Mitglied
- Beitritt
- 16.02.2012
- Beiträge
- 33
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Träume verkaufen
Träume verkaufen, zweiter Versuch
Auf den Bestsellerlisten waren die Titel von Anne Schuhmacher nie erschienen, was erfahrene Buchhändler wie August Rauschenbach immer wieder wunderte. Regelmäßig fragten die unterschiedlichsten Leser bei ihm nach, ob es wieder was Neues von „Sie wissen schon, der Frau Schuhmacher“ gäbe.
So viele unterschiedliche Menschen mochten diese besonderen, unbeschreiblichen Geschichten und nahmen tatsächlich abends eins dieser Bücher in die Hand, statt fernzusehen oder sich über die Börse zu informieren. Das wurde August immer wieder deutlich.
Mal war es eine Hausfrau und Mutter, die Schuhmachers neuesten Band erotischer Geschichten zuunterst auf seinen Ladentisch legte, neben dem Kochbuch oder Erziehungsratgeber. Dann wieder fragten erfolgreiche Geschäftsmänner nach etwas „zur Enspannung, Sie verstehen? Die Sachen von der Anne Schuhmacher sind echt heiß.“
Pärchen, die nach Urlaubslektüre suchten, einigten sich neben dem Krimi für ihn und den Geschichtsroman für sie auf den Kauf eines Schuhmacher Buchs für gemeinsame Lesefreuden. Professoren erwägten eine Sammelbestellung eines ihrer Bücher für ein geplantes Seminar, wegen der Anspielungen auf die Weltliteratur oder den geschickten Einsatz von Metaphern, sich wohl bewusst, welche verschämten Lacher sie bei den möglichen Interpretationen auslösen könnten.
Anne Schuhmacher kam ohne pornografische Worte aus, und doch wirkten ihre Geschichten erotisierend, anregend, fantasievoll und lustmachend. Oft hatte August sich beim Lesen einer ihrer raffinierten Erzählungen vorgestellt, wie leidenschaftlich Paare übereinander herfallen würden, hätten sie diese Abendlektüre miteinander geteilt.
Und doch blieb die Schriftstellerin selber unbekannt. Kein Mensch hatte je ihr Gesicht gesehen, keiner hatte das Pseudonym lüften können, nie gab sie Interviews oder äußerte sich, nicht mal anonym, auf all die ihr entgegengebrachte Bewunderung.
August hatte seine eigenen Theorien über die große Unbekannte. Viele Leser glaubten, sie müsste die erotischste, sinnlichste, verführerischste Frau der Welt sein. Wenn man ihre Geschichten las, dachte man, der Autorin musste Sex aus jeder Pore triefen, wer solche Fantasien beschreiben und auslösen konnte mit Andeutungen, einfachen und doch poetischen Worten, der musste Sex lieben.
Er wusste, dass die Autorin nicht mit ihren Protagonistinnen verwechselt werden sollte, aber anders als bei den meisten anderen Büchern war er hier neugierig auf die Frau hinter den Geschichten, und wünschte sich, irgendwann einmal eine Frau kennenzulernen, die so dachte, die so offen sein könnte, so fantasievoll. Ihre Geschichten erhöhten die Faszination weiblicher Sexualität, indem sie sie greifbarer für ihn machten. Sie gaben ihm einen Einblick darin, wie eine Frau Erotik verstehen konnte, so anders als er es jemals als Mann würde sehen können. Die Lektüre hinterließ bei ihm das Gefühl, Frauen und ihre Weiblichkeit besser zu verstehen.
Und dann geschah eines Tages etwas, das ein neues Licht auf die große Unbekannte zu werfen schien. Doch August blieb bei seiner ihm liebgewonnen Ansicht, auch, nachdem diese absurde, kurze Begegnung stattgefunden hatte, die ihn erst ziemlich nachdenklich machte.
Es war an einem ruhigen Dienstagmorgen ohne besondere Vorkomnisse gewesen, gegen Ende des Monats, als er ganz in Ruhe mit der monatlichen Inventur vor den Besuchen der Verlagsvertreter beschäftigt war. Ein Kunde betrat den Laden, während er im Nebenraum die Kalenderbestände kontrollierte und mit den Verkaufszahlen des Vorjahrs verglich.
Als das Glöckchengebimmel aus dem Verkaufsraum ertönte, rief August: „Komme gleich!“, und staubte seine Hose ab, die vom Kriechen zwischen den Regalen weiße Knie bekommen hatte. Dann ging er nach vorn und sah eine Frau am Auslagetisch mit den Neuzugängen stehen. Sie strich mit der Hand über zwei, drei Buchtitel, nahm hier und da ein Taschenbuch in die Hand, blätterte kurz, schien mit geringem Interesse ein paar Sätze zu lesen, um es dann wieder vorsichtig, gerade hinzulegen.
Er sagte höflich „Guten Morgen“, und beobachtete sie. Meist hielt er sich erst zurück, um einen Eindruck zu bekommen, ob dies ein ernstzunehmender Kunde, ein Buchliebhaber oder nur jemand war, der sich Inspiration holte, um sich dann in der nahen Bibliothek etwas auszuleihen. August erkannte inzwischen ganz gut an der Körperhaltung, ob es sich um einen Leser handelte, oder um jemanden, der ein Geschenk suchte und sich fast unwillig zwischen den Bücherstapeln bewegte. Ob es jemand mit einer Vorliebe für illustrierte Deko-Folianten oder auf der Suche nach dem schnellen Krimi für zwischendurch war.
Dieser Frau sah August an, dass sie an den Umgang mit Büchern gewohnt war. Zielsicher griff sie einen bestimmten, sie ansprechenden Titel aus dem Regal, zu dem sie getreten war, ohne seine Anwesenheit auch nur mit einem Kopfnicken zu quittieren. Sie las rasch die Beschreibung hinten, blätterte zu den ersten Seiten und las kurz hier und manchmal auch in der Mitte ein paar Sätze, bevor sie das Buch wieder gewissenhaft an seine richtige Stelle zurückstellte. August grinste, er mochte es, wenn Leute Respekt vor der hier nötigen Ordnung hatten.
Sie war ungefähr in seinem Alter, Mitte Vierzig, vielleicht jünger, aber wegen ihrer unvorteilhaften, unmodischen Aufmachung war das schwer einzuschätzen. Die Haare waren streng zum Zopf zurückgenommen, sie trug kein Make-Up und eine zu große, silberumrandete Brille auf der Nase. Ein unförmiger, beiger Mantel hing offen über einer hellen Bluse und einer schwarzen Bundfaltenhose. Sie war eindeutig jemand, den sein Aufzug nicht im Geringsten interessierte und der wahrscheinlich nicht gerade betucht war. Ein großes Geschäft konnte August sich wohl nicht erhoffen, dachte er, aber nicht mal er könnte sagen, ob sie ihr Geld nicht vielleicht lieber in Bücher als in Kleidung investierte.
August war sicher, sie noch nie hier gesehen zu haben. Er räusperte sich und fragte in seiner Verkäuferstimme, ob er helfen könnte, aber sie sah ihn nur kurz an, und schüttelte den Kopf mit einem sanften Lächeln. Sympathisch war sie ja, und nicht so hässlich wie auf den ersten Blick, dachte er nach eingehenderer Betrachtung, aber keinesfalls sein Typ. Er besah er sich seine Listen weiter am Schreibtisch neben der Kasse, um sie ihm Auge zu behalten. Die Glocke läutete und zwei Jugendliche kamen rein, die einen Atlas verlangten, den billigsten nahmen und in knapp drei Minuten wieder verschwunden waren.
Danach bleib es ruhig und träumte August ein wenig von seiner Lieblings Schuhmacher-Szene, die in einem Buchladen spielte. Darin stieg die Buchhändlerin auf eine Leiter und konnte man ihre unauffällige Unterwäsche unterm Rock erkennen, während der Kunde sich vorstellte, sie auszuziehen, sie auf einem Stapel Bücher zu drapieren und zu streicheln, während sie ihm vorlas.
August hatte die Frau fast vergessen, als sie plötzlich vor der Kasse stand und drei Bücher auf den Tisch legte. Zwei englischsprachige Titel, einer über die Brontes, der andere von einem aufgehenden Stern am amerikanischen Literaturhimmel, der in Deutschland noch gar nicht bekannt war, und ein wissenschaftliches Werk über Semantik. Ernsthafte Leserin, beeindruckend, dachte er. Er lächelte sie an, aber sie sah ihm nicht ins Gesicht.
Er rechnete ab, sie kramte in ihrer ausgebeulten Ledertasche nach ihrem Geldbeutel und zahlte bar. Dann fragte sie ihn mit dem gleichen, schüchternen Lächeln wie vorhin, das sie um Jahre jünger aussehen ließ: „Führen Sie eigentlich Bücher von Anne Schuhmacher? Ich habe unter S keine gefunden.“
August musste grinsen. Das Publikum dieser Bücher war wirklich so unterschiedlich, wie man immer wieder behauptete. „Aber ja. Natürlich. Aber nicht bei Romanen, dafür hab ich hier eine extra Abteilung, wenn Sie hier schauen möchten.“
Er kam hinter der Theke hervor und zeigte ihr das eigens für seine Lieblingsbücher eingerichtete Eckchen mit allen Schuhmacher-Werken und ein paar herausragenden Nachahmern in erotischer Literatur neben den Klassikern wie Nin, Miller, Nabokov, Lawrence oder Roquelaure, aber auch De Sade, Wilde, diversen Anthologien und dem üblichen Kinsey-Report und Ähnlichem. Für jeden Geschmack war etwas dabei und August war stolz auf den Ruf seines Ladens auf diesem Gebiet. Die Frau schien beeindruckt und lächelte breiter.
„Das ist aber eine erstaunlich gut sortierte Abteilung. Finden Sie tatsächlich, dass Schuhmachers Geschichten zu den Klassikern des Genres gehören?“
„Aber unbedingt. Ich bin selbst ein großer Fan und kann es kaum abwarten, dass endlich was Neues von ihr erscheint.“
„Ach ja, lange wird es nicht mehr dauern. Der nächste Band wird wohl Anfang des neuen Jahres erscheinen.“
August starrte sie ungläubig an.
„Sind sie vom Fach? Der Verlag hat bis jetzt noch keinen Erscheinungstermin nennen können.“
Die Frau schien sich auf die Lippen beißen zu wollen und errötete.
„Oh ja? Seltsam, da muss ich das wohl falsch verstanden haben. Ich warte ja selbst darauf, ich habe ihre Bücher alle schon mehrmals gelesen.“
Sie sah sich die Bände vor ihr an und schien die Konversation beenden zu wollen, doch er war stutzig geworden.
„Warum fragten Sie dann nach ihnen, wenn Sie bereits alle kennen?“
„Oh“, stammelte sie, „ich dachte, vielleicht eins verschenken zu können? Und ich war einfach interessiert, ob Sie sie haben und wie sie sich verkaufen …“
„Sie wollen wissen, wie sich die Schuhmacher-Bücher verkaufen? Warum?“
„Nun, ich meinte, … ach, vergessen Sie´s. Welches ist denn Ihr Lieblingsbuch?“
„`Die unendliche Nacht`, würde ich sagen. Das nehm ich mir immer wieder vor, es bleibt spannend.“
„Spannend? Wie komisch, dass Sie das gerade so nennen.“
Sie kicherte leicht in sich hinein.
„Das klingt ja, als ob sie es wie einen Krimi lesen würden, so ist es doch sicher nicht gedacht.“
„Es gibt kein eindeutiges Ende bei den meisten Geschichten. Da kommt man ins Grübeln und es reizt einen immer wieder aufs Neue, es zu interpretieren. Mit der Meinung steh ich auch ganz bestimmt nicht allein da. Warum sollte sich die Autorin das nicht so gedacht haben? Die Spannung ist bei ihr ein wesentliches Element, genau wie bei einem Krimi, sie benutzt Elemente aus allen möglichen Genres und versteht es doch, es auf erotischem Gebiet interessant zu machen, finden Sie nicht?“
Es könnte interessant werden, zu erfahren, was diese Frau davon hielt. Er hatte schon oft mit Gleichgesinnten über diese Bücher gesprochen und sich darüber gewundert, wie vielfältig die Lesergemeinde, wie verschieden es Leser ansprach, was die Schuhmacher schrieb. Aber nie hatte er das Gefühl gehabt, sein Gesprächspartner könnte mehr wissen als er, Hintergrundinfos haben oder etwas verstecken wollen.
Doch genau das dachte er in diesem Moment, von dieser einfachen, unauffälligen Frau. Was wusste sie, das er nicht wusste? Er war der Kenner der Schuhmacher-Werke, ein Experte in jeglicher Hinsicht.
Die Frau lächelte weiterhin sanft und schien zuerst nicht antworten zu wollen, während August sie erwartungsvoll ansah. Als er es schon kopfschüttelnd aufgeben wollte, bemerkte sie:
„Es ist schön, dass es Sie zum Nachdenken anregt. Aber man sollte nicht so viel Hineininterpretieren. Man liest ja die haarsträubendsten Analysen, was sie sich beim Schreiben gedacht haben soll. Vielleicht denkt sie dabei gar nicht, nicht an den Leser zumindest. Vielleicht fühlt sie nur und schreibt auf, was ihr gefällt. Vielleicht hat sie dabei gar nicht den Leser und was es mit ihm tut vor Augen, vielleicht schreibt sie eigentlich nur für sich und ist es reiner Zufall, dass andere es auch mögen. Vielleicht benutzt sie Elemente aus der Literatur unbewusst, setzt Techniken ein, wie jeder Autor, aber sind die Inhalte nicht mehr als ein Traum …“
Sie schien wieder leicht zu erröten und er wollte gerade dazu ansetzen, auf diese Theorie mit eindeutigen Gegenargumenten zu antworten, als sie ihren Mantel zuzog, ihre Tasche unter den Arm klemmte und sich zum Gehen wendete. Sie nickte ihm mit einem „Vielen Dank nochmal. Auf Wiedersehen!“ zu und verschwand eilig zum Ausgang. Zu eilig, als hätte sie das Gefühl, zu viel gesagt zu haben.
August behielt dieses mulmige Gefühl, es könnte mehr hinter der Geschichte stecken, noch eine ganze Weile. Als er abends im Bett „Die unendliche Nacht und andere kurze Geschichten“ zur Hand nahm und zum tausendsten Mal das geheimnisvolle Vorwort der Autorin las, dachte er ein einziges Mal kurz an die unwahrscheinliche, unaussprechliche Möglichkeit, die ihm in den Kopf gekommen war.
Aber er verdrängte es schnell, schüttelte den Kopf und sagte sich, dass das einfach nicht wahr sein konnte und er nur einem Fan begegnet sei. Sonst könnte er nie wieder so bei der Lektüre träumen, wie er es wollte. Sie behielt Recht, es war nur Zufall, dass da jemand für ihn anregend schrieb. Die Art, wie diese Worte zu ihm sprachen, dass die Autorin auf seiner Wellenlänge schien, musste noch lang nicht heißen, dass die Menschen dahinter sich zueinander angezogen fühlen könnten.
Das Vorwort bestand aus zwei Sätzen: `Wir alle wünschen uns und fürchten uns gleichzeitig davor, dass unsere Träume Wahrheit werden. Ich versuche hier zu beschreiben, was man fühlt, wenn man träumt, nicht den Traum selbst, damit er nicht zerplatzt und ewig währt.“