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Tragisches Ereignis an einem 16. Oktober
Mit einem dumpfen Klatschen war die purpurfarbene Eiskugel auf die hellgrauen, durch die ungewohnt hohen Temperaturen der Herbstsonne aufgeheizten Gehwegplatten aufgeschlagen, behielt nur kurz ihre Gestalt, begann zu schmelzen und löste sich in einen dunkelroten, zäh strömenden, intensiv nach Heidelbeere duftenden Bachlauf auf. Ein unachtsamer Augenblick des Abgelenkt-Seins und der Unaufmerksamkeit oder vielmehr der Aufmerksamkeitsablenkung auf etwas, irgend etwas anderes, dass den kindlichen Blick gebannt und fortgezogen hatte von der haltenden Hand, hatte ausgereicht, das Drama einzuleiten. Eine Drehung des Arms aus kindlichem Übermut oder Albernheit oder beidem oder bloß aus dem Nichts heraus, hatte genügt. Alle Freude war aus dem Gesicht des Jungen gewichen. Mit großen, ungläubigen Augen haftete sein Blick lange auf der Hand, mit der er noch die leere, mit einem Mal so nutzlose und gänzlich überflüssige Eiswaffel hielt. Mit leicht geöffnetem Mund, dem sämtliche Spannung entrissen schien und der in grenzenloser Fassungslosigkeit in den Winkeln zu Beben begann. Die weit aufgerissenen Augen wanderten ungläubig von der leeren Waffel zu dem zerschmolzenen Klumpen am Boden und begannen sich mit Tränen zu füllen. Da war mit einem Schlag sämtliche Freude vernichtet. Da war mehr, als bloß eine geplante sommerliche Erfrischung versagt geblieben. Jedoch - das ist überaus bemerkenswert - es folgte kein hemmungsloser Ausbruch hysterischer Trauer. Nein, nicht einmal ein Fluch oder ein verzweifeltes Drohen mit der ohnmächtigen Faust gen Himmel oder Sonstiges. Nichts. Allein dieser Blick. Unsicher, fassungslos, überrumpelt und mit einem tiefen Empfinden und einem kindlichen Erwachen der Erkenntnis um die Ungerechtigkeit des Lebens, die sich auch in diesem Ereignis auszudrücken schien. Danach – es mochten etwa fünf Minuten vergangen sein - drehte sich der Junge plötzlich um, direkt auf dem Hacken, beinahe abrupt, als hätte er an diesem Ort etwas abzuschließen und bewegte sich mit schnellen Schritten die Straße hinunter. Fast schien er in Eile und doch waren es kürzere Schritte, als er wohl hätte machen können. Schnelle aber kurze Schritte. Ganz aufrecht ging er. Seltsam stolz. Das widersprach doch dem Geschehenen. Die Eiswaffel noch in der Hand und jetzt, vom Schock noch ganz konzentriert, sie in ganz penibel aufrechter Position haltend, ganz so, als dürfte eine zweite, imaginäre Heidelbeerkugel nicht diesen Hort verlassen, müsse geschützt sein, besser beschützt werden. Eine unsinnig kindliche Reaktion, wie ich fand. Jedoch, vielleicht fehlte mir einfach die notwendige Perspektive und ein angemessener Blickwinkel für die tiefe Ergriffenheit dieser enttäuschten Seele. Da war dieser Abstand zwischen mir hier und dem da. Das fühlte sich schon eher wie die Wahrnehmung von Not und Elend im Fernsehen an. Ganz stumpf und dumpf und sicherlich nicht mich betreffend. Ich lehnte mich wieder zurück und blickte etwas ratlos zu Britta. Auch sie war Zeugin des dramatischen Schauspiels geworden.
„Das ist doch unlogisch!“ sagte Britta „Hätte er sich doch ein neues Eis kaufen können.“. Ich zog die Schultern kurz hoch „Vielleicht hat er ja kein Geld mehr.“ „Meinst du?“ „Ich weiß es doch nicht.“ sagte ich. Ich wusste es wirklich nicht. „Dann muss er besser aufpassen!“ sagte sie energisch und rührte so heftig ihren Capuccino um, dass der Milchschaum in breiten Bahnen über den Rand der dickwandigen hellgrünen Tasse lief „Wenn man kein Geld für eine zweite Kugel hat, dann muss man eben auf die erste besser aufpassen.“ sie blickte mich lächelnd an „Das ist doch so im Leben, oder? Im Leben ist das doch so!“ Ihr Lächeln konnte so etwas unendlich Gequältes haben, dass es mich mitunter erschauern ließ. Ich legte meine Hand auf die ihre „Er wird sicher etwas aus der Sache gelernt haben und es das nächste Mal besser machen.“ sagte ich beschwichtigend. „Aber warum hat denn dieser Mensch kein Geld für eine zweite Kugel?“ fragte sie und sah mich dabei ehrlich fragend an „Es ist ein Kind“ sagte ich hilflos „da kann das vorkommen. Was weiß ich. Vielleicht hat er irgendwo Rasenmähen müssen für das Geld oder er hat darauf gespart. Ich denke, das wird es sein. Der arme Junge hat sich die Hälfte des Geldes zu Weihnachten schenken lassen und dann zehn Monate gespart, um sich heute, am dreizehnten Oktober eine Kugel Eis kaufen zu können.“ Ich blickte Britta triumphierend an und breitete die Arme aus, um die Einfachheit der ganzen Angelegenheit gestisch zu unterstreichen. Ihr Blick konnte mitunter so unendlich müde wirken. Dies besonders, wenn ich versuchte, ihr eine meiner Welterläuterungsmodelle aufzutischen. „Erstens ist heute ist der sechzehnte Oktober“ murmelte sie ermattet „und außerdem spart zweitens kein Mensch und erst recht kein Kind mehr fast ein ganzes Jahr lang auf siebzig Cent für ein Eis und drittens hätte er, wenn schon, neun Monate und sechzehn Tage auf die siebzig Cent gespart. Das ist vollkommen absurd.“ „Auf fünfunddreißig!“ murmelte ich, fast fest entschlossen, in diesem Punkt nicht zurückzuweichen. „Was?“ Brittas Augen verengten sich zu schmalen, lauernden Schlitzen. „Fünfunddreißig Cent. Die Hälfte hatte er sich ja zu Weihnachten schenken lassen.“ „Ich denke, er hat doch Rasen gemäht.“ sagte sie in einer so typischen wie plötzlichen geistigen Wendungen hin zu meiner humorigen kleinen Geschichte und fuhr fort: „Ist ja vielleicht im Oktober ein bisschen spät, sich von seinem Weihnachtsgeld was zu kaufen. Ich hatte meins schon im Juli weg.“ Ihr Humor hatte mitunter etwas Abgründiges „Wie viel Rasen hat er denn gemäht, hast du da irgendwelche Kurse? Was kriegt man denn für den Quadratmeter heute?“ Ich zuckte abermals die Schultern „Das müssten wir rekonstruieren.“ sagte ich „Er hatte heute siebzig Cent – vorausgesetzt er bekommt keinen Rabatt, wegen Bedürftigkeit oder so - das heißt, er hat jetzt, sagen wir mal, seit April Rasen gemäht. Ich schätze, einmal die Woche für fünf Stunden mit einer Geschwindigkeit von zwei Kilometern pro Stunde und einer Mäherbreite von fünfzig Zentimetern...“ ich lehnte mich ermattet zurück „Dafür brauche ich einen Taschenrechner. Das sind zehn Kilometer, sind zehntausend Meter, eine Million Zentimeter. Sind das eine Million Zentimeter?“ Angestrengt richtete ich meinen Blick in den trübblauen Herbsthimmel „Das jetzt mal fünfzig Zentimeter Breite. Das wären ja fünfzig Millionen Quadratzentimeter. Und das bloß einmal die Woche.“ Anerkennend versuchte ich einen Pfiff durch die Zähne, der jedoch nur ein scharfes Zischen wurde. „Frag ihn doch einfach selber.“ sagte Britta und wies mit dem Kopf an meiner linken Schulter vorbei. Vorsichtig drehte ich den Kopf und tatsächlich, da stand der selbe Junge in einigem Abstand und blickte mit seinen großen Augen in Richtung der Eisdiele. „Der wird doch nicht mal eben auf die Schnelle einige Millionen Quadratzentimeter Rasen gemäht haben!“ stieß ich leise hervor und musste unvermutet und etwas hysterisch kichern. Auch Brittas Mund verzog sich zu einer Art Lächeln „Vielleicht hat er auch Hemden gebügelt oder genäht oder so...!“ breit grinsend ließ sie ihren Oberkörper ein wenig tiefer in die gelblichweiße Kunststoffschale des billigen Stuhles gleiten und blinzelte belustigt in die sinkende Sonne. „Das es zum Herbst hin noch so schön wird...! Fast schon afrikanisches Klima.“ sagte ich beiläufig und machte eine weite Bewegung mit der Hand, durch die ich versuchte auf die letzten drei ausgesprochen schönen und sonnigen Herbsttage zu verweisen. Britta gab ein unbestimmbares, eventuell zustimmendes Brummen von sich. „Allerdings“ fuhr ich träge fort „kühlt es sich nun auch schon langsam wieder ab.“ Ich sah auf die Uhr. Britta hatte die Augen erneut zu schmalen Schlitzen verengt, ein Gesichtsausdruck, der ihr etwas Boshaftes verlieh. Ich war mir jedoch einigermaßen sicher, dass sie allein der Sonne wegen so verkniffen schaute. „Da braucht er sich jetzt auch keins mehr kaufen.“ sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf den Jungen, der immer noch ein wenig unschlüssig abseits des Eiscafes stand. „Deswegen wird er sich auch kein Neues gekauft haben.“ Stimmte ich zu und machte eine halbe Drehung mit dem Kopf, um ebenfalls einen Blick auf den Jungen zu werfen „Hätte er ja schon lange machen können.“ „Wahrscheinlich hat er auf die Schnelle doch keine Arbeit gefunden.“ sagte Britta und setzte satanisch grinsend hinzu: „Der Rasen wächst jetzt ja auch langsamer.“. „Wenn ich es nicht besser wüsste“ murmelte ich „könnte man meinen, der guckt irgendwie hungrig.“ „Was?“ fragte Britta, die meine unsinnige Bemerkung nicht gehört haben konnte, da ich mein Gesicht von ihr abgewandt hatte „Nichts.“ sagte ich.
Sie hatte den Kellner heran gewunken. Wir zahlten. Im Gehen fragte ich sie „Was hast du denn jetzt an Trinkgeld gegeben?“ „Warte.“ sagte sie „Ein Milchkaffee, ein Cappuccino. Macht fünfdreißig, sechs hab ich rausgegeben, macht siebzig Cent Trinkgeld.“ „Das geht ja.“ Sagte ich und ließ es zu, dass sie sich bei mir unterhakte. Es wurde langsam wirklich unangenehm kühl. Ist eben schon Oktober, dachte ich, der sechzehnte, um genau zu sein. Ein wenig liebevoll blickte ich Britta von der Seite an und ein wenig liebevoll blickte sie zurück. „Herzlichen Glückwunsch!“ sagte sie keck, streckte sich etwas und gab mir mit gespitzten Lippen einen Kuss auf die Wange „Wozu? Zum Welternährungstag?“ fragte ich, mit einem Seitenblick und Kopfnicken auf die Überschrift in der Zeitung, die auf einem der Tische lag. „Was?“ fragte Britta und musste lachen „Wir ernähren uns doch schon gesund! Nein, einfach nur dafür, dass du mich hast, du Glückspilz!“. Auch der Junge hatte sich wieder auf den Weg gemacht, der ihn wohl diesmal endgültig nach Hause führte. Wir ließen das Café hinter uns. Britta kicherte belebt und versuchte scherzhaft, mich in Richtung der stark befahrenen Straße zu schupsen.