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Träume sind Schäume

Beitritt
01.11.2001
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Träume sind Schäume

Träume sind Schäume


Der Schlaf macht ihn müder und müder. Er hat Angst vor dem Schlaf, denn er beraubt ihn seiner Gegenwart, schwappt ihn hinweg aus seinem Alltag und macht ihn verletzlich, wehrlos und ausgeliefert gegenüber dem was kommen mag. All seinen Zielen, Plänen und Aufgaben kann er während des Schlafens nicht nachkommen, es ist eine lästige Pflicht, der keiner entrinnen kann, aber er wünschte es gäbe eine Möglichkeit, das Abdriften zu vermeiden und sich statt dessen aktiv und bewußt in der Realität zu entfalten. Mit seiner Sekretärin zu flirten. Den fertiggestellten Bericht in den Auslaufordner zu legen. Mit Mutti zu telefonieren. In der Kantine Backhähnchen mit Bratkartoffeln zu bestellen. Dieses zur Ausgabe zurückzubringen. Den Koch zu verlangen. Sich über die mangelnde Qualität zu beschweren. Nach dessen Erklärungsversuchen großmütig zu lächeln. Danach einen Text Korrektur zu lesen. Die S-Bahn heim zu nehmen und dabei die Leute zu beobachten. Die Nachrichten zu sehen. Dabei ein Bier zu trinken.
Trotzdem hat er das immer wiederkehrende, unstillbare Bedürfnis sich ihm hinzugeben, fast die Hälfte seines Tages verbringt er im Bett. Von neun Uhr abends bis 7 Uhr früh und am liebsten noch einmal am nachmittag, zumindest eine Stunde. Oder auch zwei.
Im Schlafzimmer seiner Dach-Maisonette Wohnung in der Rüdiger-Rilke-Straße befindet sich ein großes, weißes Futonbett, mit getigerten Plüschkissen und wunderbar weicher Daunenbettwäsche. Er kann ihm einfach nicht widerstehen. Sobald er sich hineinlegt, trägt es ihn fort, er kann es nicht stoppen, und er weiß nicht wohin.

Er wacht auf, wie jeden morgen geweckt von dem Geplöcke der Schafe. Sie werden früh munter, die Schafe. Die Zippen mit ihren Lämmern zuerst, weil die Lämmer hungrig sind und eine Milchmahlzeit fordern. Sie wecken mit ihrem Geschrei zuerst den Rest der Herde, dann die Hunde und schließlich ihn selbst. Es ist selten später als 5 Uhr. Er liebt die aufgehende Sonne, den Tau und die Morgenstimmung, doch die Kälte macht seinen alten Knochen zu schaffen, sie ächzen und stöhnen und protestieren. In seinen Schlafsack gehüllt setzt er sich auf, nimmt aus der Thermoskanne einen Schluck Kaffee vom Vortag, reibt seine Hände wärmend aneinander und streckt sich. Ein neuer Tag wie jeder andere. Wäre es nur doch schon Abend. Dann müßte er nicht raus aus dem Schlafsack und rein in den Mantel sondern umgekehrt. Doch Pflicht ist Pflicht. Und ein verwirrt umherstreifendes Lamm zwingt ihn zum Aufstehen und nach dem Rechten zu sehen. Es ist mittlerweile halb sechs. Um sieben hat er sich an Licht und Arbeit gewöhnt, die Luft verdrängt seine trüben Gedanken vom Morgen und er verarztet Blessuren, leistet Geburtshilfe, treibt seine Herde auf eine neue Wiese, telefoniert mit Mutti, bestellt in der nahegelegenen Gastwirtschaft ein Brathähnchen mit Bratkartoffeln, läßt dieses von der Bedienung nach dem ersten Bissen wieder abholen, verlangt den Koch, beschwert sich über die mangelnde Qualität und lächelt nach dessen Erklärungsversuchen sein großmütigstes Lächeln.
Danach kehrt er zurück zur Herde, verjagt einen streunenden Hund, der seine Schafe angegriffen und sich mit den Hütehunden angelegt hat, erledigt noch ein paar kleinere Aufgaben und widmet sich dann einem Buch. Dabei trinkt er ein Bier.
Sein Schlafsack grinst ihn verführerisch an, es kann eine solche Einladung kaum abschlagen, zumal er schon zum dritten Mal gegähnt hat, und er hat einmal gelesen dass man spätestens nach dem vierten Mal einschläft. Das will er lieber im warmen Schlafsack als hier draussen in der Kälte tun, deshalb legt er sich hinein zieht die Abschlusskordel ganz fest an seinem Gesicht zu, so dass es angenehm warm wird, und schon bevor er das vierte Mal gähnen kann, trägt es ihn fort, er kann es nicht stoppen, er weiß nicht wohin.

Er wacht auf, wie jeden Morgen geweckt vom monotonen Gepiepse des Weckers und es dauert eine Weile bis seine müde Hand den Knopf zum Ausschalten des Alarmtons findet. Es ist kaum später als 5, sein Beruf verlangt den vollen Einsatz. Aber mit dem Einschalten des Lichts schaltet sich auch sein alter Tatendrang ein. Es ist zwar noch kalt im Zimmer, denn er pflegt mit geöffnetem Fenster zu schlafen, doch es wird bald warm werden. Die Heizung läuft ab halb 6 auf Hochtouren. Er setzt sich auf, nimmt aus der Thermoskanne einen Schluck Kaffe vom Vortag, reibt seine Hände wärmend aneinander und streckt sich. Ein neuer Tag! Er ist froh dass die Nacht vorrüber ist, denn er hatte wirre Träume. Er reibt sich die Augen und schiebt den Traum ein Schäfer zu sein beiseite. Absurd! Träume sind Schäume!

Warm ist es im Schlafsack. Er schläft gleichmäßig schnarchend unter dem nebelverhangenen Himmel. Ab und zu blöckt ein Schaf, weil es von einem Geräusch aufgeweckt wurde und sich beunruhigt umsieht, bis es den Rest der Herde friedlich dösen sieht und selbst beschließt weiterzuschlafen. Der Schäfer murmelt im Schlaf, er bewegt sich mit abwehrenden Gesten, denn im Traum streitet er sich gerade mit seiner Sekretärin. Der Bürostuhl verursacht Rückenschmerzen, das Backhähnchen war ungenießbar und am morgen ist die Heizung ausgefallen so dass er in der Kälte der vergangenen Nacht frühstücken mußte. Er hat den Traum, ein Schäfer zu sein, über all dem Ärger längst vergessen.

8.10.02

 

Servus Claudia!

Es ist dir gut gelungen die beiden Parallelwelten durch das gegenseitige Traumgeschehen gleichzeitig existieren zu lassen. Diese Idee gefällt mir gut.

Es öffnen sich auch Überlegungen, aber was war dein Denkansatz der diese Geschichte entstehen ließ?

Ging es dir um die unterschiedlichen Lebensphilosophien an sich? Oder um Unzufriedenheit, egal was ist? Um die Frage, ob man das falsche Leben lebt durch die Umstände die vorherrschen?

Lieben Gruß schnee.eule

 

Liebe schnee.eule,

an sich meinte ich eher folgendes: Der Schäfer träumt er wäre der Büromensch und der Büromensch träumt er wäre der Schäfer. Wer ist also nur ein Traum und wer existiert wirklich? Beide sind davon überzeugt den Anderen jeweils nur zu träumen.
Ich habe tatsächlich mal geträumt, dass es noch ein Traum Pendant zu mir gibt, jemanden, der aufwacht sobald ich einschlafe und einschläft sobald ich aufwache. Das war ein ziemlich spannender Traum und die Geschichte war eher in diese Richtung gedacht. Deine Ideen fand ich aber auch spannend, interessant dass du die Geschichte anders verstanden hättest. Aber was ist schon Realität :) (Wobei wir wieder beim Thema wären...)

Viele Grüße Claudia

 

Servus Claudia!

Dies hab ich gemeint in meinem ersten Satz vorhin. Indem jeder vom Leben des anderen träumt, existieren die beiden Welten parallel zueinander. Beide sind sowohl fiktiv als auch real.

So ähnlich ist es auch bei Wachträumen nicht? Man lässt sich in ein scheinbares Erleben fallen. Verliert man dabei den Sinn für die Realität oder erlebt man neben dem realen entspannten, meditativen Daliegen oder auf einen Punkt starren, eine zweite Welt die möglicherweise ebenso real ist, sogar im selben Moment - wer weiß das schon?

Ein sehr offenes Feld, scheinbar ist alles möglich.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo Claudia,

Deine Geschichte erinnert mich an das Bild von Escher, bei dem eine zeichnende Hand eine zeichnende Hand zeichnet, die wiederum die erste Hand zeichnet.
Eine schöne Geschichte, diese Geschichte...

Tschüß... Woltochinon

 

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