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Traktor

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11.07.2021
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Traktor

„Und dann die Veteranenfeier!
An dem Tag kommen alle, die im Jahr 1776 oder wann das Examen gemacht haben, und laufen mit ihren Frauen und Kindern und allen überall herum. Einen, ungefähr fünfzig Jahre alt hättest du sehen sollen. ...Er wollte sehen, ob seine Initialen immer noch innen an einer Klosettüre wären. ...Dabei hatte er die ganze Zeit davon geschwätzt, daß die Jahre in Pencey die glücklichste Zeit in seinem ganzen Leben gewesen wären, und uns haufenweise gute Ratschläge für die Zukunft gegeben. Der hat mich schön deprimiert.“

Jerome Salinger „Der Fänger im Roggen“


Der Arbeiter hatte den Bahnübergang schon passiert, als er bemerkte, dass der Lehrling, der hinter ihm fuhr, seinen Motor abgewürgt hatte. Er musste ihn anschleppen, da in allen Lehrlingsmaschinen die Batterien hinüber waren und sie deshalb nicht vor selber ansprangen. Seufzend koppelte er seinen Hänger, der mit Stroh beladen war, ab und fuhr mit dem Traktor rückwärts über die Bahnschienen. Dabei übersah er die Kleinbahn.
Dieser Unfall, zu dem es kam, weil sich unsere Traktoren alle nicht von allein starten ließen, ereignete sich während meiner Lehrzeit.

„Wenn ich jemals behaupte, dass das die beste Zeit meines Lebens war, dann sagt mir, dass es soweit ist, dass ich mich erschieße.“ bittet Pink in dem Highschoolfilm „Dazed and confused“ seine Freunde, als sie am letzten Schultag alle zusammen auf der 50 Yardlinie sitzen. Diesen Satz unterschreibe ich ohne zu zögern.

„Das war die schönste Zeit meines Lebens.“ anwortet sie mir auf meine Mail. Ich höre aus ihren Worten einen unterschwelligen Vorwurf raus. Habe ich hier rosarote Erinnerungen vergällt? Hält sie mich etwa für eine Brunnenvergifterin? Als „Schönste Zeit“ bezeichnet sie ihre Facharbeiterausbildung mit Abitur an dem landwirtschaftlichen Großbetrieb in S., wo ich auch war, aber nicht zur selben Zeit wie sie. Ich hatte ihr auf ihren Beitrag im Internet geantwortet, wo es um unsere Schule ging und meine Sicht der Dinge dargelegt.

In dem Artikel hatte sie noch weit nachdenklichere Töne angeschlagen. Es war die Rede davon, wie sie morgens in der Dunkelheit oft verzweifelt nach jemandem suchen musste, der ihren Traktor anschleppt und dass sie oft alles hinschmeißen wollte. Ich kenne sie, obwohl ich sie nie gesehen habe. Sie ist genau wie wir.


Waterloo, Rostige Pflugschare, Lenkspiele, Liebeskummer, Abenteuer im Güllesee, Dorfintellektuelle, Aufklärung im Kinderzimmer, Bob Dylan Konzert

Damals stand ein todunglückliches Lehrlingsmädchen in einer Werkstatt in Mecklenburg/Vorpommern und wurde wochenlang damit beschäftigt „einen Pflug“ mit der Drahtbürste zu entrosten. Vor Langeweile wurde ich fast verrückt. Wenn ich mal zu den Schlossern rüberging, um mir anzusehen, wie sie einen Traktor auseinandernahmen, schickten sie mich schnurstracks zurück an meinen rostigen Pflug.

Ich träumte davon, mich an die Straße zu stellen und einfach abzuhauen. „On the road again“. Lieber als hier rumzustehen, wäre ich Groupie bei den Rolling Stones gewesen. Natürlich nicht ernstgemeint, aber...

Aber als Lehrling mit Abitur galt man ja als privilegiert, und es wurde von einem erwartet, dass man sich nicht beklagte.

Einen Hoffnungschimmer gab es in dem Elend. Um vierzehn Uhr fing das Jugendradio aus der Nalepastraße an zu senden. Ich schlich mich heimlich zu dem uralten Röhrenradio in der Werkstatt und drückte auf den Einschaltknopf. Wenn ich Glück hatte, waren die Schlosser draußen beschäftigt. Leider kam manchmal einer rein. Wenn es der Chef war, verzog er irritiert das Gesicht und schaltete sofort das Radio aus. Die jüngeren Schlosser ließen das Radio laufen.

Sie hatten zwar auch mit Musik nichts am Hut, aber sie konnten sich vielleicht noch undeutlich daran erinnern, wie sie ihre zukünftige Ehefrau auf dem Dorftanz umhergeschwenkt hatten, bevor sie die Mutter ihrer Kinder wurde. Also ließen sie großzügig das Radio weiterspielen und „Saturday night fever“ und „Waterloo“ machten mir neuen Lebensmut in meinem Trübsinn, wobei das ganz und gar nicht meine Musik war. Aber: „In der Not frißt der Teufel Fliegen.“

Wenn ich Sonntags am Bahnhof aus dem Zug stieg und mich tascheschleppend meinem Ziel näherte, hoffte ich jedesmal, dass das Lehrlingswohnheim am Wochenende abgebrannt war. Die Lehrer in der Schule und die Klassenkameraden waren eigentlich ganz in Ordnung, bloß die Lehrmeister waren sehr speziell.
Aber trotzdem packte mich das kalte Grausen, wenn ich das Wohnheim in der Dunkelheit auftauchen sah.

Am widerwilligsten stieg ich aus dem Zug, wenn ich wußte, dass wir Montags keine Schule sondern Praxis hatten. Mir graute vor dem morgendlichen Anschleppen der Traktoren, wo einem die durchgescheuerten Abschleppseile um die Ohren flogen und dem Geschrei der Lehrmeister. Sie sahen hier eine gute Gelegenheit ihren Frust an den Lehrlingen auszulassen.

Besonders unangenehm war die fehlende Batterie, wenn man den Traktor abwürgte, manchmal nur weil man beim Aussteigen mit dem Knie gegen den Handgashebel gekommen war.
Dann stand man allein in der Prärie und musste warten, bis jemand vorbeikam, der einen anschleppte. Man hoffte natürlich auch, dass es kein Lehrmeister war, denn dann wurde man nur angeschrien. Die Lehrlingstraktoren verfügten auch über keine Handbremse und keine Scheibenwischer, bzw. sie waren immer kaputt.
Das kann einem auf die Füße fallen, wie jeder Autofahrer weiß. Aber wenigstens den anderen Lehrlingen konnte man vertrauen und wir halfen uns gegenseitig. Die besten Arbeitstage waren immer die, wenn wir mit unseren Traktoren allein auf dem Acker waren und sich kein Lehrmeister blicken ließ.

Aber viele der Lehrlinge fuhren schon nach kurzer Zeit mit dem Traktor durch die Gegend, als wenn sie das schon jahrelang gemacht hätten und arrangierten sich mit zerrissenen Abschleppseilen, fehlenden Handbremsen und den mißmutigen Lehrmeistern. Viele wollten nach ihrem Studium in der Landwirtschaft bleiben. Ich dagegen schmiedete Fluchtpläne, nachts in der oberen Etage von dem schmalen Doppelstockbett in unserem winzigen Viermannzimmer.

Zu dem landwirtschaftlichen Betrieb gehörte ein große Milchviehanlage. Dort wurde Gülle ohne Ende produziert. Der große Güllesee, der vor den Ställen lag, wurde von Jahr zu Jahr immer größer und auch alle Fische, in dem kleinen Flüsschen, der das Dorf durchquerte, waren schon gestorben. Daneben verlief ein Plattenweg. Eines Tages wurde ich mit meinem Traktor zu einem Acker in der Nähe geschickt und musste dort lang.

Es hatte geregnet, und ich sah sofort, dass der Güllesee über seine Ufer getreten war. Wenn ich umgedreht hätte, wäre ich zu spät gekommen. Also riskierte ich es. Ich merkte schnell, dass das ein schwerer Fehler war. Das Wasser war zu tief und die Räder drehten sich nicht mehr. Mein Traktor war ja kein Unimog. Der Motor begann auszugehen, weil der Widerstand durch die Wassermassen zu groß war. Ich hatte mich verschätzt.

Ein Alptraum. In dem übergelaufenen Güllesee, wo die Gülle mir bis zu den Hüften ging, allein mit einem abgewürgten Motor. Dann hätte ich aussteigen und durch die Gülle waten müssen, um irgendwo Hilfe zu holen. Ein Wunder geschah. Meine Gebete wurden erhört. Die Räder fassten wieder und der Motor ging nicht aus. Mehr Angst als vor der Gülle hatte ich allerdings vor meinem Lehrmeister. Für den wäre das wieder ein gefundene Fressen gewesen.

Uriah Heep
taufte ich unseren neuen Lehrmeister nach dem Fiesling aus dem „Raritätenladen“ von Charles Dickens, nach dem sich auch die gleichnamige Band benannt hat, was mir aber erst klar wurde, als ich das Buch las.
Er war noch jung, gerade von der Uni gekommen und früher selber hier Lehrling gewesen. Vorher hatten wir einen mürrischen Bauern als Lehrmeister gehabt, und wir waren froh über den Wechsel.

Leider hatten wir uns verrechnet. Der Neue war weit schlimmer als sein Vorgänger. Das Gefährliche an ihm war, dass er, im Gegensatz zu dem vor ihm, sehr intelligent war. Besonders auf mich hatte er es abgesehen. Am liebsten wäre ich abgehauen, aber ich musste die Schikanen erdulden, um meine Mutter nicht zu enttäuschen. Die Lehre abzubrechen, wäre keine Option gewesen.

Eines Tages wurde mir ein Traktor zugewiesen, dessen Lenkung kaputt war. Man konnte ihn nur ganz schwer in der Spur halten. „Uriah Heep“ probierte ihn auch aus und konnte angeblich nichts feststellen. So quälte ich mich weiter damit. Später hörte ich von älteren Lehrlingen, dass diese Maschine den Spitznamen „Horrortraktor“ hat und niemand mit ihr fahren wollte. Da sollte wohl ein Unfall provoziert werden.

Viele Lehrmeister, natürlich absolut nicht alle, entsprechen wohl einem bestimmten Typ. Unter ihnen findet man viele, die mit ihrem Leben unzufrieden sind, und ihren Job als Ventil benutzen. Dabei entwickeln sie regelrecht sadistische Züge und können sich in einen grundlosen Hass reinsteigern.

Für einen anderen Lehrmeister war ein Junge aus einem höheren Lehrjahr ein besonderes Hassobjekt, und er wollte ihn unbedingt fertigmachen. Sie hatten sich wohl vorgenommen, auch die allergeringste Spur an Renitenz in uns auszumerzen. Der Lehrling, übrigens ein auffällig attraktiver Typ, war frech und aufmüpfig und ließ sich nichts gefallen, im Gegensatz zu mir. Schließlich ließ er sich, um seinen Lehrmeister zu provozieren, zu einer Dummheit hinreißen und flog von der Schule, ohne Abitur. Er mimmte den Betrunkenen und fuhr mit seinem Traktor in Schlangenlinien über den Acker.

Der Lehrmeister, der einen so merkwürdigen Hass gegen ihn entwickelt hatte, war eigentlich nur ein paar Jahre älter als er und selber hier früher Lehrling gewesen. Da spielten wohl Rivalitäten eine Rolle. Aber die Welt braucht Aufmüpfigkeit, sonst ist das Ying und Yang gestört. Wohin Duckmäuserei und Unterwerfung unter Autoritäten führen kann haben wir von1933 bis 45 erlebt, als die Deutschen die ganze Welt an der Abgrund brachten, was jetzt wohl die Russen wiederholen wollen.

Wir anderen waren ja völlig überangepaßt.
Einmal wurde ich mit zwei von den anderen Mädchen für einen Tag in die Schreinerei geschickt. Der Schreiner, ein junger Mann, der dort allein arbeitete, freute sich, dass ihm ein paar Mädchen Gesellschaft leisteten. Er dachte, er kann uns vertrauen. Das war ein Fehler, wie sich später herausstellte. „Manchmal, wenn gerade keine Arbeit da ist, haue ich mich einfach in der Werkstatt aufs Ohr.“ erzählte er uns Dreien und zeigte uns sein provisorisches Lager, das hinter ein paar Kisten versteckt war.

In der Pause wunderte ich mich darüber, dass die Anderen bleich vor Zorn waren. "Das kann ja wohl nicht wahr sein." sagten sie. In ihren Augen schadete hier jemand der Gesellschaft und nutzte seine Arbeitszeit nicht bis zur letzen Minute aus. Die Beiden wollten zur Leitung des Betriebes gehen und sich über ihn beschweren. Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Das hätte ich ihnen nicht zugetraut. Leute, wir waren 16. Zum Glück haben sie es nicht gemacht.

Übrigens, der Lehrling, der von der Schule geworfen wurde, hing sehr an seinen Klassenkameraden und an dem Internat. Ich habe ihn später noch öfter gesehen, wenn er die Anderen besuchte. Aber es schien mit ihm abwärtszugehen. Er war im Gleisbau gelandet, bei einer rauen Truppe, wo er gar nicht reinpasste. Sein Gesicht wirkte grau und aufgeschwemmt, und er trank wohl zuviel. Langsam ging ihm wohl doch die Muffe, er hatte nicht erwartet, für so ein bißchen rebellisches Gehabe, gleich so hart bestraft zu werden.

Genauso, wie an ihm, hatte sich auch an mir ein Lehrmeister festgebissen und schikanierte mich. Entweder Du knickst ein, oder Du sinnst auf Revolte. Bei mir war es Letzteres. Mir blieb aber auch gar nicht anderes übrig. Aus einem übermotivierten Lehrlingsmädchen wurde das genaue Gegenteil, und ich wurde völlig demoralisiert und desillusioniert.

Ein Ausweg, den ständigen Schikanen zu entgehen, war, sich krankschreiben zu lassen. Normalerweise schrieb die Ärztin bei uns keinen Lehrling krank. Warum sie ausgerechnet bei mir eine Ausnahme machte, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.

Jedenfalls half sie mir damit, meine Lehrzeit zu überstehen. Sie war eine zierliche schwarzhaarige Frau Anfang 50, die eine Figur wie eine 17 Jährige hatte und lief immer mit engen, weißen Jeans auf der Dorfstraße rum, hatte einen wesentlich jüngeren Geliebten und war wohl so etwas wie die Dorfintellektuelle.

Weshalb ausgerechnet ich ihr sympathisch war, weiß ich nicht. Irgendwas muss sie in mir gesehen haben. Jedenfalls griff sie jedes Mal, wenn ich mit leidendem Gesicht ins Sprechzimmer trat, immer gleich zu dem Block mit den Krankenscheinen. Mein Lehrmeister schäumte zwar vor Wut, weil er sich schon auf die Gelegenheit gefreut hatte, seinen Frust an mir auszulassen, aber dagegen konnte er auch nichts machen.

Mit uns im Lehrlingswohnheim lebte ein Arbeiter, der von allen Bernie gerufen wurde und der eine leichte geistige Behinderung hatte. Dieser junge Mann, der nicht viel älter war als wir und der keine Eltern mehr hatte, verstand sich mit uns Lehrlingen sehr gut.

Einem Mädchen aus einem Lehrjahr über uns tat er wohl leid, und sie unterhielt sich oft mit ihm. Es kam so, wie es kommen musste. Er verstand das völlig falsch und verliebte sich in sie. Eines Tages stand er vor dem Wohnhaus ihrer Eltern auf Rügen. Sie hat das damals noch gut abgebogen gekriegt, aber im Grunde ihres Herzens hatte sie wohl ein schlechtes Gewissen deswegen und machte sich Vorwürfe. Bei so etwas ist es schwer, den richtigen Abstand zu wahren.

Bevor ich ihn kennengelernt habe, hatte ich schon viel über ihn gehört. Sein Gehöft lag abseits des Dorfes. Ich bin mal mit meinem Traktor daran vorbeigefahren. Der Anblick, der sich mir bot, war sehr ungewöhnlich. Alle Türen und Fenster des Hauses standen weit offen. Hühner, Ziegen, Schafe, Hunde, Enten, Gänse, und ich erinnere mich sogar an einen gezähmten Fuchs, liefen rein und raus. Er, ein Mann in den Vierzigern, saß an einem Tisch vor dem Haus inmitten seiner Tiere. Er war wohl der Doolittle des Dorfes.

Er war der interessanteste Typ, der mir während dieser Zeit in den ganzen Werkstätten, auf den Feldern und in den Ställen, wo wir Futter fuhren, über den Weg lief.
Im Dorf hatte man ihm einen gemeinen Spitznamen angehängt, der auf einem I endete. Ich sah ihn öfter auf dem Wirtschaftshof herumlaufen, wo er Hilfsarbeiten erledigte und in der Hierachie wohl auf der untersten Stufe zu stehen schien. Er galt wohl allgemein als der Dorftrottel.

Meine Mitschülerin Berenice, die hier aufgewachsen ist und genau mit den Verhältnissen im Dorf vertraut war, hatte mir erzählt, dass er früher ein geachteter Facharbeiter gewesen war, der alle Landmaschinen fahren konnte. Er ergab sich dem Alkohol und verlor seine Fahrerlaubnis. Seine Frau verließ ihn. Das Übliche.

Wir beide haben auch mal zusammen gearbeitet. Ich musste mit dem Traktor Rüben hacken, und er saß hinten auf dem Hackgerät und lenkte es mit der Hand.
Ich hatte Schwierigkeiten, die Drillspuren zu finden.
Schon damals konnte ich nicht besonders gut sehen. Wenn man in die falsche Spur erwischte, hackte man die Rübenpflänzchen ab und nicht das Unkraut. "Lass mich mal machen." Er, der ein erfahrener Landwirt war, fuhr meinen Traktor in die richtige Spur rein. Wir beide waren ein gutes Team. Er war sehr hilfsbereit und schien so ganz anders zu sein als die anderen Landarbeiter.

Ich bekam mit, dass er ein sensibler, intelligenter Mann war, sehr introvertiert. Vielleicht passte er in diese Umgebung, an der er aber wahrscheinlich sehr hing, er war ja hier geboren, überhaupt nicht rein. Das war wohl auch der Grund für seine Sucht. Aber die Kraft auszubrechen, fehlte ihm wohl, und er schien sich abgefunden zu haben mit seinem Leben, obwohl er erst Anfang Vierzig war. Er wußte bestimmt auch, welchen Spitznamen sie ihm angehängt hatten. Das Saufen war seine Art von Rebellion.

Ich werde mit Einladungen zu Klassentreffen nicht verschont. Meine Mutter, die die Einladungen an mich weitergeleitet hat, war immer sehr enttäuscht, dass ich nicht fahren wollte.
Sie interessiert sich brennend für den Werdegang von Leuten, die sie nie gesehen hat, die ich aber zu Hause erwähnt habe. Ständig fragt sie mich, was aus Berenice Langenhagen geworden ist. Dabei kennt sie sie gar nicht und hat sich bloß ihren exotischen Vornamen gemerkt.

Berenice und ich arbeiteten im ersten Lehrjahr mal beide mit unseren Traktoren auf einem einsamen Acker. Was wir dort eigentlich gemacht haben, weiß ich heute auch nicht mehr. Wir waren schnell mit der Arbeit fertig und saßen noch bis zum Feierabend zusammen am Feldrain. Bis zu diesem Tag waren wir nur oberflächlich miteinander bekannt.

"Du kennst doch Paul aus dem Dritten?" fragte sie mich. Ich hörte zu meinem Erstaunen, dass sie, die im Ort beheimatet war, mal mit dem beliebtesten Jungen an unserer Schule zusammen gewesen ist. Damals war sie aber erst 15 und noch gar kein Lehrling. Berenice und er hatten sich kennengelernt, als sie ihrem Vater, einem Traktoristen, mit dem Moped das Essen aufs Feld brachte. Er, der damals noch im ersten Lehrjahr war, fuhr dort in der Ernte zusammen mit ihrem Vater Stroh.

Er, der von allen Paul oder auch liebevoll Paulchen gerufen wurde, er kam aus Paulsdorf, einer kleinen Ortschaft hier in der Nähe, wo sein Vater den Agrarbetrieb leitete, war ein großer, schlanker anziehender Bursche, der immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen hatte. Alle mochten ihn, sogar die Küchenfrauen bekamen glänzende Augen, und die Lehrmeister, die eigentlich nicht allzu nett waren, hatten einen zärtlichen Ausdruck im Gesicht, wenn sie von ihm sprachen.

Einmal hatte ich mich auf einem einsamen Waldweg festgefahren, als er zufällig vorbeikam. Zum Glück hatte er ein Abschleppseil dabei. "Kein Problem." Lachend koppelte er seine Zugmaschine ab und zog mich aus dem Morast.
Hinterher half ich ihm noch seinen Hänger wiederanzukuppeln. Ich hielt die Wagendeichsel hoch, bis sie in die Anhängerkupplung von seinem Traktor einrastete. Das Stehen zwischen Zugmaschine und Anhänger war streng verboten, aber wir behalfen uns alle damit, da die Federn, die die Wagendeichseln hoch halten sollten, fast immer kaputt waren.

Mir war dabei jedesmal mulmig zumute, aber bei ihm musste ich mir keine Sorgen machen. Er war ein geübter Fahrer und konnte mit verbundenen Augen rückwärtsfahren und ankuppeln. Natürlich erzählte er auch niemandem von den Lehrmeistern von meinem Pech. Gegen die Lehrmeister hielten wir zusammen. Nur, als ich abends in der Kantine am Tisch von seiner Clique vorbeiging, fing ich ein paar scherzhafte Bemerkungen auf. Damit konnte ich leben.

Er war schon im dritten Lehrjahr und stand in den Pausen immer mit einem schönen blonden Mädchen zusammen, das immer schwangerer wurde. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, dass Berenice mal seine Freundin gewesen war, denn ich hatte die beiden noch nie zusammen reden sehen. Warum erzählte sie mir das? Eigentlich standen wir beide uns nicht besonders nahe.

Heute denke ich manchmal, dass sie, die seit langem einen Freund hatte, irgendwie rüberbringen wollte, dass sie ihre Zeit mit dem Anderen nicht vergessen konnte und wollte, und dass es die große Liebe war. Ich glaube, er war der gewesen, mit dem sie sich ihre Zukunft vorgestellt hat.
Ein vernünftiges Mädchen, wie sie, ging zur Tagesordnung über und machte ihren Eltern keinen Kummer.

Aber die immer gutgelaunte, praktisch veranlagte Berenice hatte ein geheimes Leben, von dem niemand etwas ahnte. In ihrem tiefsten Innern hatte sie Nächte am See, Mopedfahrten über abgeerntete Felder, bei denen er auf dem Rücksitz saß und sich an sie klammerte und ebenfalls, wie schlecht es ihr ging, als ihr Leute aus seiner Klasse erzählten, dass er sich in die Andere verliebt hat, versiegelt und merkwürdigerweise ausgerechnet mir davon erzählt.

Sie, die mit 16 schon eine richtige Frau war, hatte aus irgendeinem Grunde beschlossen, mich, die in diesen Dingen völlig unerfahren war, ins Vertrauen zu ziehen. Vielleicht gerade deshalb. Einmal zeigte sie mir ein Foto, das bei uns in der Schule an der Wand hing. Man sah darauf ein paar Lehrlinge in Arbeitskleidung.

"Weist du, wer das ist?" Berenice wies auf ein, etwas molliges, dunkelhaariges Mädchen mit kurzen Haaren. So sah seine Freundin früher mal aus. Ich hätte sie nicht erkannt, denn sie hatte sich sehr verändert. Sie war viel hübscher geworden. Aber auf diesem Bild sprang mir auch die große Ähnlichkeit zwischen den beiden Mädchen ins Auge. "War Berenice für ihn vielleicht nur ein Ersatz für die Andere gewesen, in die er schon lange verliebt war?", fragte ich mich.

Ein Mädchen im Lehrlingswohnheim, ein Zimmer weiter, hatte einmal, wegen eines Jungens aus ihrer Klasse, den ich auch gut kannte und dem man nicht zugetraut haben würde, das sich eine wegen ihm umbringt, 50 Faustan geschluckt. Man pumpte ihr den Magen aus, und sie kam zurück an die Schule. Aber mit ihrer Fröhlichkeit und Unbekümmertheit war es vorbei.

Im Sanikurs, den wir wegen der Fahrschule machen mussten, erzählte uns die Heimleiterin, die ausgebildete Sanitäterin war, von einem anderen Lehrlingsmädchen, bei dem der Selbstmordversuch nicht so gut ausging. Sie, die vor ihrem Freund, auch ein Lehrling, verlassen wurde, wartete an der Landstraße hinter einem Baum, bis ein Auto kam. Der arme Fahrer konnte nichts mehr tun.

Unsere Heimleiterin wurde gerufen, und es gelang ihr, das Herz des Mädchens wieder zum Schlagen zu bringen. Leider verstarb sie auf dem Wege ins Krankenhaus.

Eigentlich war das Lehrlingswohnheim ja so etwas wie ein Heiratsmarkt und viele haben hier ihren Partner fürs Leben gefunden. Aber das konnte auch ins Auge gehen. Wenn so etwas nämlich auseinanderging, konnte man sich nicht ausweichen bei nur 150 Lehrlingen.

Das Mädchen im Zimmer neben mir und der, die sich vors Auto geworfen hat, wird es genauso ergangen sein, sah praktisch ihren ehemaligen Freund und seine neue Freundin überall: in der Schule, im Essensraum, auf dem Flur vom Internat, während der Praxis. Das war ein klaustrophobischer Zustand, der irgendwann zur Katastrophe führen musste.

Die Anderen fuhren am Wochenende immer mit zu den Eltern von ihren Freunden bzw. Freundinnen. Dann mussten die jüngeren Geschwister das Kinderzimmer räumen und auf der Couch schlafen, bzw. sie mussten mit ihrem Freund im Wohnzimmer schlafen. Dabei kam auch öfter mal einer von der Familie zufällig rein, was immer ein bisschen komisch war. Wenn es der kleine Bruder war, wurde er vorzeitig aufgeklärt.

Der Gedanke, bei fremden Leuten zu übernachten und morgens mit ihnen am Frühstückstisch zu sitzen, war mir irgendwie suspekt. Dagegen den Anderen gefiel gerade diese familiäre Eingebundenheit, und sie besuchten eifrig Familienfeste wie Hochzeiten, Jugendweihen und runde Geburtstage von ihren Schwiegereltern.

Die, die sich vor das Auto geworfen hat, und von der wir gleich in der ersten Woche gehört hatten, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich musste auch oft an der Stelle an der Landstraße, an der sie hinter den Straßenbäumen auf das Auto gewartet hat, mit dem Traktor vorbeifahren.

Einmal kamen wir hier in Berlin in eine gespenstische Szene rein. Es war gerade passiert. Ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren lag unbeweglich auf der Straße, war aber äußerlich völlig unversehrt. Zwei junge Asiaten, die so alt waren wie sie, saßen schreckensstarr in einem offenen roten Cabriolet. Ein Passant rief gerade mit dem Handy Hilfe.

Durch den Aufprall hatte das Auto ein großes Stück Mauer aus dem Eckhaus herausgebrochen. Das wurde jahrelang nicht repariert. Immer wenn ich dort vorbeifuhr, sah ich wieder das blonde Mädchen und das feuerrote Cabriolet mit den beiden jungen Asiaten. Erst später ist mir klargeworden, dass sie sich wahrscheinlich vor das Auto geworfen hat, wohl wegen einem Mann. Jugendliche haben eigentlich gute Reaktionen. Aber ich weiß es natürlich nicht. So ähnlich muss es sich damals an der baumbestandenen Landstraße auch zugetragen haben.

Aber viele Liebesgeschichten von den anderen Mädchen, die alle sehr offen und mitteilsam waren, warum sollten sie auch damit hinter den Berg halten, es wertete einen ja schließlich auf, wenn ein Junge mit einem ernste Absichten hatte, gingen auch ganz gut aus. Letzens habe ich mal im Internet was über ein Pärchen aus meiner Lehrzeit gefunden. Die beiden, die immer Hand in Hand durchs Internat liefen, sind ein bisschen älter als ich und immer noch zusammen.

Einmal saß im Vorraum von dem Mehrzweckgebäude, wo wir mittags immer aßen, eine Gruppe ehemaliger Lehrlinge, die wohl abends dort ein Klassentreffen hatten. Sie waren so Mitte Zwanzig. Eine junge Frau, die schwanger war, hielt sich an der Lehne von einem Sessel fest, in dem wohl ihr Mann saß.

Ich wunderte mich, dass er ihr nicht seinen Platz anbot. Er, ein kleiner, untersetzter Mann, der sehr eingebildet wirkte, fuhr seiner Frau ständig über den Mund. Das ging immer so: "Davon hast Du keine Ahnung. Da kannst Du gar nicht mitreden. Halt lieber den Mund. " usw. Sie schämte sich, und die Anderen sahen sich peinlich berührt an. Aber sie kannten das Pärchen schon aus ihrer Lehrlingszeit.
Sie war eine bildhübsche Frau, und ich verstand nicht, warum sie sich das gefallen ließ. Am meisten tat mir ihr Kind leid.

Wenn ich nur an so ein Klassentreffen denke, beginne ich in Gedanken ja schon zu lügen. Was soll das erst werden, wenn ich wirklich da aufkreuze? Vor etlichen Jahren ist mir mal jemand aus meiner ehemaligen Klasse über den Weg gelaufen. Ich konnte ihm nicht mehr ausweichen. Es war auf einem Konzert im Treptower Park. Ich erblickte ihn in dem Gedränge am Eingang, und mir fuhr der Schreck in die Glieder. Ich kannte ihn ganz genau, denn wir hatten uns ja drei Jahre lang tagtäglich gesehen. Daher wusste ich, dass er arrogant und hochnäsig war. Er hatte mich wohl nicht bemerkt.

Der Kelch schien noch mal an mir vorbeigegangen zu sein. Da fühlte ich, wie mir jemand auf die Schulter tippte. Er war es. Er war unerbittlich, obwohl er genau spürte, dass ich, die gerade in Schwierigkeiten steckte, was er wohl gehört hatte, nicht von ihm ausgefragt werden wollte. "Und, wie geht es dir so?" fragte er mich.
Den Höfflichkeitsregeln folgend, kam ich ich nicht drumherum, mit ihm ein Gespräch zu beginnen und ihm seine Fragen zu beantworten.
Ihm selber ging es sehr gut. Er war gerade zum zweiten Mal Vater geworden und machte wohl bald seinen Doktor.
Jetzt aber passierte etwas Merkwürdiges. Als wir da zusammen eingekeilt, inmitten der Konzertbesucher, standen, tauchten, ausgelöst durch seinen vertrauten Anblick, vor mir Bilder aus unserer gemeinsamen Lehrlingszeit auf.
Ich denke, genau nach diesem Nostalgiegefühl suchen immer alle, die es zu Klassentreffen zieht.
Plötzlich war ich wieder 16, Ich sah uns Lehrlinge auf dem Acker zusammen arbeiten, auch er mit dabei, damals übrigens ein witziger, schlagfertiger Typ mit Parka und wehenden Locken. Hochnäsigkeit und Arroganz waren zu der Zeit nur ein Teil von ihm. Vielleicht war es Quatsch gewesen, dass ich mich vor ihm verstecken wollte. Vielleicht hatte er sich ja geändert. Er war ja jetzt ein glücklicher, junger Familienvater.

Warum hat man mit negativen Befürchtungen oft recht? Als er von mir erfahren hatte, was er auf dem nächsten Klassentreffen zum Besten geben konnte, machte er einfach auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menschenmenge. Ich blieb verdutzt stehen. Das war eindeutig eine Demütigung. An den anerzogenen Höflichkeitsquatsch, an den ich glaubte, mich halten zu müssen, hielt er sich ganz und gar nicht. Ich hatte mich nicht in ihm geirrt.
Er war in den Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, sogar noch eingebildeter geworden. Mit Schulzeitromantik hat es sich für mich seitdem ein für allemal erledigt. Davon will ich niemals wieder etwas hören.

Das Konzert war auch nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber ich war noch nie vorher mit so vielen Leuten auf einem Konzert. Der kleine, wuschelköpfige Jude, der mit seiner Musik die ganze Welt verzaubert hatte, hatte heute Abend keine Lust und machte sich nichts daraus, dass wir schon seit Ewigkeiten sehnsüchtig auf ihn warteten.

Nachdenklich „The answer, my friend, is blowin' in the wind
The answer is blowin' in the wind“ vor mich hinsummend, ging ich inmitten von Zehntausenden, die auch irgendwie entschäuscht wirkten, durch den nächtlichen Treptower Park nach Hause.

 

Moin,

Frieda,

ich fühl und merke, Du musst auch in dem Text hier Deine „Selberlensbeschreibung“ [so nannte Jean Paul seine biographischen Aufzeichnungen] fortsetzen – und das ist okay, wie ich finde, darum ganz kurz, dass ich kein Abi habe und doch als Real-/Mittelschüler zu zwei akademischen Abschlüssen bringen konnte, aber auch zwei Ausbildungsberufe zuvor durchmachte und einen Facharbeiterbrief und den Kaufmannsgehilfenbrief mein eigen nennen darf (in meinem Alter schmelzen solche Belege zu dem was sie sind, Papier, mit dem man sich nicht mal ggfs. bei Engpässen in der Klopapierversorgung den Hintern abwischen kann). Aber selbst wenn das Etikett der Kurzgeschichte nicht voll greifen wird – das Damoklesschwert droht hoffentlich nur – taugt jeder Text, was daraus zu lernen. Und das ziehn wir jetzt durch (sicherheitshalber mein Rat: Kopieren! Und einstweilen verwahren, bis auch der letzte Groschen fällt … denn zu reparieren gibt es einiges:

Seufzend koppelte er seinen Hänger ab, der mit Stroh beladen warKOMMA und fuhr mit dem Traktor rückwärts über die Bahnschienen.
Das „und“ setzt nicht den Relativsatz („der mit …“), sondern den Hauptsatz fort

„Wenn ich jemals behaupte, dass das die beste Zeit meines Lebens war, dann sagt mir, dass es soweit ist, dass ich mich erschieße.“
zusammengeschrieben ist „soweit“ eine Konjunktion (wie zuvor das „und“), als unbestimmtes zeitl./örtl. Adverb wie hier immer auseinander, soweit ich weiß

„Das war die schönste Zeit meines Lebens.“ anwortet sie mir auf meine Mail.
„… meines Lebens“, antwortet sie …
ist das tatsächlich eine aktuelle "Mail"?

„On the road again“.
Besser „… again.“

Aber als Lehrling mit Abitur galt man ja als privilegiert, und es wurde von einem erwartet, dass man sich nicht beklagte.
Ja, nix falsch, aber das ist ein seltsames Eingeständnis der Rechtschreibreformatoren, die HIER DAS Komma trotz des „und“s zulassen, um den Hauptsatzcharakter zu bekräftigen …

Einen Hoffnungschimmer gab es in dem Elend. Um vierzehn Uhr fing das Jugendradio aus der Nalepastraße an zu senden.
Fugen-s beim Hoffnungsschimmer nicht vergessen

Aber: „In der Not frißt der Teufel Fliegen.“
Hier haben die Rechtschreibreformatoren eine sinnvolle Änderung eingeführt, obwohl ursprünglich eine Debatte übers „ß“, das es nur im den deutschsprachigen Alphabet gibt, zu seiner Abschaffung gab: Es unterscheidet lange, betonte Silben von kurzen, was sich am Unterschied von „Fuß“ und „Fluss“ am deutlichsten zeigt.

Da musstu auf jeden Fall aufpassen, denn die „alte“ Schreibung dominiert bei Dear – hier das nächste Mal

Am widerwilligsten stieg ich aus dem Zug, wenn ich wußte, dass wir Montags keine Schule sondern Praxis hatten.
(Dass Du die Änderung mitbekommen hast, zeigt ja das „dass“ ...
am besten Suchfunktion nutzen und "ß" eingeben

Sie sahen hier eine gute GelegenheitKOMMA ihren Frust an den Lehrlingen auszulassen.
Bzgl. der Kommaregeln empfehl ich i. d. R. https://www.duden.de/sprachwissen/rechtschreibregeln/komma
so lange als die Dudenredaktion die Sammlung aufrechterhält -
und glaube keiner, dass die Rechtsschreibreform vorbei sei! Kann auch gar nicht bei einer lebendigen Sprache – wobei auch einiges verschwinden wird mangels einschlafenden Gebrauchs

Aber viele der Lehrlinge fuhren schon nach kurzer Zeit mit dem Traktor durch die Gegend, als wenn sie das schon jahrelang gemacht hättenKOMMA und arrangierten sich mit zerrissenen Abschleppseilen, fehlenden Handbremsen und den mißmutigen Lehrmeistern.
(das Geschwärzte ohne Kommentar ist zuvor schon erklärt)

Er mimmte den Betrunkenen und fuhr mit seinem Traktor in Schlangenlinien über den Acker.
„mimen“, abgeleitet vom „Mimen“

Wohin Duckmäuserei und Unterwerfung unter Autoritäten führen kannKOMMA haben wir von1933 bis 45 erlebt, als die Deutschen die ganze Welt an der Abgrund brachten, was jetzt wohl die Russen wiederholen wollen.
Irgendwie wiederholt sich einiges - das Putin ein Machtmensch ist, war allerdings vordem schon bekannt. Das überraschende ist für mich der Patriarch, der da irgendwie die Lehre seines Clubgründers missverstanden haben muss

Wir anderen waren ja völlig überangepaßt.
doppel-s

„Manchmal, wenn gerade keine Arbeit da ist, haue ich mich einfach in der Werkstatt aufs Ohr.“ erzählte er uns … aufs Ohr.“
… aufs Ohr“, erzählte er uns

Hier folgt – m. E. - der erste Flüchtigkeitsfehler

In ihren Augen schadete hier jemand der Gesellschaft und nutzte seine Arbeitszeit nicht bis zur letzen Minute aus.
Kommstu selbst beim Lesen drauf ...

Sein Gesicht wirkte grau und aufgeschwemmt, und er trank wohl zuviel.
Bestenfalls als Substantiv „[das/ein] Zuviel“, ansonsten immer auseinander

Sie war eine zierlicheKOMMA schwarzhaarige Frau Anfang 50, die eine Figur wie eine 17 Jährige hatteKOMMA und lief immer mit engen, weißen Jeans auf der Dorfstraße rum, hatte einen wesentlich jüngeren Geliebten und war wohl so etwas wie die Dorfintellektuelle.

An sich hat das mit den Kommaregeln bei Infinitivsätzen durchaus geklappt, warum hier nicht
Hinterher half ich ihm nochKOMMA seinen Hänger wiederanzukuppeln.
k. A. Konzentration vllt. weg – dagegen hilft dann nur, liegen lassen, später nochmals durchsehen, selbst wenn es einen drängt, seine Geschichte einem möglichen Publikum vorzustellen

Ich glaube, er war der gewesen, mit dem sie sich ihre Zukunft vorgestellt hat.
Hier – an diesem einfachen Satz will ich mal auf die gelegentliche Abweichung von der Zeiteinheit – „glauben – war gewesen – vorgestellt haben“

hinweisen, indem das „war gewesen“ um eine Zeitspanne zurückgesetzt wird ins „ist gewesen“

Ein junges Mädchen mit langenKOMMA blonden Haaren lag unbeweglich auf der Straße, …

da ahnstu, wo hier das Komma hingehört:
Zwei junge Asiaten, die so alt waren wie sie, saßen schreckensstarr in einem offenen roten Cabriolet.

..., warum sollten sie auch damit hinter en Berg halten, …

und dann widerfährt Dear ein SuperGaU der schreibenden ZUnft

Das war wohl dieses Nostalgiegefühl, dass alle, die zu Klassentreffen fahren, immer suchen.
Kommstu selber drauf – et hätt ja bis getz jut jegangen

Als er mich wohl genug ausgefragt hatte und erfahren hatte, was er auf …
hier lässt sich durch die additive Wirkung des „und“ das erste „hatte“ einsparen

Wie dem auch sei, Dylan hab ich einmal erlebt (wahrscheinlich angetrunken - im Gegensatz zu Donovan - dem "schottischen Dylan", mit dem man ein Bierchen trinken konnte) hier mal auf meine Weise rezensiert (https://www.wortkrieger.de/threads/portrait-of-the-artist-as-an-old-man.47797/)

Wird schon werden, meint der

Friedel

 

Hallo Morphin, hallo Frieder,

da habe ich ja recht behalten. Ich hatte mir schon überlegt, wer diesen, ja nicht gerade kurzen Text, liest. Ich habe auf ehemalige Lehrlinge, so wie Ihr und ich und Leute, die gerade mitten in ihrer Lehrzeit drin stecken, getippt.

Übrigens Frieder, auch viele, ganz berühmte, Schriftsteller schreiben immer nur über sich selber. Um wen geht es wohl in der „Glasglocke“ von Sylvia Plath und im „Wendekreis des Steinbocks“? Ich, Ich, Ich. Sachen, die ich selbst erlebt habe, kann ich glaubwürdiger rüberbringen.

Mir geht es auch so, dass ich Texte, in denen ich mich wieder gespiegelt sehe, immer sofort lese.

Mein Lehrbetrieb war eine LPG in Mecklenburg/Vorpommern, in der Nähe von Stralsund, also in der DDR. Dann haben wir unsere Lehrzeit ja in verschiedenen Gesellschaftssystemen absolviert.

Ihr habt recht, in der Geschichte wird nicht geredet. Das kommt deshalb, weil ich mich absolut nicht mehr entsinnen kann, wie wir als Sechzehnjährige miteinander kommuniziert haben, denn Sechzehn bin ich schon lange nicht mehr.

Der letzte Teil hängt etwas. Das weiß ich. Ich warte noch auf eine zündende Idee. Dann schreibe ich ihn um. Momentan habe ich keine Lust, bei dem Wetter. Die Kommafehler korrigiere ich später. Ich habe ein Rechtschreibprogramm, aber die Vorschläge, die mir dort gemacht werden, sind mir oft suspekt. Die alte Rechtschreibung liegt mir besser. Mit den ss und ß Regeln, nach der Neuen, komme ich nicht richtig klar.

Ich hatte auch schon überlegt, ob ich die Liebesgeschichten, die alle so stattgefunden haben, rausnehme. Aber wenn man über Jugendliche schreibt, kann man Liebe und Sexualität nicht ausklammern. Das wäre unreal. Das war damals, jedenfalls unter uns Mädchen, das Thema Nummer 1. Die Jungen haben das vielleicht entspannter gesehen, denn von ihnen musste niemandem, wegen einer unglücklichen Liebe, der Magen ausgepumpt werden.

Gruß Frieda

 

Sechzehn bin ich schon lange nicht mehr.

das weiß ich,

liebe Frieda,

wenn ich die Erzählungen als Selberlebensbeschreibung definier, denn der Mauerfall ist auch schon mehr als ein Generation her wie auch die kapitalismuseigene "Eingemeindung" (und die Vorgeschichte hab ich zum großen Teil aus niederländischem Abstand - konkret auf Ameland - am Fernsehgerät verfolgt.)
Es ist kein Makel, aus dem eigenen Leben zu erzählen.

Der "Grüne Heinrich", (den ich hierorts "rezensiert" hab), ist unbestritten Weltliteratur, und doch nix anderes als eine literarisch gestaltete (Auto-)Biographie des Nationaldichters der Schweiz, Gottfried Keller, wiewohl mancher wegen des Wilhelm Tells den ollen Schiller dafür halten mag.

Wie dem auch sei, schönes Wochenende wünscht aus`m Pott der

Friedel

 

Hallo Frieder,

vielleicht ist es besser, dass ich nicht mehr 16 bin. Dann würde ich jetzt nämlich im Güllesee feststecken und müsste zu der Milchviehanlage waten und hoffen, dass es dort einen freien Traktor und einen Fahrer, der Zeit hat, gibt und sie mich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus der Scheiße ziehen. Nach zwei Stunden würde ich durchnässt und stinkend auf dem Feld ankommen und mein Lehrmeister würde mich fertigmachen. Und dann wird auf Klassentreffen auch noch von einem erwartet, dass man das als seine beste Zeit bezeichnet.


Frieda

 

da habe ich ja recht behalten. Ich hatte mir schon überlegt, wer diesen, ja nicht gerade kurzen Text, liest. Ich habe auf ehemalige Lehrlinge, so wie Ihr und ich und Leute, die gerade mitten in ihrer Lehrzeit drin stecken, getippt.
Hallo @Frieda Kreuz
nein, hast du nicht. Ich habe keine Lehre gemacht und doch deinen Text zuende gelesen. Zu Kommentieren hatte ich eigentlich nichts, weil Friedrichard und Morphin schon das mir Wichtigste angemerkt haben. Ich schreib's aber gern noch einmal in meinen eigenen Worten.

Die Lehrzeit, die du beschreibst, ist sehr interessant, für mich zumindest, bestimmt auch für viele andere. Der Mangel an Struktur erschwert das Lesen des Textes. Wenn ich es richtig verstehe, geht es darum, dass eine Frau , die ihre Lehrzeit in schlechter Erinnerung hat, nach einem kurzen Kontakt mit jemand, der die Lehrzeit in guter Erinnerung hat, alles Schlechte aus der Lehrzeit in sich auflistet, um den Beweis zu führen, dass sie (die Protagonistin) recht hat. Überhaupt scheint recht zu haben, oder genauer: recht GEHABT zu haben, im Universum deiner Protagonistin einen ungeheuren Stellenwert zu haben. Das wirkt natürlich leicht besserwisserisch. Für mich sind die Kommentare innerhalb des Textes (ich nehme an, es sind Kommentare der Protagonistin, es könnte sich aber auch um Kommentare des Autoren/ der Autorin handeln) eher Störgeräusche, die sich mir als Leserin in dem Moment in den Weg stellen, in dem ich mir mein eigenes Bild von dem Geschehen mache. Daher fühle ich mich obendrein bevormundet. (z.B.

Warum hat man mit negativen Befürchtungen meist immer recht?
zumal "meist immer" verwirrend ist. Meist oder immer?)

Natürlich gibt es viele Arten, Biographisches in Literatur umzuwandeln. Ich persönlich bin ein großer Fan von Morphins "Heinrich"-Texten. Seine Gabe (man kann es, Neid hin oder her, nicht anders nennen) sich Menschen und ihre Tonfälle zu merken, macht es ihm natürlich leichter, viele gute Figuren in seinen Texten unterzubringen. Seine andere Fähigkeit, nämlich aus dem Erlebten genau das herauszugreifen, was eine bestimmte Situation oder eine Bestimmte Entscheidung ausmacht, und es so zu gestalten, dass es auch für den Leser auf den Punkt gebracht wird - das lässt sich lernen. Hatte er vermutlich auch nicht von der Wiege an zur Hand (nix für ungut, Morphin).
Insofern, bitteschön schön weitermachen und dem Leser etwas mehr vertrauen (vielleicht hat er ja auch mal recht (gehabt)).

Viele Grüße und ein schönes Wochenende
Placidus

 

Nach zwei Stunden würde ich durchnässt und stinkend auf dem Feld ankommen
Das kann einem auch im Labor passieren - manche Gerüche wirstu einfach nicht los und einen Tag unter der Dusche verbringen ist auch nicht so dolle ... und immer ins Freibad wird auf Dauere langweilig ...

Tschüss & ein schönes Wochenende!, auch an @Placidus
aus`m Pott vom

Friedel

 

Hallo Placidus,
es war umgekehrt. Ich hatte den Text schon fix und fertig, als ich auf die Idee kam, im Internet nach meiner ehemaligen Berufsschule zu suchen. Ich stieß auf einen Artikel von einem ehemaligen Lehrling. Ihr Artikel ist aber schon von 2013.

Vieles, was sie schrieb, erinnerte mich an meine eigene Zeit an dieser Schule wie: durchgescheuerte Abschleppseile, vergebliche Versuche, für deinen Traktor, der Kühlwasser verliert, auf dem Acker Wasser zu beschaffen usw. Sie schreibt auch, dass sie manchmal den Wunsch hatte, alles hinzuwerfen.

Ich habe daraufhin gedacht: "Vielleicht interessiert sie mein Text ja?" obwohl ich eigentlich Befürchtungen hatte und mir schon dachte, dass das schiefgehen kann. Aber neun Jahre, von 2013 bis heute, sind eine lange Zeit, da verklärt die Erinnerung wohl einiges. Meine Bedenken waren richtig. Der erste Satz, der mir in ihrer Antwortmail, irgendwie vorwurfsvoll, entgegensprang, war dann auch gleich: "Das war die schönste Zeit meines Lebens." Sie hat wohl jetzt alle negativen Erinnerungen an ihre Lehrlingszeit beiseitegeschoben. Sie, die damals ein junges Mädchen war, will nur noch das Positive daran sehen.

Den Mangel an Struktur in diesem Text habe ich so gewollt. Die Fantasie der Leser soll herausgefordert werden. Wenn ich stringent von Anfang an erzähle, würde das hier wirklich noch etwas wie "Der grüne Heinrich". Entschuldigung Frieder. Bei dem Hörbuch bin ich leider schon ein paarmal eingeschlafen, aber ich finde "Romeo und Julia auf dem Land" gut und auch "Kleider machen Leute". Die Schriftsteller damals hatten eine ganz andere Erzählweise und haben meist noch eine richtige Story mit Liebesgeschichte erzählt. Entweder hat das Pärchen sich gekriegt, oder sie mussten sich in den Fluss stürzen.
Gruß Frieda

 

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