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Trau keinem über dreißig
Das Lokal war brechend voll. Irene segelte voraus und steuerte einen streng blickenden Herrn an, der den Zugang zu den Tischen bewachte.
„Wir haben vorbestellt für ...“, sie überlegte kurz, um sich auf Gudruns Nachnamen zu besinnen, „für Hennermann, drei Personen.“
„Bitte hier entlang!“ Der Cerberus wies ihnen gnädig einen Tisch zu. Es war nicht der erhoffte Fenstertisch, aber wenigstens lag er nicht direkt an der Rennbahn der Kellner, auch nicht unmittelbar neben dem Eingang zu den Toiletten und Gott sei Dank weit weg von einer lärmenden, qualmenden Runde in Radlerhosen.
„Es ist doch ganz okay hier, oder?“ Barbara setzte sich hastig. Sie hatte Irenes unzufriedenen Blick aufgefangen und fürchtete einen Auftritt zwischen der Freundin und dem Ober. „Wirklich, ganz nett. Weit und breit keine Raucher.“
„Es wäre wirklich mal an der Zeit, ein Rauchverbot in Lokalen durchzusetzen. In anderen Ländern ist das schon längst der Fall. Gudrun, Sie gehören doch hoffentlich nicht zur Raucherfraktion?“
Natürlich gehörte Gudrun dazu. Aber der Wink war nicht zu überhören.
Bevor sie antworteten konnte, griff Barbara nach der Speisekarte.
„Also lasst uns schnell bestellen, mein Blutzucker ist nämlich im Keller.“
„Ja, da muss man natürlich schleunigst etwas dagegen tun, nicht, dass du uns noch umkippst. Warum nimmst du dir denn nie ein paar Nüsse mit, wie ich dir schon so oft gesagt habe?“ Barbara nickte schuldbewusst.
Der Vorschlag, im Roten Ochsen einzukehren, stammte von Gudrun. Es war das erste Mal, dass sie mit den beiden Oberstudienrätinnen etwas unternahm. Eigentlich sollten noch zwei Kollegen mit von der Partie sein, aber die hatten im letzten Moment unter etwas fadenscheinigen Gründen abgesagt. Gudrun war neu in der Stadt, neu im Schuldienst, noch keine 30 Jahre alt. Sie wollte möglichst schnell Anschluss finden.
Irene blätterte in der Speisekarte einige Male vor und zurück.
„Na ja, groß ist die Auswahl an vegetarischen Gerichten nicht, aber das ist ja nichts Neues. Barbara, was nimmst du?“
„Wir könnten es mit dem Lachs probieren, Lachs magst du doch sehr gerne.“
„Aber doch nicht in dieser unmöglichen Kombination! Lachs mit Reis! Wenn es wenigstens Tagliatelle wären. Erinnerst du dich noch an meine fabelhaften Lachs-Röllchen mit dem Spinat-Soufflee? Und an den Zander im Salzbett zu meiner Beförderung? Hoffentlich kann man hier wenigstens umbestellen!“
„Das Essen hier soll ganz gut sein“, wollte Gudrun einwerfen. Aber das wusste sie ja nur vom Hörensagen. Eigentlich hätte sie gerne ein Rumpsteak bestellt, so ein richtig saftiges, innen noch blutiges. Aber jetzt entschied sie sich für Schweinelendchen mit Blumenkohl. Das passte wenigstens farblich zu dem Fischgericht der beiden anderen.
Am Nachbartisch wurde bezahlt. Der Kellner notierte sich gerade ihre Bestellung, als neue Gäste den freien Tisch besetzten. In deren Schlepptau befand sich ein rotbraunweißer Bernhardiner, nicht gerade ein Schoßhündchen. Sein Rücken schloss ziemlich exakt mit der Tischkante ab. Er hätte ohne Probleme am Tisch mitessen können. Mit seinen riesengroßen melancholischen Augen, eines tiefblau, das andere dunkelbraun, fixierte er die drei Frauen, schüttelte sich einmal kurz, drehte zwei Runden unter den beiden Tischen durch und ließ sich direkt neben Irenes Füßen nieder. Dabei streifte seine Schwanzspitze Irenes Knöchel. Irene zuckte zusammen. Wenn sie etwas noch weniger leiden konnte als Raucher, dann waren es Hunde in einem Speiselokal.
Sie warf den beiden Männern im zünftigen Wanderlook einen tadelnden Blick zu.
„Würden Sie bitte dafür sorgen, dass er auf Ihrer Seite bleibt? Ich möchte in Ruhe essen können!“
Der Jüngere schaute kurz unter den Tisch und brummte:
„Los, Rudi, rutsch' rüber, die Dame hat Angst um ihre Waden.“
Der Hund rührte sich nicht, er hatte die Pfoten überkreuzt und seinen Kopf gemütlich darauf niedergelegt.
„Haben Sie mich nicht verstanden? So tun Sie gefälligst etwas! Hört er denn überhaupt auf Sie?“
„Kommt darauf an, wie man mit ihm redet“, mischte sich der Ältere gut gelaunt ein, „aber erst braucht er mal ein ordentliches Stück Fleisch zwischen die Zähne ..., so wie ich auch.“ Und ein anzüglicher Blick streifte die drei Frauen.
Bevor Irene ihrer Empörung freien Lauf lassen konnte, stand Barbara auf.
„Bitte Irene, setzt du dich hier herüber, mir macht es wirklich nicht so viel aus.“
Sobald Irene und Barbara ihre Plätze gewechselt hatten, stand auch der Hund auf, dehnte sich kräftig, gähnte und trollte sich unter den anderen Tisch. Der Ältere grinste breit:
„Wie gesagt, es kommt darauf an. Schreien nützt nichts, streicheln schon eher.“
Er bestellte Bier und für den Hund einen Napf mit Wasser. Danach kramte er in seinem Rucksack, beförderte ein blaues Päckchen Gauloises und ein Feuerzeug ans Licht. Er fischte eine Zigarette heraus, klopfte sie auf dem Handrücken in Form und legte sie auf den Tisch.
„Bin gleich wieder da, geh' nur mal für kleine Prinzen!“ Der Hund war aufgestanden und wollte seinem Herrchen hinterher. „Du bleibst hier und passt auf meine Zigaretten auf. Dass du mir ja keine frisst!“ Dabei blinzelte er in Richtung Irene. Sein wortkarger Wanderbruder goss noch etwas Wasser in den Napf und vertiefte sich eine Broschüre über die Wutachschlucht. Der Bernhardiner begann geräuschvoll zu schlabbern.
Irene hatte bereits angelegentlich in der Weinkarte geblättert und eine Bestellung für alle drei Frauen aufgegeben. Gudruns unschlüssiger Blick auf das reichhaltige Angebot war ihr nicht entgangen.
„Sie sind wohl keine Weinkennerin, Frau Hennermann? Nun, die Weißweine hier aus der Gegend sind ja ganz passabel, wenn man Fisch bestellt. Aber ich persönlich trinke prinzipiell lieber einen Rosé; ich habe da einen Öko-Winzer an der Hand, also wenn Sie wollen ..."
„Vielleicht trinkt Frau Hennermann ja lieber Bier“, warf Barbara dazwischen, „sie kommt schließlich aus Niedersachsen, oder war es Schleswig-Holstein?“ Und mit einer aufmunternden Körperdrehung in Gudruns Richtung:
„Sie haben noch gar nicht viel von sich erzählt. Wo, sagten Sie, haben Sie studiert?“
„Also, angefangen habe ich in ..."
Gudrun konnte ihren Satz nicht beenden, denn Irene fasste mit spitzen Fingern ihr Weinglas am Stiel und hielt es mit angelegtem Ellenbogen hoch.
„Ich hoffe, es gefällt Ihnen an unserer Schule. Wir sind eigentlich alles recht unkomplizierte Leute. Natürlich sind wir nicht mehr ganz jung. Um genau zu sein: Unser Durchschnittsalter liegt knapp über fünfzig. Aber wo gibt es denn heute noch junge Kollegien! Also dann, auf unser Wohl und auf eine enge Zusammenarbeit.“
„Zum Wohl“, murmelte Gudrun. Das steife Zeremoniell behagte ihr nicht. Wieso ging man nicht einfach zum Du über, wie sie es von der Uni gewöhnt war? Selbst die Profs in Kiel waren lockerer gewesen, wenigstens manche.
„Wir versprechen uns einiges an neuen Impulsen von Ihnen und dem anderen Neuling, wie heißt er doch gleich, Barbara? Natürlich werden Sie einige Zeit brauchen, bis Sie sich zurechtfinden! Aber Sie können sich jederzeit Hilfe bei uns holen, nicht wahr, Barbara?“
„Wenn Sie meinen ... Danke.“
Gudruns Magen fing an zu knurren. Wo nur das Essen blieb?
Eine Weile herrschte Schweigen. Am Nachbartisch wurde geraucht. Irene rückte Teller, Bestecke und Servietten zurecht und wedelte mit ihrem Seidenschal den Qualm weg.
„Wieso dauert es denn hier so lange mit dem Essen?“
„Sofort, meine Damen, kommt sofort!“
Der Oberkellner schob einen Beistelltisch heran, zündete die Kerzen in den Rechauds an und lüftete schwungvoll den ersten Silberdeckel, um zu servieren.
Irene starrte auf die dampfende Silberplatte. Reisbällchen mit gegrilltem Lachs! Der Rand dekoriert mit roten Pfefferkörnern und zwei dünnen Scheiben Ananas. Irene schnappte nach Luft.
„Das soll mein Fischgericht sein? Das kann unmöglich meine Bestellung sein. Ich hatte doch ausdrücklich ... Was behaupten Sie da? ... Wie bitte?? ... So geht das aber nun wirklich nicht. Schicken Sie mir den Restaurantleiter, aber sofort!“
Der Kellner öffnete den Mund, überlegte es sich, zuckte die Achseln und trat den Rückzug an.
„Nicht schon wieder“, stöhnte Barbara und sah sich nach einem möglichen Fluchtweg um. Die in der Nähe platzierten Gäste beobachteten die Szene interessiert. Weiter hinten im Raum erhoben sich ein paar Neugierige. Ein kleiner Junge war auf einen Stuhl geklettert. Die Wandervögel am Nebentisch grinsten, und Rudi, der melancholische Bernhardiner, spitzte die Ohren, knurrte leise und schob sich an Irene heran.
„Halten Sie mir den Hund vom Leib, das ist hier ja lebensgefährlich!“, kreischte Irene, packte ihre Jacke und stürzte zwischen den engen Tischen hindurch zum Ausgang, im Schlepptau ihre Freundin Barbara.
Gudrun blieb wie gelähmt sitzen. Sie hatte seit dem Betreten des Lokals keine zehn Worte gesagt. Jetzt hatte sie nur den einen Gedanken: 'O Gott, wo bin ich da hineingeraten! Das darf doch nicht wahr sein! Ob ich wohl auch so sein werde, in zwanzig Jahren?'
Aus der Küche quoll der Koch heraus. Seine Körpermasse und die herabgezogenen Mundwinkel verhießen nichts Gutes. Gudrun hatte keine Nerven für einen Disput. Sie zückte eilig ihre Scheckkarte, die paar Groschen im Geldbeutel hätten nie und nimmer gereicht. Aber dann entschloss sie sich trotzig, wenigstens ihre Schweinelendchen zu genießen. Und ein weiteres Glas Wein konnte auch nicht schaden, es war ja noch reichlich in der Flasche. 'Das lässt sich ändern. Nichts leichter als das!'
An der Stuhllehne hing Irenes voluminöse Handtasche. Gudrun fasste einen Plan: Am Montag würde sie ihr die Tasche zurückgeben. Im Lehrerzimmer, vor aller Augen, mit einem saftigen Kommentar. Vielleicht! Die Flasche war leer, als sie sich auf den Heimweg machte.