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Trauervogel

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22.01.2002
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Trauervogel

„Sehen Sie die Nachtigall dort auf dem Baum?“ fragte mich der Mann, der neben mir saß. „Wie bitte?“ murmelte ich, halb in meine Zeitung vertieft. „Ob Sie die Nachtigall auf dem Baum sehen. Sie sitzt dort jeden Tag und trillert und pfeift die schönsten Melodien. Können Sie sie sehen?“ „Jaja“ antwortete ich, doch meine Aufmerksamkeit galt der Sportseite.
„Manchmal sitze ich auch dort unten am Teich bei den Enten.“ Er machte eine lange Pause und ich konnte mich endlich ganz dem Bericht über das gestrige Fußballspiel widmen. „Ja die Enten“ seufzte er „die Enten mit ihrem Gequake und Geplapper und ihren bunten Farben. So was mögen die Leute. Sie sagen, daß die Enten immer so fröhlich sind und werfen Brotkrümel ins Wasser, um die sich dann alle mit lautem Geschnatter streiten. Sie werden viel zu sehr verwöhnt, finden Sie nicht auch?“
Ich ließ ein gelangweiltes „Hmmm“ hinter der Zeitung hören und er fuhr fort: „Manche Leute nennen die Nachtigall den „Trauervogel“, weil ihre Lieder so melancholisch sind und sie ganz schwarz ist – Schwarz sei eine abstoßende Farbe, sagen sie.“
Wieder machte er eine kurze Pause, dann stand er mit einem Ruck auf und sagte mit lauter und selbstsicherer Stimme: „Aber das kann und will ich nicht glauben! Ein Vogel, der so schöne Lieder singt, ein Vogel, der einen Menschen so glücklich machen kann, der kann nicht geringer als diese plumpen verwöhnten Enten sein! Nein, da bin ich mir sicher: die Nachtigall ist das schönste Geschöpf auf Erden!“
Mit diesen Worten ging er, langsam, bedächtig, mit gesenktem Kopf, ohne sich noch einmal umzudrehen und das monotone Tocken seines weißen Stockes verlor sich langsam in der Fer-ne. Dann war es leise, ganz leise, man hörte nur das Plätschern der Enten im Teich, das Ra-scheln meiner Zeitung und den wunderschönen Gesang des „Trauervogels“, der wie ein wei-ches Tuch seine Umgebung bedeckte und alles in einen zauberhaften Einklang und Frieden hüllte. Und ich schmunzelte bei dem Gedanken, daß es ein Blinder war, der mir die Augen geöffnet hatte.

 

Eine schöne Geschichte.

Hab sie mir zu lesen rausgesucht weil mich der Titel interessierte, und weil sie so kurz ist. :rolleyes:

Bin aber sehr angenehm überrascht.
Ich mag diese Alltags-Geschichten, die ganz harmlos beginnen und an deren Ende eine Wendung wie diese steht, die den Leser berührt und ihn, zumindest für kurze Zeit, dazu bringt innezuhalten und nachzudenken.

Die Trennstriche die noch vereinzelt in Deinem Text sind soltest Du editieren, es liest sich dann besser.

Beim zweiten durchlesen fällt mir auf - "schmunzelte" finde ich nicht so passend als Bezeichnung, vielleicht doch besser "lächelte"...mit schmunzeln verbinde ich eher einen Witz, aber lustig ist es ja eigentlich nicht. Dem Erzähler geht vielmehr ein Licht auf, denke ich, er ist berührt..

Es gibt auch so etwas wie ein trauriges, Lächeln, aber bei schmunzeln denke ich automatisch immer an Heiterkeit. :rolleyes:

[ 13.05.2002, 21:29: Beitrag editiert von: Ginnyrose ]

 

Hi SlyeOne,

alles in allem muß ich Ginny Recht geben; Deine Geschichte hat auch mir sehr gefallen, vor allem, weil sie kurz ist und Pointe hat. Eine Pointe, die sogar mich überrascht hat, obwohl ich glaube, schon fast alles in diese Richtung mal gelesen zu haben... ;)

Empfehlenswert, Deine Geschichte! :thumbsup:

Gruß,
stephy

 

Ha, stephy gibt mir Recht. :D

Ich hab überlegt, mir gefiele ein "Ich lächelte still vor mich hin" besser als ein "Ich schmunzelte" an dieser Stelle zum Schluss...

:rolleyes:

 

Hey, Ginny, mir gefällt "lächeln" auch besser als "schmunzeln"... ;) :D

Gruß,
stephy

 

Vielleicht fühlt sich der Protagonist durch das Paradoxe der Situation ja auch erheitert - er grinst sozusagen darüber, dass er normalerweise blinder als ein Blinder ist. Insofern kann ich auch mit "schmunzelte" leben, aber das ist wohl Geschmackssache.

Gute Geschichte, und bis auf die bereits angesprochenen Trennstriche nix zu meckern.

 

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