält auch mich“ als Symbol für die Gemeinschaft mit den anderen Kindern (wenn schon die Schlittschuhe fehlen).
Dann die Eltern: Durch ihre Ansprüche lassen sie das Kind so schwer tragen, daß es letztlich einbricht. Diese Umwandlung von einer metaphorischen Schwere zu einer physikalischen, ist sehr gelungen. Ich habe den Eindruck, Dein Protagonist begibt sich (wahrscheinlich unbewußt) gerne in Gefahr.

Also – mach` weiter!

Tschüß... Woltochinon.

 

Hallo, Stefan!

In diesem Text behandelst Du mit starken, bildreichen Worten eines meiner Lieblingsthemen.

Verdrängtes als Traum und Trauma.
Gleich der erste Satz ist gut gewählt.
Der Schlaf, sanft und gleichmäßig, die Atmung flach, so wünsche ich mir die Nacht.
Der Schlaf wird im Allgemeinen als kleiner Bruder des Todes bezeichnet. Dein P. möchte friedlich "einschlafen", wenn es dann soweit ist.
Eines Tages vielleicht, wenn das Eis einmal wieder bricht.
Das Eis ist eine Metapher für das Leben. Es ist trügerisch (wer schwer trägt bricht leicht ein), der Lauf darauf muß gelernt werden (ausbalancieren).
Ich suche die verborgenen Winkel des Sees,..
Sinnsuche. Doch, Vorsicht! Einsamkeit und Erkenntnis bergen auch Gefahren in sich.
Es bricht! Das Eis bricht!
Die Angst vor dem Tod(eskampf) nimmt über den Ertrinkenden Gestalt an. Auch die Hoffnung auf das, was nach dem endgültigen Schritt kommt, ist gut beschrieben.
Wärme und Liebe empfinde ich, so arg vermisst!
Der P. trägt ein Trauma in sich, weshalb er sich gegen die Rettung und Wiederbelebung wehrt.

Hoffentlich findet er andere Tore zum Glück!


Liebe Grüße
Antonia

P.S.: Dies ist die stark gekürzte Version meiner Deutung.

 

Wolto, vielen dank, da sind ne menge metapher, grad den , den du erwähnt hast, der ist aber nicht beabsichtigt, allerdings möglich. Sorry, mit den Eltern und Kindern in Verbindung mit dem Eis, das war beabsichtigt, den hast du richtig gesehen. Ach... Wolto, Ich muss mal soon richtig geilen Ober-metapher-text machen. Danke.

Huuuuiiiiiiiiii, Antonia, da hast du aber ganz schön viel gedeutet, also es ist so. beabsichtigt, also bewusst ist folgendes entstanden: das brechende Eis, natürlich hast du auch recht mit "Der P. trägt ein Trauma in sich, weshalb er sich gegen Wiederbelbung wehrt.

Allerdings müsste ich, da brauch ich jetzt kein Blatt von den Mund nehmen, mal in mich reinhorchen, ob ich das gemeint haben könnte. Denn tiefenpsychologische Deutungen sind ja Deutungen des Unbewussten.
Aber, wahnsinn, wie du dich mit dem Text auseinander gesetzt hast? Ehrt und freut mich. Den hab ich auch nicht mal eben so runtergeschrieben!

Vielen dank Wolto und Antonia

Antonia, die verborgenen Winkel des Sees ist die Suche nach Einsamkeit, weil er ja sehr ängstlich ist, evtl. kann das schon der Sinn sein!

Also ich muss noch mal überprüfen, was ich mir dort geleistet habe.

 

hallo Arche.

nachdem schon so viel Schönes gesagt wurde muß ich nicht auch noch. nur ein bißchen.
prima finde ich daß erst gekämpft wird um das Leben behalten zu dürfen und mit der gleichen Kraft gekämpft wird um ebendieses hinter sich zu lassen.
wunderschön und schon erwähnt: "das Eis trägt auch mich", sind nur fünf Worte und erzählen eine kleine Geschichte.
ein bißchen Gemecker habe ich auch noch für dich: ich finde zwei Worte im Text komisch, zum einen "Primärtrieb" im ersten Absatz, zum anderen "Artenvielfalt" in seinem Satz, mag ich auch nicht.
gut gefallen würde mir noch wenn der erste Absatz am Schluß noch einmal steht, dann erst ist er ein Knaller und die Wiederholung verstärkt noch.
so. habe ich erwähnt daß mir die Geschichte gut gefällt?
mir gefällt die Geschichte gut.


liebe Grüße, alex.

 

Servus Stefan!

Da will einer seine Vergangenheit verdrängen, versteckt sie in Träumen. Aber so wie das Eis einst brach, bricht die Erinnerung hervor, als Sehnsucht nach dem Himmlischen.
Ein Kind empfindet an einem Tag voll Schönheit das tägliche Entsetzen. Der Druck der Eltern, das vielleicht nicht geduldet sein. Aber das Eis trägt auch dieses Kind. Es sucht dennoch die Einsamkeit, will nicht stören. Es erfährt Frieden in der Entfernung zu den anderen. Dann der Moment des Schreckens, des Einbrechens, die Kinder die hinzukommen und weinen. Aber das Kind ist schon einen Schritt weiter, findet Gefallen an dem was sich ihm öffnet, wird angezogen vom Licht, spürt endlich die Liebe, die es vermisste. Es wehrt sich gegen die helfenden Hände. Es gewinnt das Leben zurück und verliert gleichzeitig die Erfüllung. Aber da sind ja noch andere Tore zum Glück. Wo liegt dieses Glück - diesseits oder jenseits des Eises?

Dein Text hat meine Atmung verändert und mich tief beeindruckt. Die sehr gelungene Wortwahl, das Wechseln von Rhythmus und Geschwindigkeit macht die Geschichte sehr intensiv erlebbar. Ich fand sie einfach wunderschön.

Lieben Gruß an dich - Eva

 
Zuletzt bearbeitet:

Alexandra, vielen vielen dank, es hat dir gefallen, okay bis auf Primärtrieb und Artenvielfalt. Oft korrigiere ich, aber hier möchte ich es drin lassen.
Finde ich toll, dass du "das eis trägt auch mich" bemerkt hast, was da noch so hinter steckt.

hei schnee.eul, ich habe mir deine antwort 2 mal durchgelesen. Es ist eine 1 A Interpretation, wie ich es selbst nicht könnte, wirklich. Danach noch dieser schöne lupenreine toll, mega-voll-geile Satz.
"Du veränderst mein atmen", ja sag mal, was soll ich denn da noch sagen, bin beschämt.

Liebste grüsse an beide, stefan

achso alexandra, über deinen vorschlag mit dem letzten absatz noch einmal, da denke ich schon die ganze zeit drüber nach!

 

Hallo Arche,

alle Geschichten zu denen ich einen Beitrag erstellen wollte sind weg, konnte eine Zeit keine Beiträge erstellen.
Scheissegut. Was soll ich dazu schreiben! Spannung gut!
Der Stil ist beeindruckend.

Lukasch

 

Hallo Arche!

Nun will ich endlich mal was schreiben und sehe, es wurde schon alles gesagt, was man sagen kann. Eine Geschichte, in der man mit auf dem Eis steht und mit abtaucht, so habe ich es für mich empfunden. Und besonders beeindruckt haben mich die Gebäude aus Kristall, Städte aus Licht. Klar, es gibt auch andere Tore zum Glück ... aber wenn's "drüben" so aussieht, dann ist das ein schöner Gedanke. Ganz tolle Geschichte!!!

Lieben Gruß
Karin

 

Arche, lass das, oder nein, mach weiter....

Du bist zu gut. Was ist das in dir, dass dich so schreiben lässt? Ich meine, dass du dich permanent selbst übertrifftst. Ich denke, dass du auf den Super- Arche hinarbeitest, Stefan. Ich mag und brauch deine Texte so wie sie sind. Du bist eine Entdeckung.

Wenn ich jetzt wieder von Verneigung spreche, dann zu einem grandiosen Autor.

Oldenburg hat was. Dich.

Liebe Grüsse - Aqua

 

Hey Stefan,

die Stimmung kommt mit dem Stilmittel kurze Sätze sehr gut rüber. Auch die Idee das Kind auf das Eis zu stellen, auf eine glatte Oberfläche, die eine Metapher für seine Situation ist, beeindruckt.
Mir missfällt der Schluss. Warum der verkrampfte Nachsatz? Oder überhaupt die Verbrämung als Traum?

Joachim

 

Hallo Deja vu, nö war nicht alles gesagt, denn du hast gesagt "schöner Gedanke" "tolle Geschichte". Ich dachte immer der Ausdruck mit den Städten aus Licht wäre schon ein wenig bekann?

Hei Aqua, was soll ich bloss sagen, ich komme gegen deine Kritiken nicht mehr an. Kann mich doch nicht immer verneigen? Was soll ich tun?

Hei Achim, du hast Recht der lezte Satz, ja der fällt, wenn man es so will, dann ja. Nicht wenn man dem ganzen noch ne romantische Note gibt! Denke ich.
Ausserdem, überlegt der Darsteller ja nun wirklich, auch es noch mal zu tun, das Eis zu betreten!!

Vielen Dank für das Lesen

 

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