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Träume - ein postapokalyptisches Märchen
Es war einmal ein Junge, der ein Falke sein wollte. Sein größter Wunsch war es, auf die Welt hinabzublicken, mit Wind unter den Flügeln und Freiheit im Sinn. Seine Augen glühten, wenn er nur daran dachte, und sein Herz pochte in seiner Brust.
Eines Tages machte er den Fehler, darüber zu sprechen. Die Leute in seinem Dorf wollten nichts davon wissen. Du bist kein Falke, sagten sie, du kannst nicht fliegen.
Der Junge ging davon und dachte an die rote Schmetterlingsfrau, die ihm im Traum erschienen war, ein wunderbares Schwebewesen, leicht und grazil wie eine Tänzerin. Er hatte versucht, sie zu fangen, aber sie war entkommen.
Als er alt genug war, um alleine zu reisen, wagte er einen Ausflug in die weit entfernte Stadt, um die großen, toten Flugmaschinen zu bestaunen. Dort standen sie auf einem riesigen Asphaltfeld herum wie verrostete Dinosaurier. Die pralle Sonne schlug auf sie ein, ihre Scheiben waren gebrochen, die Reifen platt. Der Gedanke, sie könnten fliegen, sprengte jede Vorstellungskraft.
Außer der des Jungen.
Bald verbrachte er jeden Tag auf dem Flugplatz und jede Nacht in der Bibliothek. Dort studierte er die Anatomie der Flugmaschinen und lernte alles über ihre Steuerung. Auch beschäftigte er sich mit den Gesetzen der Physik und der Mechanik. So vergingen Jahre, ohne dass von außen erkennbar gewesen wäre, dass der Junge irgendwelche Fortschritte machte.
Eines Abends lief ihm ein Mädchen über den Weg. Sie hatte einen wunderbar-leichten, unbeschwerten Gang, sie summte und schnipste zu einer unbekannten Melodie, und ihr Haar – der Junge traute seinen Augen nicht – es war von einem tiefen, satten Rot.
Er nahm seinen Mut zusammen, trat zu ihr und sagte: „Du bist mir im Traum erschienen.“
„Tatsächlich?“ Sie lächelte. „Und was habe ich dort gemacht?“
„Du warst ein roter Schmetterling“, sagte er. „Und du hast wunderschön getanzt.“
„Und was ist dann passiert?“
„Ich habe versucht, dich zu fassen, aber du bist entkommen. Seitdem hoffe ich jeden Tag, dass du zurückkommst. Du bist sogar schöner, als ich dich in Erinnerung hatte. Träume ich etwa?“
„Du träumst nicht“, sagte sie. „Allerdings muss eine Verwechslung vorliegen. Ich bin nicht der Schmetterling aus deinem Traum.“
„Tanzt du?“
„Mit Freude, ja.“
„Tanzt du auch in den Träumen anderer?“
„Ab und zu. Wenn mir danach ist.“
„Du bist es.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich tanze nur für die, die mich kennen. Von den Träumen fremder Menschen halte ich mich grundsätzlich fern, schon mein Leben lang.“
„Dann müssen wir uns kennenlernen“, sagte der Junge.
Das Mädchen überlegte kurz. „In sieben Tagen.“
„Geht es nicht früher?“
„Nein.“
Der Junge seufzte geschlagen. „Okay.“
Sie wandte sich zum Gehen und lächelte.
Noch in derselben Nacht besuchte sie ihn, betörender denn je. Er sah sie in einem roten Kleid auf einer Wiese tanzen, ihre Beine zierten violette Spitzenstrümpfe, und ihr Haar flog mit Schwung durch die Luft.
Er versuchte sie zu fangen, aber sie entkam.
Nach ihrem ersten Treffen gab es bald ein zweites und ein drittes, und der Jungen wusste, dass er sie heiraten wollte. Noch wartete er jedoch mit diesem Schritt, der Sittlichkeit halber, aber auch, weil es vorher noch etwas zu erledigen gab.
Der Falke stand kurz davor, seinen ersten Flug anzutreten.
In einer Halle hatte er eine Maschine gefunden, die, vor Sonne und Regen geschützt, noch etwas von ihrem alten Glanz besaß. Ihr Rumpf war leuchtend weiß, und ihre Flügel strahlten in Lila. Sogar die Stühle im Cockpit, aus feinstem cremefarbenen Leder, rochen frisch und sauber.
„Ich habe Angst“, sagte das Mädchen am Abend vor dem Flug.
„Wovor?“, fragte er.
„Was ist, wenn ich doch die Tänzerin in deinen Träumen war, die dir entkommt?“
„Aber du hast doch gesagt, dass du nicht diese Tänzerin sein kannst.“
„Vielleicht irre ich mich. Wenn du in diese Maschine steigst, kann es sein, dass wir uns nie wieder sehen.“
„Du willst doch nur, dass ich bleibe.“
„Ja! Du riskierst alles für diesen Flug, auch mich. Ist dir das wirklich wert?“
„Ich bin ein Falke, und Falken müssen fliegen.“
„Und ich bin ein Schmetterling, der will, dass du mich fängst.“
„Ich werde dich fangen. Aber vorher muss ich fliegen. Nur eine kleine Runde, mehr nicht. Dann komme ich sofort zu dir zurück.“
Am nächsten Morgen füllte der Junge den Tank der Merlin 1 mit Kerosin und startete sie. Ihre Triebwerke heulten auf, und der Junge bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper. Er drückte sich eine Brille mit großen, dunklen Gläsern auf die Nase, schlug den Kragen seiner Pilotenjacke hoch und gab Vollgas.
Als die Merlin 1 abhob, konnte er es im ersten Moment gar nicht glauben. Er war in der Luft. Die Flüsse waren blaue Schlangen unter ihm, die Bäume Unkraut, die Gebäude nur noch graue, hässliche Steine. Er flog direkt über seinem Dorf, ließ die Triebwerke aufdonnern und schoss in den Himmel hinauf.
Ehe er sich versah, hatte er die Wolkendecke durchbrochen. Er blickte nach unten und spürte das Verlangen, sich in dem Wolkenstoff zu wälzen wie in weißen Laken. Die Strahlen der Sonne brannten auf seiner Haut, und er fühlte sich dem großen Stern ganz nahe.
Er flog kreuz und quer und über den Himmel, voller Euphorie, auch wenn der Anblick unter ihm nicht immer schön war. Die Städte sahen leer aus, ohne Anzeichen von Überlebenden.
Nach einer Weile sah er einen Strand mit einer großen Düne näherkommen.
Der Junge dachte an sein Schmetterlingsmädchen und wusste, dass er jetzt umdrehen musste. Und doch zog es ihn in diesem Moment so stark in die Ferne wie nie zuvor.
Erst jetzt, als Europa bereits hinter ihm lag, wurde ihm bewusst, wohin es ihn zog. Nach New York. Er wollte ins Herz der alten Welt eindringen. Er wollte ihre Dekadenz schmecken und ihre Herrlichkeit erleben. Er wollte wissen, ob es irgendwo in den Ruinen dort ein leises wehmütiges Pochen gab.
In den nächsten Stunden, während der atlantische Ozean sich in all seiner Eintönigkeit unter ihm ausbreitete, wurde der Junge immer wieder von Wellen der Melancholie ergriffen. Er konnte spüren, wie er sich immer weiter von seinem Mädchen entfernte. In seiner Brust gab es einen ziehenden Schmerz, der stetig zunahm. Er vermutete, dass die Schmetterlingsfrau das gleiche Ziehen spürte. Als seien ihre Herzen durch ein magisches Seil verbunden.
Der Junge schwor sich in diesem Moment, alles Erdenkliche dafür zu tun, einen Weg zurück zu finden. Mochten die Schmerzen in seiner Brust noch so unerträglich werden, er würde Kraft aus ihnen schöpfen. Und einen gewissen Trost. Bedeuteten sie doch, dass das Seil noch hielt.
Als er die Küste des nordamerikanischen Kontinents erblickte, war er vor allem erleichtert. Doch dann ging etwas schief. Im Landeanflug kam das Räderwerk nicht heraus.
Der Junge fasste sich an den Kopf und flog am Flugplatz vorbei. Er musste eine Wasserlandung versuchen.
Schon hatte er die Insel Manhattan im Visier. Er schnallte sich an, zog eine Schwimmweste über und setzte auf den Fluss auf. Als die Merlin zum Stehen kam, öffnete er eine Notluke und sprang ins Wasser. Zitternd schwamm er ans Ufer, wo er sich auf eine Wiese hinlegte und durchatmete. Die Merlin sank in den Fluss, ganz langsam. Langsam ging auch die Sonne unter, hinter den Bauwerken auf der anderen Uferseite. Links davon, auf einer Insel in der Ferne, hielt die Freiheitsstatue eine Fackel nach oben.
Der Junge spazierte nach Manhattan hinein.
Bald fand er sich von Hochhäusern umschlossen. An jeder Ecke schossen sie in die Höhe, viereckige Klötze, graufarben und kalt. Ihre Scheiben waren dreckig und nirgends brannte Licht.
Ob der Junge hier ein Pochen finden würde?
Er ging schnell voran und wünschte sich bereits, er wäre wieder in der Luft.
Da seine Kleidung immer noch nass war, ging er in die nächste Boutique. Dort fand er einen blauen Anzug, der ihm passte, ein schwarzes Hemd und gemütliche Lederschuhe. Er zog sich um und ging weiter, ziellos und mit einem wachsenden Gefühl des Unbehagens. Ein kühler Wind fegte an ihm vorbei, und die Hochhäusern warfen lange schwarze Schatten.
Er irrte weiter, bald durch völlige Finsternis, bis er sich auf einem großen Platz wiederfand, eine Lichtung im Wolkenkratzerwald. Von allen Seiten her wurde der Platz von Leuchtreklamen umringt, deren Licht längst erloschen war.
Hier, an diesem Ort, hatten sich einst die Träume der alten Welt abgebildet, möglichst laut und bunt.
Der Junge drehte sich im Kreis, ließ den Blick schweifen und horchte in die Stille.
Der kalte, milchige Mondglanz überzog alles.
Der Junge stieg in ein gelbes Taxi und rollte sich auf der Rückbank zusammen. Durch das gläserne Schiebedach konnte er die Sterne sehen, während draußen der Wind heulte. Er steckte sich die Finger in die Ohren und versuchte wegzuhören, aber es gelang ihm nicht, im Gegenteil, das Heulen schien immer lauter zu werden.
Die Geister der alten Welt kamen zu ihm. Der Junge konnte sie sehen, Kinder und Frauen und Männer, sie schüttelten das Taxi durch und schrien. Ihre Augen leuchteten, ihre Gesichter waren verzerrt, und für einen kurzen, grausamen Moment, als dem Jungen schon die ersten Tränen kamen, sprangen alle Lichter auf dem Times Square an, nur für ihn. Blutrot erstrahlten sie, und heller als die Sonne selbst.
Am nächsten Morgen, als der Junge aus dem Taxi stieg, sah er einen Mann näherkommen. Er hatte ein erlegtes Reh über die Schulter geschlungen und ein Gewehr in der Hand. Er war groß und kräftig, sein Bart leicht ergraut. Er trat zu dem Jungen und sagte: „Hallo.“
„Hallo“, sagte der Junge. „Wer bist du?“
„Ich bin der letzte Mensch auf Erden. Wer bist du?“
„Ich bin ein Falke.“
„Ja, so muss es sein. Du bist mir im Traum begegnet. Ich habe gesehen, wie du geflogen bist.“
„Tatsächlich?“, sagte der Junge erstaunt. „Und was ist dann passiert?“
„Dann habe ich dich abgeschossen.“
„Oh …“
„Ja, blöd. Vor allem, wenn man bedenkt, wie einsam ich bin.“ Der letzte Mensch lächelte, als habe er einen Witz gemacht. Doch seine Augen verrieten, dass er tatsächlich sehr einsam war. „Gibt es dich wirklich?“
„Ja“, sagte der Junge. „Mich gibt es wirklich. Allerdings muss eine Verwechslung vorliegen. Ich kann nicht der Falke aus deinem Traum sein.“
„Fliegst du?“
„Ja.“
„Kreuz und quer über den Himmel, der Sonne ganz nahe?“
„Oh ja, mit Freude.“
„Du bist es.“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Da wir uns eben erst begegnet sind, gehe ich davon aus, dass du von einem anderen Falke geträumt hast.“
„Dann spricht wohl nichts dagegen, wenn wir Freunde werden?“
„Nein“, sagte der Junge, „ganz und gar nicht.“
Der letzte Mensch auf Erden wohnte in Brooklyn. Dort lebte er zusammen mit einem Drachenbaum, den er jeden zweiten Tag goss. Um sich zu ernähren, ging er im Central Park jagen und sammelte Dosen.
Am Abend kochte er für den Jungen, und sie kamen ins Gespräch.
„Ist sie schön?“, fragte der Mann, als der Junge von der Schmetterlingsfrau erzählte.
„Mehr als schön“, sagte der Junge. „Wenn sie tanzt, schwingt ihre ganze Seele mit, so unbefangen und sorglos, als gäbe es nur sie auf der Welt. Und in der Tat übertrifft sie dann alles.“
„Und sie gehört dir? Dir allein?“
„Ja, und sie wartet auf mich.“
„Wie kannst du dir so sicher sein?“
„Weil wir uns lieben.“
Der Mann zog die Brauen an.
„Ich kann es spüren“, sagte der Junge. „Es gibt ein Ziehen in unseren Herzen, das uns verbindet.“
„Aber sie ist sehr weit weg. Und dein Flugzeug ist kaputt. Wie willst du sie wiedersehen?“
„Ich werde morgen zum Flugplatz gehen und eine neue Maschine finden, der ich Leben einhauchen kann. Ich habe es einmal geschafft und werde es wieder schaffen. Du glaubst mir nicht?“
„Entschuldige meinen zweifelnden Blick. Du musst verstehen, ich war auch schon mal am Flugplatz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Maschinen fliegen. Aber man sieht dir an, wie entschlossen du bist. Ich glaube, wenn jemand es schafft, dann du. Dein Mädchen muss wirklich etwas Besonderes sein.“
„Oh ja, das ist sie wirklich.“
Der Junge erzählte noch mehr von der Schmetterlingsfrau, von ihrem rotem Haar und ihrem leichtem Gang, und der Mann hörte aufmerksam zu.
„Was ist mit dir?“, fragte der Junge. „Bist du wirklich all die Jahre über ganz alleine gewesen?“
„Nicht ganz. Ich hatte einen Hund, aber …“ Der Mann verstummte plötzlich, und sein Gesicht zog sich vor Schmerz zusammen.
Der Junge wollte natürlich wissen, was mit dem Hund passiert war, bohrte aber nicht nach.
Am nächsten Morgen zog der Junge in den obersten Stock des Wohnhauses gegenüber ein. Er ließ alles mehr oder weniger so, wie es war, und brach noch am selben Tag Richtung Flugplatz auf.
Als er am Abend zurückkehrte, hörte er eine Stimme.
„Hast du Hunger?“, rief der Mann von seinem Fenster aus.
„Und wie“, sagte der Junge.
Dies wurde schnell zur Routine. Der Junge aß jeden Abend bei dem Mann. Sie spielten Schach und unterhielten sich bis spät in die Nacht.
„Erzähl doch wieder von der Schmetterlingsfrau“, sagte der Mann immer wieder, und dann lehnte er sich zurück und lächelte selig.
Der Junge legte sich früh auf eine Maschine fest, die er für den Rückflug geeignet hielt. Nach einem Jahr funktionierte das Getriebe, und nach zweien brachte er endlich beide Triebwerke zum Laufen. An diesem Tag gab er der Maschine den Namen Freja 0 und verdoppelte seine Anstrengungen. Das Ziehen in seiner Brust wurde immer größer; er musste sich beeilen. An vielen Abenden kam er gar nicht mehr nach Hause, sondern schlief im Bauch der Maschine. Sie war nicht ganz so schön wie die Merlin 1, nicht so groß und nicht so strahlend, aber er empfand eine größere Zärtlichkeit für sie.
„Es ist so weit“, sagte er am Abend vor dem Flug. „Morgen fliege ich zurück.“
Der Mann runzelte die Stirn. „Du glaubst, dass deine Maschine fliegen kann? Bis nach Europa?“
„Ja.“
„Deine Maschine wird aller Wahrscheinlichkeit nach in den Ozean stürzen. Falls sie es überhaupt vom Boden schafft.“
„Hab Vertrauen, alter Freund. Meine Freja wird mich nicht im Stich lassen, das weiß ich.“
„Ich versuche nur, dich zu schützen.“
„Nein, du willst, dass ich hierbleibe.“
„Ja. Die letzten Jahre waren sehr schön. Wir führen doch ein nettes Leben. Wir haben genug zu Essen, wir haben Wein, und wir spielen Schach. Bist du wirklich bereit, all das für ein Mädchen am anderen Ende der Welt zu riskieren?“
„Ich bin mehr als bereit. Du vergisst, dass ich ein Falke bin.“
„Und ich war einmal der letzte Mensch auf Erden. Das will ich nie wieder sein.“
„Hast du etwa gedacht, ich lasse dich hier? Du kommst natürlich mit! Die Freja hat mehr als genug Platz in ihrem Bauch.“
Der Mann verzog besorgt das Gesicht.
„Ich werde um jede Gefahr einen großen Bogen machen“, sagte der Junge. „Ich werde so sicher und zielbewusst fliegen, wie ich nur kann.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Bitte, bleibe hier. Zwinge mich zu nichts.“
„Ich zwinge dich zu nichts. Morgen früh werde ich vorbeikommen, um mich zu verabschieden. Oder um dich mitzunehmen. Es ist deine Entscheidung.“
Am nächsten Morgen erwartete ihn der Mann vor seinem Wohnhaus. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte einen Rollkoffer dabei. Unter seinen Augen waren große Ringe.
Der Junge lächelte. „Ich wusste es.“
Auf dem Weg zum Flugplatz sagte der Mann kein Wort.
„Sei nicht so angespannt“, sagte der Junge. „Es wird alles gut.“
Schon rollten sie über die Startbahn. Der Junge fühlte sich großartig. Er spürte die ganze Kraft der Freja und hob in aller Ruhe ab. Keine zwanzig Minuten später hatte er seine Zielflughöhe erreicht. Er schaltete auf Autopilot und lehnte sich zurück.
Der Mann kam nach vorne ins Cockpit. „Wir fliegen“, sagte er. „Ich kann es nicht glauben. Herr im Himmel, wir fliegen!“
Der Junge war überglücklich. „Und weißt du, was das schönste daran ist?“
„Was denn?“
„Das Ziehen lässt nach. Die Schmerzen in meiner Brust, die mich mit meinem Mädchen verbinden, werden weniger. Gott! Was habe ich nicht gelitten in den letzten Jahren? Endlich ist es vorbei, und ich kann sie wieder in den Arm nehmen!“
Als der Junge das Asphaltfeld näherkommen sah, jenes Asphaltfeld, auf dem er so viele Stunden verbracht hatte, mit ölverschmierten Händen und kalten Füßen, wurde er beinahe zu Tränen gerührt. Er war daheim. Und er kam gerade rechtzeitig. Noch warf die Sonne genug Licht auf die Landebahn.
Die Freja 0 ließ ihn bis zuletzt nicht im Stich. Das Räderwerk kam heraus, sie hielt die Spur, und dem Jungen gelang seine erste Landung auf Asphalt.
Er schnallte sich ab und sprang auf.
In der Cockpit-Tür stand der Mann. Er hielt eine schwarze Pistole in der Hand, die er auf den Jungen richtete. Sein Mund war grausam verzogen, seine Hände zitterten. Er hatte Tränen in den Augen.
Dem Jungen klappte die Kinnlade auf. Dann begann er ebenfalls zu weinen.
„Du hast mich nie gefragt, was mit meinem Hund passiert ist“, sagte der Mann.
„Bitte …“
„Nun, jetzt werde ich dir die Geschichte erzählen. Mein Hund war mir das Liebste auf der Welt. Ich war der letzte Mensch auf Erden und er mein bester Freund. In dem Winter, bevor du gekommen bist, bin ich sehr krank geworden. Ich hustete Blut und konnte kaum das Bett verlassen. In meiner eigenen Scheiße habe ich gelebt, im eigenen Blut, wochenlang, und alles, was mir blieb, war mein Hund. Gott hatte mich zu Einsamkeit verdammt und nun ließ er mich dahinsiechen. Ich flehte Ihn an, mich endlich zu töten. Weißt du, wie es ist, sterben zu wollen, Falke? Du warst schon immer in der Luft, nicht wahr? Du hast nie zu spüren bekommen, wie grausam das Menschenleben sein kann, du hast die Dinge immer nur von oben gesehen.“
„Mein Mädchen …“
„Dein Mädchen hast du seit Jahren nicht mehr gesehen. Du hast sie verlassen, weil du fliegen wolltest. Damit musst du jetzt leben. Mein Hund hat mich nie verlassen. In all der Zeit, während ich im Bett lag und zu Gott gefleht habe, ist er bei mir geblieben. Ich musste aus dem Bett krabbeln, um Essen zu holen. Auf dem Weg in die Küche habe ich mich jedes Mal gefragt, ob ich noch die Kraft besaß, eine Dose zu öffnen. Mein Hund hat mich begleitet, hat mir übers Gesicht geleckt und versucht, mich zu ermuntern. Später, als unsere Essensvorräte alle waren, hat er manchmal die Wohnung verlassen. Ich habe mir gewünscht, er käme nicht mehr, er ließe mich sterben und fände irgendwo ein glückliches Hundeleben. Aber er kam immer wieder. Und legte mir Ratten aufs Bett, die ich durchgekocht und langsam zerkaut habe. So ging das eine Weile. Doch der Winter war unerbittlich, und irgendwann schienen sogar die Ratten verschwunden zu sein. Die Kräfte meines Hundes ließen nach. Bald lag er nur noch neben meinem Bett. Die Krankheit hatte mich nicht besiegt, doch der Hunger würde mir bald ein Ende machen, das spürte ich. Eines Nachts rief ich meinen Hund zu mir. Er kam mit wedelndem Schwanz. Ich habe ihn gestreichelt und umarmt, habe ihm lieb zugesprochen und schließlich diese Pistole hier an den Kopf gesetzt. Und weißt du, was das Schlimmste daran ist: Er hat mir geschmeckt. So ist das mit dem Hunger. Du siehst die Welt von oben, Falke, und glaubst, alles zu sehen. Aber ich sehe die Welt von unten, und ich lebe immer noch.“
Das Mädchen war in ein Buch vertieft, als sie es hörte, ein mächtiges Rauschen, wie ein Wasserfall in der Ferne. Sie warf den Kopf in den Nacken, sah die Flugmaschine und rannte los.
Die letzten Jahre waren hart für sie gewesen. Zu lange hatte sie auf die Rückkehr ihres Falken gewartet. Sie tanzte zwar weiterhin, doch etwas hatte sich verändert. Sie war noch immer wunderschön, doch ihre Bewegungen sahen anders aus, mitunter wirkten sie bemüht. Die atemberaubende Leichtigkeit, die einst jedem ihrer Schritte innewohnte, hatte sie verloren.
Als sie fast schon den Flugplatz erreicht hatte, bemerkte sie einen schwarzer Koffer am Wegesrand. Sie hörte ein Knacken, drehte den Kopf und sah einem Mann aus dem Wald heraus spazieren. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn und eine Schaufel in der Hand. Er legte sie ab und trat zu ihr.
„Hallo“, sagte er.
„Hallo“, sagte sie. „Wer bist du?“
„Wo ich herkomme, bin ich der letzte Mensch auf Erden. Hier bin ich wohl der fremde Mensch.“
„Ja“, sagte sie, „so ist es. Hast du einen Falken gesehen?“
„Ja.“
„Er ist tot, nicht wahr?“
„Woher weißt du das?“
„Ich spüre es. Seit er mich verlassen hat, begleitet mich ein Ziehen in der Brust, das uns verbindet. Dieses Ziehen ist nun fort.“
„Der Falke, den ich kannte, hat gerne von einer Schmetterlingsfrau mit rotem Haar erzählt, einer wunderbaren Tänzerin, die ihn im Traum besucht hat. Du bist diese Frau, nicht wahr?“
Das Mädchen senkte den Kopf und begann zu weinen.
„Es tut mir sehr leid“, sagte der Mann.
„Du kommst mir sehr bekannt vor“, sagte sie. „Mein Leben lang habe ich von einem fremden Mann geträumt, der mich fängt und in einen Käfig steckt. Bist du etwa dieser fremde Mann?“
„Ich ziehe es vor, mich aus fremden Träumen rauszuhalten. Du musst also von einem anderen Fremden geträumt haben. Gestatte mir dennoch die Frage, schöne Schmetterlingsfrau, bloß aus Interesse, was passiert, nachdem der fremde Mensch dich gefangen und in den Käfig gesteckt hat?“
„Ich bringe ihn dazu, ebenfalls in den Käfig kommen. Und dann schließe ich die Tür.“
„Und nachdem du die Tür zugemacht hast – tanzt du immer noch so schön?“
„Ich tanze weiter, so gut ich eben kann.“
„Nun“, sagte Mann. „So schlimm hört sich das doch gar nicht an.“
„Könnte wohl schlimmer sein.“
„Oh ja“, sagte er, „das könnte es.“
Und so kam es, dass der Mann und die Schmetterlingsfrau zusammen in ein Haus zogen und eine Familie gründeten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.