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Träume
Fast schon hörte ich Anders fluchen. „Diese olle Pappschachtel, zu nichts nutze!“
„Anders, um Gottes willen, nimm den Bus! Wenn Dieter Zeit hat, richtet er dir das schon.“
Ich lächelte. Anders hatte immer schon zwei linke Hände gehabt. Und mit dem alten Trabi hatte er sich nie anfreunden können.
Jetzt standen da Volkswagen und Opel. Und in dem Haus wohnten Leute, die ich nicht kannte.
Mutter und Anders wohnten längst in Berlin. Ich fragte mich, was aus dem alten Dieter geworden war. Ob er noch lebte? Und Louisa …
Meine kleine Louisa. Das idyllische Bild meiner Kindheit löste sich schlagartig auf, plötzlich war da nur noch Schmerz. Nach all den Jahren fühlte er sich fast genau so frisch an wie am Anfang.
„Suchen Sie etwas?“, Eine ältere Frau stand vor mir.
„Nein, nein. Es ist nur, ich habe hier einmal gewohnt.“
Die Frau wirkte nachdenklich. „Ich kenne das. Als ich nach zehn Jahren in Deutschland das erste Mal wieder in der Türkei war, habe ich den Ort nicht mehr wiedererkannt.“
„Denken Sie oft an zu Hause?“
„Wissen Sie, ich bin alt. Und ich habe nie lange an einem Ort gelebt. Zu Hause ist für mich dort, wo die Menschen sind, die mich lieben.“
„Meine Schwester ist hier gestorben.“ Ich weiß nicht, warum ich das erzählte. „Sie war 13.“
Die Frau nickte. Sie sagte nichts mehr, aber ich war dankbar, dass sie da war.
„Weißt du, Mama,“ sagte ich. „Ich glaube, zu Hause ist dort, wo die Menschen sind, die dich lieben.“
„Nanu, du wirst ja gleich philosophisch?“
„Ach Mama.“
Sie war alt geworden. Und die Sorgenfalten waren deutlich in ihrem Gesicht zu sehen. Ich hatte das Gefühl, sie hatte nicht mehr richtig gelacht, seit Louisa …
„Wann musst du wieder weg?“ fragte Anders.
„In drei Tagen.“
„So früh schon?“
„Ich war doch schon so lange hier. Und Yuri und meine kleine Tania warten doch auf mich.“
„Ach, ich würde die kleine Tania so gerne einmal sehen,“ sagte Mutter.
„Komm mich doch mal besuchen.“
Mutter schwieg. Mutter und Anders lebten seit sechs Jahren von Sozialhilfe, beide hatten kurz nach der Wende ihre Arbeit verloren und nichts mehr gefunden.
„Mutter, komm mit mir. Das ist doch kein Zustand hier.“
„Anna, mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin alt, aber es gibt hier Menschen, die mich brauchen.“
Ratlos sah ich zu Anders.
„Der Mensch ist ein unwahrscheinlich anpassungsfähiges Tier, weißt du,“ sagte er. „Aber er ist kein Mensch, wenn er keine Träume mehr hat.“
„Dann verliert eure Träume nicht.“
Anders fuhr mich zum Flughafen. Von Mutter hatte ich mich bereits verabschiedet, ihr ging es nicht gut. Er fuhr immer noch den selben alten Trabi.
„Es war schön, mal wieder zu Hause zu sein. Ich habe euch immerhin fast acht Jahre lang nicht gesehen.“
„Du bist erwachsen geworden,“ stellte Anders fest.
„Versprichst du mir, dass ihr mich besuchen kommt? Ihr beide?“
„Sobald wir können.“
Der Abschied von Mutter hatte sich angefühlt, als wäre er endgültig gewesen.
„Kommst du dort zurecht?“ fragte mein Stiefvater.
„Das Leben ist nicht einfach. Es ist nie einfach. Aber es sind ehrliche Menschen dort.“
„Ich denke oft an früher. Jetzt, wenn man so zurückdenkt, kommt einem alles so idyllisch vor. Wir waren eine glückliche Familie.“
Ich dachte an unsere alte Wohnung in Rostock, und die türkische Frau.
„Das Leben geht weiter, weißt du. Und der Mensch ist kein Mensch, wenn er keine Träume mehr hat.“
Als ich schon im Flieger nach Havanna saß, dachte ich noch lange darüber nach, was aus meinem ehemaligen zu Hause geworden war. Mutter schaffte es noch, mich zu besuchen. Aber ich habe Deutschland nie wieder gesehen.