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Traum im Traum
Elevator effect. Wenn Menschen in einen kleinen, engen Raum zusammengepresst werden und gezwungen sind, körperliche Abstände zu verringern. Dann machen sie eins : sie vermeiden den Augenkontakt. Es ist ihnen unangenehm, darum schauen sie sich nicht gerne in die Augen. Sie verschließen die Fenster fest, sehr fest.
Wir sind nicht mal in einen engen Raum zusammengrepresst. Unsere Augen schauen keine Sekunde voneinander weg und wir liegen eng umschlossen auf unserem Bett. Wir sind nicht mal Fremde aber warum fühle ich so? Warum habe ich das Gefühl, bei jedem Schritt, den ich zu dir gehe, mich immer weiter von dir zu entfernen?
Ich würde so gerne wissen, was dich bedrückt. Was deine Seele beengt. Du weißt es zwar nicht, aber ich fühle, was du fühlst. Meine Seele ist mit deiner Seele verbunden. Du magst das Gefühl haben, dass du allein bist in dem engen Raum ,aber ich bin auch da.
All diese Gedanken versuche ich in meinem flüchtigen Blick auszudrücken. Du erstarrst, deine Augen wandern nach oben, als ob du überlegen würdest. Aber dann stehst du auf, machst das Licht aus und ziehst die Rolladen runter.
"Ich will schlafen", murmelst du, während du dich hinlegst und ich weiß, dass das eigentlich "Ich will nicht reden" heißt. Ich versuche es zu verstehen.
Kleine Lichtgesprenkel der Straßenlaternen streuen sich auf deinem Gesicht aus. Wahrscheinlich hast du die Rollladen nicht richtig runtergezogen, denn es scheint, als wären sie aus den Löchern reingedrungen.
Das gibt mir auf eine seltsame Art Hoffnung.
Dein Atem wird immer regelmäßiger , bis du anfängst zu schnarchen. Ein kleiner Lichtfleck auf deinen geschlossenen Lidern, wie ich jetzt bemerken kann, bestätigt, dass du wirklich eingeschlafen bist.
Letzte Nacht habe ich von deiner Schwester geträumt. Ein Jahr nachdem sie gestorben ist. Es gibt ein Geheimnis, was ich dir jahrelang nicht erzählt habe. Gestern wollte ich es dir endlich sagen. Aber ich bin froh, sie im Traum gesehen zu haben. Jahrelang habe ich geglaubt, sie immer noch zu lieben. Die erste Liebe lässt immer eine seltsame Spur, besonders, wenn sie unerfüllt bleibt. Es war deine Schwester gewesen, die mir in meinen schwierigsten Momenten im Leben geholfen hat. Als Freund. Sie hat mir das Zeichnen ans Herz gelegt, als mich der beginnende Alzheimer meiner Mutter anfing zu plagen. Als sie immer mehr ihren Rücken zu mir wendete. "Du musst dich auskotzen", hatte sie gesagt.
In meinem Traum hatte sie mir ein Liebesgeständnis gemacht und ich habe nichts gefühlt. Gar nichts. Es hat nicht mal meinem Ego, was sie durch die Abfuhr, die sie mir vor Jahren erteilt hatte, zerbrochen hatte, nicht gut getan und sie tat mir Leid. Auch wenn es im Traum war : ich habe an dich gedacht, als sie nach meiner Antwort gefragt hatte. Nicht aus Mitleid, sondern weil ich endlich nach Jahren gemerkt habe, dass ich dich wirklich liebe. So sehr, dass ich mich fragte, ob die erste Liebe vielleicht eine Einbildung war. Ich war damals sehr verwundbar gewesen und allein. Ja, das musste es sein. Deine Schwester war immer so hilfsbereit warm. Wie einst meine Mutter.
Als ich das erkannt hatte, schien es mir überflüssig, dir eine Beichte zu machen, weil es ab dem Moment nichts mehr zu beichten gab. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erlöst ich mich fühlte.
Hannah, ich will und kann aber nicht schlafen. Nicht mehr und nicht länger.
Lass uns von nun an ehrlicher zueinander sein. Keine Lüge soll zwischen uns kommen.
Erzähl mir alles, wenn du dich bereit fühlst. Von nun an werde ich dir ohne Zwischengedanken zuhören können.
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Ich schließe meine Augen, bis ich deinen bohrenden Blick nicht mehr spüre.
Warum bin ich diejenige, die diesem stillen Verhör unterzogen wird, wenn ich die Person sein sollte, die am anderen Ende des Tisches steht und dich mit skeptischen Augen mustert? Das Schlafzimmer kam mir noch nie so klein vor und du gleichzeitig so fern.
„Anna.“
Du hast diesen Namen in deinem Schlaf ausgesprochen und geweint. Ich wünschte, du hättest spätestens ab diesem Moment geschwiegen. Diesen Gefallen hast du mir nicht getan :
„Ich vermisse dich, Anna.“
Der Name meiner Schwester. Sie war es also gewesen? Deine erste Liebe. Deine beste Freundin. Die mysteriöse Frau mit dem schönen Rücken, die du immer gezeichnet hast. Du hast immer ihren Rücken gezeichnet. Immer mit den gleichen, kalten Farben.
Ich hätte es wissen müssen. Ihr wart auf der gleichen Schule gewesen, hattet die gleichen Interessen und als ich euch zum ersten Mal vertraut gemacht hatte, war die Stimmung so angespannt gewesen. So beengend.
Gestern habe ich die Hand eines anderen Mannes gehalten. Ich habe mir ein neues Parfüm gekauft und meine Frisur verändert. Was ich gemacht habe gestern, war abscheulich. Ich werde dafür niemals um Vergebung bitten, weil ich keine verdiene. Aber weißt du ... ich bereue es nicht.
Dein Blick eben war voller Mitgefühl und einem so tiefen Verständnis für alles, dass ich beinahe versucht war, dir alles zu erzählen. Beinahe hätte ich geglaubt, dass du mich liebst.
Lass uns schlafen, Jürgen. Die Nacht ist noch jung.
Von nun an ist das, was gestern passiert ist, nur noch ein Traum. Ein Traum im Traum.