Tränes Weihnacht
Frau Träne saß in ihrem Sessel direkt vor dem Kamin. Während sie das prasselnde Feuer betrachtete, dachte sie an die vielen vergangenen Weihnachtsfeste, die sie mittlerweile einsam zu Hause gewesen war. Sie begann - wie jedes Jahr – zu weinen. Ihre Tränen tropften trostlos auf den Boden, wo sie durch die Wärme des Kamins schnell trockneten. Um ihr Haus wehte ein kalter, eisiger Wind und das Dunkel hatte bereits seit einigen Stunden die Welt um sie herum eingehüllt.
Frau Träne war wirklich alleine. Ihr Mann war vor vielen, vielen Jahren verstorben. Ihre Ehe war kin-derlos geblieben und der Rest der Verwandtschaft und Freunde befand sich weit weg oder wollte in dem Kreis ihrer Familie feiern.
Doch plötzlich klingelte es an der Tür. Frau Träne blickte vom Kamin auf und schaute durch rote, verweinte Augen auf die Uhr. Es war halb acht am Heiligen Abend. „Wer will so spät denn noch etwas von mir?“, dachte sie bei sich. Sie nahm ein Taschentuch, wischte sich so gut es ging die Tränen aus dem Gesicht, ging zur Tür und öffnete diese langsam und bedächtig. Da blickte sie ein Mann in zer-lumpten Kleidern und etwa in ihrem Alter hoffnungsvoll an. Er war ein Bettler.
„Guten Abend“, sagte sie überrascht, „was kann ich für Sie tun?“
Der Mann antwortete nicht. Doch durch den dichten, grauen Vollbart war deutlich ein Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen. Auf seltsame Weise fand es Frau Träne aufbauend, dass das freundliche Gesicht des Fremden ihre einsame Nacht erhellte. Der Mann lächelte weiter. Frau Träne begrüßte ihn noch einmal und fragte ihn wiederum, was er wolle. Da zog der Mann einen alten, zerfledderten Block und einen Stift aus einem vergilbten Stoffbeutel und begann etwas auf die erste Seite zu schreiben. Als er nach einiger Zeit fertig war, hielt er Frau Träne lächelnd das Blatt entgegen. Sie las:
„Guten Abend und wunderschöne Weihnachten. Ich heiße Erwin Schmunzel und bin stumm. Ich ziehe umher und habe kein zu Hause. Ich wollte Sie nur bitten, mir eine Tasse Tee herauszubringen, damit es mir in dieser eisigen Nacht ein bisschen wärmer werden kann. Dann bin ich auch schon wie-der weg. Bitte haben Sie keine Angst vor mir!“
Frau Träne las den Zettel. Sie wusste zunächst nicht, was sie davon halten sollte. Es war schon sehr seltsam, dass dieser Mann gerade am Heiligen Abend zu ihr kam und sie um eine Tasse Tee bat. Sie überlegte kurz, doch schließlich lud sie ihn ein, zu ihr hereinzukommen. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr er am ganzen Leib vor Kälte zitterte. Sofort holte sie eine warme Decke, wickelte ihn fürsorglich darin ein und forderte ihn mit freundlichen Worten auf, sich auf das Sofa zu setzen. Der Mann lächelte sie mit strahlenden Augen an. Doch Frau Träne fühlte sich nun sichtlich wohl, erfreut darüber, dass sie am Heiligen Abend doch nicht ganz alleine sein musste. Schnell ging sie in die Küche, setzte Teewasser auf, holte einen Knochen zum Suppekochen aus der Gefriertruhe und bereitete ein wenig Brot und Wurst vor.
Als sie mit der Tasse Tee in der Hand wieder zu Herrn Schmunzel kam, hielt der ihr mit freundlicher Miene einen Zettel entgegen, auf den er geschrieben hatte:
„Vielen herzlichen Dank! Sie sind wirklich sehr freundlich zu mir. Eigentlich wollte ich doch nur schnell eine Tasse Tee und Sie bitten mich herein und schenken mir Wärme. Ich wollte Ihnen keine Umstände machen. Schon seit langer Zeit wurde ich von einem Menschen schon nicht mehr so nett behandelt.“
„Na, na, jetzt warten Sie erst mal bis sie richtig gegessen haben!“, antwortete Frau Träne. Dennoch war ihr die Freude über diese herzlich geschriebenen Zeilen deutlich anzumerken: „Kann ja nicht sein, dass Sie am Heiligen Abend allein durch die Gegend laufen und nirgends was Warmes zu essen kriegen. Das werde ich schon ändern!“
Sie ging wieder in die Küche, holte die fertig gekochte Suppe, die Wurst und das Brot. Herr Schmun-zel verschlang förmlich das Essen, doch vergaß er dabei nie, Frau Träne immer wieder dankbar zu zu-nicken und zu lächeln. Es schien, als erhellten sein Lächeln und seine Freude das gerade noch so triste Wohnzimmer mit unsagbarem Glück.
Da läutete es erneut an der Tür. Frau Träne war überrascht, dass noch jemand zu ihr kam, ging zum Eingang und öffnete zögernd die Tür. Da sagte ein junger Mann zu ihr:
„Schönen Abend und frohe Weihnachten. Es tut mir leid, dass ich sie in der Heiligen Nacht störe, aber mein Auto hat 300 Meter von hier seinen Geist aufgegeben und ich muss nun auf den Abschlepp-dienst warten. Es ist bitter kalt draußen und ich friere. Wenn es blöd läuft, kann das bis morgen früh dauern. Ich habe bei Ihnen Licht gesehen und habe mir gedacht, dass ich Sie frage, ob ich mich viel-leicht ein wenig bei Ihnen aufwärmen könnte. Wenn es zu unverschämt ist, dann gehe ich natürlich wieder. Ich kenne mich in dieser Gegend leider nicht aus und habe auch nirgends ein Hotel oder eine Wirtschaft gesehen.“
„In unserer Gegend ist wenig los und Hotels haben wir hier nicht. Aber ich lasse Sie natürlich nicht in der Kälte stehen. Sie sind nicht der einzige, der heute meine warme Stube der kalten Straße vorzieht. Kommen Sie herein, Herr...“
„Wort“, entgegnete der Mann, „ Johann Wort.“
Beide gingen ins Haus. Frau Träne wies Herrn Wort freundlich den Platz auf dem Sofa neben Herrn Schmunzel zu, der den Neuankömmling mit einem freundlichen Lächeln willkommen hieß. Herr Wort erwiderte das Lächeln und begrüßte ihn ebenfalls:
„Wunderschönen guten Abend und frohe Weihnachten, Herr ...“
„Oh Entschuldigung, ich hab das Vorstellen vergessen“, bemerkte Frau Träne, während sie schon wieder auf dem Weg zur Küche war, „das ist Herr Schmunzel. Er war auch alleine in dieser kalten Nacht und wärmt sich nun ein bisschen bei mir auf. Er ist stumm.“
Herr Schmunzel nickte zustimmend bei den Worten von Frau Träne.
„Also dann, frohe Weihnachten, Herr Schmunzel“, führte Herr Wort den Satz von vorher zu Ende.
Die beiden Herren schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen. Da kam schon Frau Träne wieder, die schnell in der Küche noch einen Teller für Herrn Wort geholt hatte. Sie setzte sich den beiden Män-nern gegenüber auf einen Sessel und sagte zu Herrn Wort: „Wenn ich so offen fragen darf, Herr Wort: Warum fahren Sie am Heiligen Abend mit dem Auto durch die Gegend und feiern Weihnachten nicht zu Hause?“
„Eben weil ich Weihnachten zu Hause feiern wollte fuhr ich durch diese Gegend“, erwiderte Herr Wort, „Mein Chef hat mich heute zu einem Meeting nach Salzhausen geschickt, ob ich nun wollte oder nicht. Doch nach dem Meeting fuhr ich sofort los, um zu meiner Frau und meinen zwei Kindern heim-zukommen. Wir wohnen noch ein ganzes Stück von hier entfernt und ausgerechnet heute muss mein Auto kaputtgehen. Na ja, ich habe meine Kinder angerufen und ihnen versprochen, dass wir morgen den Heiligen Abend nachfeiern. Sie haben es verstanden, und ich bin mir sicher, dass sie sich sehr auf morgen freuen.“
„Wie kann ihr Chef nur so herzlos sein!“, empörte sich Frau Träne und schöpfte jedem der beiden noch einen Teller Suppe.
„Ach wissen Sie“, antwortet Herr Wort, „mein Chef sagt, Geschäft ist Geschäft und steht über Al-lem. Ich muss genau so denken, sonst wäre ich bald arbeitslos. Und meine Familie müsste dann mehr und viel Schlimmeres in Kauf nehmen als einen Heiligen Abend ohne ihren Vater.“
Da nahm Herr Schmunzel Stift und Zettel zur Hand und schrieb:
„Ich finde es schlimm, dass es Leute gibt, die so denken wie ihr Chef. Gerade deshalb finde ich es umso schöner, dass es auch noch Menschen gibt, die zu Weihnachten andern selbstlos eine Freude machen. Ich danke Ihnen, Frau Träne, für dieses wunderschöne Weihnachtsfest.“
„Wunderschön?!?“, fragte Frau Träne, „wunderschön, na ja, ich weiß nicht. Ich kann Ihnen doch nicht viel geben, ich war schließlich gar nicht auf Besuch eingestellt. Diese Suppe und das bisschen Tee kann ja noch kein schönes Weihnachtsfest sein.“
„Nein, nein, Herr Schmunzelt hat schon Recht“, widersprach Herr Wort freundlich, „für mich ist es hier so, wie Weihnachten sein sollte. Sie haben uns aufgenommen, ohne uns zu kennen. Sie haben uns zu essen und zu trinken gegeben. Sie waren einfach nur freundlich zu uns, ohne uns überhaupt zu ken-nen. Sie sind eine beeindruckende Frau. Ich danke Ihnen.“
Auf einmal lachte Herr Schmunzel laut auf. Die anderen beiden sahen ihn verwundert an und fragten ihn nach dem Grund. Er schrieb:
„Wissen Sie was jetzt schön wäre?“
Frau Träne und Herr Wort schauten sich an und schüttelten lächelnd den Kopf.
„Ich würde es jetzt schön finden, wenn wir zusammen Weihnachtslieder singen. Ich wünsche mir ein Lied und Sie beide singen es gemeinsam. Was halten Sie davon?“
„Sie haben Ideen, Herr Schmunzel“, erwiderte Frau Träne unsicher lächelnd, „ich habe schon ewig nicht mehr gesungen und ich glaube auch nicht, dass Herr Wort das möchte.“
„Da täuschen Sie sich aber, meine Liebe“, antwortete dieser freundlich aber bestimmt. „Ich würde sehr gerne jetzt mit Ihnen singen. Gemeinsam Weihnachtslieder zum Besten geben ist doch schließlich das Schönste der Weihnachtswelt.“
Frau Träne lachte erfreut auf. Sehr gerne wollte sie singen. Sie hatte sich vorher nur nicht getraut, dies zuzugeben, da sie nicht mit einer solchen Antwort von Herrn Wort gerechnet hatte.
„Dann lasst uns singen!“, rief sie glücklich aus.
Herr Schmunzel schrieb nun sein erstes Wunschlied auf seinen Zettel. Es war „Süßer die Glocken nie klingen“. Grinsend hielt er den anderen beiden den Zettel hin und begann danach, wie ein Dirigent mit den Fingern den Takt vorzugeben. Da er sein Dirigieren noch mit absichtlich theatralischen Gebärden untermalte, mussten Frau Träne und Herr Wort aus tiefstem Herzen über die Witzigkeit des armen Mannes lachen. Schließlich gab er den beiden den Einsatz und sie begannen zu singen. Es schien, als veränderte sich der Raum, in dem sie saßen. Plötzlich war er der prachtvollste Weihnachtsraum, den man sich nur vorstellen konnte. Das spärliche Kerzenlicht schien mehr Wärme und Wohligkeit auszu-strahlen, als die größten Kerzenleuchter der Welt. Eine unvorstellbare Freude erfüllte in dieser Stunde den ganzen Raum und Frau Träne fühlte sich, als könne sie das Weihnachtsglück mit Händen fassen.
Sie hätten die glücklichen Gesichter der drei sehen sollen, wie sie da so saßen und sangen. Herr Schmunzel wurde nicht müde, immer neue Lieder auf seine Zettel zu schreiben und die anderen zwei sangen und sangen und sangen. Längst waren alle Sorgen aus ihren Herzen verschwunden. Es war nun wirklich Weihnachten.
Schließlich schrieb Herr Schmunzel „Stille Nacht“ auf seinen Zettel und gab liebevoll den Takt vor. Nie hatte Frau Träne den Klang dieses Liedes schöner und wunderbarer empfunden als in diesem Moment. Während sie sangen, begann sie wieder zu weinen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, zahlreicher als zuvor. Doch sie weinte nicht, weil sie einsam war. Sie weinte nicht, weil sie keiner beach-tete. Nun weinte sie, weil ihr zwei fremde Männer das schönste Weihnachten geschenkt haben, das sie seit dem Tod ihres Mannes erlebt hatte. Seit damals hatte sie nicht mehr so viel Freude in ihrem Herzen gefühlt, hatte sie nicht eine solche Wärme in ihrer Seele gespürt.
Sie sangen noch die letzte Strophe. Dann kehrten eine besinnliche Ruhe und eine friedvolle Stille in dem kleinen Raum ein. Nur das Feuer gab ab und an einige knisternde Laute von sich. Der Heilige Abend hatte Wärme und Freude in das sonst so einsame Haus von Frau Träne gebracht.
Am nächsten Morgen wachte Frau Träne auf. Sie saß in ihrem Sessel. Ein leichtes Frösteln überkam sie, da das Feuer mittlerweile ausgegangen war. Unsicher schaute sie umher. Nichts war mehr von Herrn Schmunzel oder von Herrn Wort zu sehen, die ihr ein solch wundervolles Weihnachtsfest berei-tet hatten. Und nichts schien auf einen Besuch in der gestrigen Heiligen Nacht hinzudeuten. Alles nur ein Traum? Ihr Verstand sagte „JA“, doch ihr Herz wusste „NEIN“.