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Traum der Zeit
Nervös wippte sie auf ihren Ballen von einem Fuß zum anderen, während sie im strömenden Regen vor seiner Haustür stand und wartete, dass er das Klingeln bemerken würde. Ein Schirm wäre vermutlich von Vorteil gewesen, doch das Wetter hatte aufgrund des strahlenden Sonnenscheins keine Stunde zuvor nichts in dieser Richtung vermuten lassen. Drei Mal hatte sie die Klingel betätigt, bis sich endlich die Tür öffnete. Erstaunt, dass er sich nicht erkundigte, wer vor seinem Haus auf Einlass wartete, öffnete sie die Tür. Endlich im Trockenen. Sie stieg die Treppen hinauf und fand eine halb geöffnete Wohnungstür vor. Ohne Umschweife schob sie die Tür weiter auf und trat hinein. Langsam wurde klar, wieso er seit fast einer Woche nichts mehr von sich hören hat lassen. Durch das ganze kleine Apartment hindurch zogen sich ein gewobenes Netz aus roten Fäden, die an den Wänden befestigte vollgekritzelte Zettel verbanden und ein logisches Netzwerk zu bilden schienen. Jedes Stück Papier enthielt wirr und chaotisch hingeschriebene Berechnungen, die sich ihrem Verständnis entzogen. Sie ging ein paar Schritte, setzte sich auf sein Bett und sah ihn an. Völlig verstört und abgelenkt blickte er ihr in die Augen. Seine Haare waren komplett verwuschelt, sein T-Shirt schien er auch schon seit Tagen nicht mehr gewechselt zu haben. Was einst weiß war, war nun eine bunte Mischung aus allen erdenklichen, zumeist ungesund aussehenden Farben. Reglos stand er da, erschöpft starrte er ihr weiter in die Augen. Sein Blick wandte sich von dem eines verstörten zu dem eines verträumten Mannes, ein sanftes Lächeln zeigte sich auf seinem übermüdeten Gesicht. Dann, es war nur der Hauch einer Sekunde vergangen, fiel er auf seine Knie und sackte mit seinem Kopf in ihren Schoß. Sie nahm ihre rechte Hand und strich ihm damit sachte durch die Haare. Ein paar Augenblicke später wurde sein Atmen ruhig und bestimmt und sie wusste dass er schläft.
Stunden waren vergangen und noch immer vernahm sie sein tiefes, langsames Atemgeräusch. Sie saß an seinem Tisch und blickte durch das Fenster mit einem leeren Blick in den Regen. Noch immer ergoss es sich in Strömen über die Stadt, sogar Blitze waren mal hier und mal dort zu sehen. Vor ihr lag ein Notizbuch, sein Umschlag war bereits abgenutzt und seine Seiten fast alle bis auf ein paar der letzten vollgeschrieben. Sie wusste nicht, ob sie es lesen durfte, doch es lag aufgeschlagen auf dem Tisch und ihre Optionen der Beschäftigung waren beschränkt. Also blätterte sie hindurch und fand vorerst nur wirr anmutende Berechnungen, die denen auf den Zetteln an der Wand stark zu ähneln schienen. Doch nach einigen Seiten kamen geschriebene Worte, in seiner Schrift.
„Die Tage vergehen, doch die Lösung des Problems scheint keinen Schritt näher. Meine gesamte Konzentration richtet sich lediglich auf die Entwicklung der Stabilisierung von Einstein-Rosen Brücken, ohne die kaum zu realisierende Verwendung negativer Energie.“
„Er war wieder hier, wollte sich erkundigen, wie denn der Stand des Projektes ist. Meine Erklärungen schienen ihn nicht zu beeindrucken, er wies mich nur vehement auf den einzuhaltenden Zeitplan hin. Ich konnte mich über seine Dummheit nur im stillen aufregen - dieses Projekt beinhaltet die Zeit, der Zeitplan ist völlig überflüssig. Doch seine mich angrinsende Baretta hielt mich davon ab, ihn unnötig zu provozieren.“
Sie war also nicht die erste, die ihn besucht hatte. Doch eine Baretta? Wen kannte er, der ihn mit einer Waffe bedrohen könnte? Woran arbeitete er überhaupt?
„Ich musste schweren Herzens den Kontakt zu ihr abbrechen. Sie darf nicht hineingezogen werden, es ist zu gefährlich. Ich kann es ihr nicht sagen, ich kann es nicht erklären, diese Belastung…“
In Gefahr bringen? Worin war er verwickelt? Woran arbeitet er so intensiv, dass er die Welt um sich herum vergessen muss? Sie blätterte ein paar Seiten vor und versuchten zwischen den mathematischen Hieroglyphen Worte zu entdecken, die ihr beim Verständnis seiner Arbeit weiterhelfen könnten. Auf einer der ersten Seiten fanden sich tatsächlich ganz klein zwischen den Berechnungen ein paar Zeilen reiner Worte.
„…Die Einstein-Rosen Brücken sind eine Lösung der relativistischen Feldgleichungen, die eine Verbindung zwischen zwei Raumzeitpunkten ermöglichen, die kürzer als die kürzeste Geodäten selbst ist. Variiert man nur die Zeit bei dieser Verbindung, so bietet sich die Möglichkeit, zwischen allen Zeiten des Universums hin und her zu springen. Die Stabilisierung einer solchen Verbindung ist das zu lösende Problem…“
Das war zu viel für sie. Sie legte ihren Kopf auf ihre Hand und blätterte halbherzig durch die Seiten. Eine kleine Träne kullerte aus ihrem linken Auge und verwässerte die Tinte auf einer der Seiten. Sie erhob sich und gesellte sich zu ihm ins Bett, rückte nah an ihn heran und lag ihren Kopf auf seine auf- und abgehende Brust. Obwohl er noch schlief, griff seine Hand nach ihrer und umklammerte sie fest. Sie schloss ihre Augen und schlief zu seinem rhythmisch betörendem Atem ein.
Die Sonne kämpfte sich durch eines der Fenster langsam und doch bestimmt den Weg bis zu dem Bett vor, in dem die beiden noch immer eng beinander lagen. Als die ersten Strahlen ihr Gesicht erreichten und das blendende Licht ihre Augen zwang sich langsam zu öffnen, erschrak sie. Seine Wohnung sah völlig normal aus, nirgendwo war etwas von dem Netz aus roten Fäden zu sehen. Sie blickte zu ihm und sah sein sauberes weißes T-Shirt und seine kaum verwuschelten Haare. Seine Augen öffneten sich nun auch und er grinste sie an. Sie versuchte ihre Mundwinkel zu bewegen, um ein wenig zu lächeln, doch sie war noch zu sehr in den Erinnerungen des letzten Tages versunken. Dabei waren es keine Erinnerungen, es war lediglich ein Traum. Sie betrachtete, wie er sich erhob und langsam in Richtung Küche schritt. Auch sie setzte sich auf und ließ ihre Beine von der Bettkante baumeln. Ihr Blick streifte durch den ganzen Raum, nicht wissend, was sie denken soll. Also erhob sie sich und schritt zu seinem Schreibtisch ans Fenster, um sich direkt von der Sonne wecken zu lassen. Als sie da stand, bewegte sich ihr Blick runter auf den Schreibtisch und blieb bei einem Buch hängen. Es war aufgeschlagen und ein beschriebener Zettel lag zwischen den Seiten. Darauf war lediglich eine Uhrzeit und ein Straßenname zu sehen. Vermutlich ein Arzttermin, dachte sie sich. Sie nahm den Zettel heraus und schlug das Buch zu. Als sie den Titel las, begann ihr Herz zu rasen, die Knie wurden weich und sie fühlte einen tiefen Schauer durch ihren gesamten Körper gehen.
„Theorie der Einstein-Rosen Brücken“