Trauervogel
„Sehen Sie die Nachtigall dort auf dem Baum?“ fragte mich der Mann, der neben mir saß. „Wie bitte?“ murmelte ich, halb in meine Zeitung vertieft. „Ob Sie die Nachtigall auf dem Baum sehen. Sie sitzt dort jeden Tag und trillert und pfeift die schönsten Melodien. Können Sie sie sehen?“ „Jaja“ antwortete ich, doch meine Aufmerksamkeit galt der Sportseite.
„Manchmal sitze ich auch dort unten am Teich bei den Enten.“ Er machte eine lange Pause und ich konnte mich endlich ganz dem Bericht über das gestrige Fußballspiel widmen. „Ja die Enten“ seufzte er „die Enten mit ihrem Gequake und Geplapper und ihren bunten Farben. So was mögen die Leute. Sie sagen, daß die Enten immer so fröhlich sind und werfen Brotkrümel ins Wasser, um die sich dann alle mit lautem Geschnatter streiten. Sie werden viel zu sehr verwöhnt, finden Sie nicht auch?“
Ich ließ ein gelangweiltes „Hmmm“ hinter der Zeitung hören und er fuhr fort: „Manche Leute nennen die Nachtigall den „Trauervogel“, weil ihre Lieder so melancholisch sind und sie ganz schwarz ist – Schwarz sei eine abstoßende Farbe, sagen sie.“
Wieder machte er eine kurze Pause, dann stand er mit einem Ruck auf und sagte mit lauter und selbstsicherer Stimme: „Aber das kann und will ich nicht glauben! Ein Vogel, der so schöne Lieder singt, ein Vogel, der einen Menschen so glücklich machen kann, der kann nicht geringer als diese plumpen verwöhnten Enten sein! Nein, da bin ich mir sicher: die Nachtigall ist das schönste Geschöpf auf Erden!“
Mit diesen Worten ging er, langsam, bedächtig, mit gesenktem Kopf, ohne sich noch einmal umzudrehen und das monotone Tocken seines weißen Stockes verlor sich langsam in der Fer-ne. Dann war es leise, ganz leise, man hörte nur das Plätschern der Enten im Teich, das Ra-scheln meiner Zeitung und den wunderschönen Gesang des „Trauervogels“, der wie ein wei-ches Tuch seine Umgebung bedeckte und alles in einen zauberhaften Einklang und Frieden hüllte. Und ich schmunzelte bei dem Gedanken, daß es ein Blinder war, der mir die Augen geöffnet hatte.