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Tränen in Schwarz-Weiß
"Du scheinst nicht aus der Gegend zu stammen. Du hörst Dich kein bisschen moselfränkisch an."
Als er ihr das sagt, nutzt er die Gelegenheit, ihr Gesicht zu mustern und findet Gefallen an ihren Lachfältchen. Ein richtig freches Rotzgörengesichtchen, denkt er. Er hatte ihr gegenüber diesen Ausdruck tatsächlich schon mal fallen lassen, anfangs, als sie sich über das Internet kennenlernten. Sie schien geschmeichelt zu sein.
Scheu sieht er sie weiter an, wie ein kleiner Junge der in der Grundschule zum ersten Mal neben einem Mädchen sitzen muss. Er mag das Schelmische, Mädchenhafte an ihr, obwohl sie bereits 53 ist – vier Jahre älter als er.
Nein, antwortet sie. Ich bin in einem kleinen Dorf bei Saarburg groß geworden. Trotzdem habe ich den Dialekt nie gelernt.
Sie stockt. Dann: Eigentlich kommen wir aus Magdeburg. Wir leben erst seit Ende der 60er in der BRD. Zuhause sprachen wir immer nur Hochdeutsch.
"Saarburg? Mann, ich habe Anfang der 90er in Trier studiert. Das war doch glatt um die Ecke!"
Das ist so seine Masche. Jedes Mal, wenn er Frau im Internet kennenlernt, lässt er den Bildungsbürger heraushängen, den Anti-Macho, den Stenz. Er denkt dabei immer ganz pragmatisch: Eine Frau, die darauf abfährt, passt zu mir. Er ist bereits seit zwei Jahren getrennt.
Schon als sie sich vor einer Dreiviertelstunde unter dem monströsen Reiterdenkmal trafen, wo Wilhelm der I. grimmig ins nahe Frankreich blickt, konnte er es sich nicht nehmen lassen, auf die gegenüberliegende Festung zu zeigen, mit der Bemerkung, dass sie die letzte preußische Trutzburg vor den Toren des Erbfeinds gewesen sei. Sie schien es nicht zu langweilen.
Sie schlenderten den Rhein flussaufwärts und waren schon fast an der Stadtgrenze, als sie einen Biergarten fanden, wo sie sich hinsetzten und zwei Kaffee bestellten.
"Aus der Zone kommst Du? Wie seid ihr denn da raus gekommen?"
"Ganz einfach: Wir sind rausgeschmissen worden! Mein Vater war Dissident und eine Zeitlang in Bautzen. Er hat sich ständig mit den Betriebsdirektor pubertäre Machtkämpfe geliefert und in der Pause seine dümmlichen Walter-Witze zum Besten gegeben - inklusive Fistelstimme. Die Arschgeige hat natürlich nichts auf die Reihe gekriegt, weder politisch noch sonst wie, außer, dass er uns vor allen Leuten zum Klassenfeind gemacht hat.
Meine Mutter todkrank ... Ich hatte sieben Geschwister und mein ältester Bruder ist geistig behindert. Die Genossen waren echt froh, dass sie uns loswurden."
Ihr Gesicht verdunkelt sich plötzlich. Traurigkeit und Melancholie mischen sich in den eben noch so schelmischen Ausdruck.
"Ich kann mich noch daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Ich war vier Jahre alt. Ich habe von jetzt auf gleich alles, aber auch wirklich alles, verloren. Meine Freundinnen, den Kinderhort, unseren Garten, die Straße, in der wir Völkerball spielten ..." Sie stockt. "...und meine kleine, liebe Puppe."
Nach einer peinlichen Pause des Schweigens, fährt sie fort: "Meine Puppe habe ich am meisten vermisst, als wir an der Saar ankamen. Ich habe tagelang Rotz und Wasser geheult. Der Fluss hatte Hochwasser. Aber danach war es gut ...."
"Geh'n wir wieder?", fragt er.
"Ja, warum nicht. Es wird Zeit, dass wir uns ein Restaurant für den Abend suchen."
Sie beugt sich etwas nach vorne, um an ihre Handtasche zu kommen. Er schaut ihr in den Ausschnitt und zwar absichtlich so, dass sie es merkt. Sie blickt hoch und lächelt ihn frech an. Mit ihrer feuerroten Kurzhaarfrisur kann sie sowieso nur schwerlich brav aussehen. Die Traurigkeit ist schlagartig weg und sie zeigt wieder ihr Rotzgörengesicht.
Er kennt das schon aus früheren Online-Dates. Die Wahrscheinlichkeit, im Internet die Liebe des Lebens zu finden ist fast genau so unwahrscheinlich wie im realen Leben. Aber am Ende bleibt meist wenigstens ein erotisches Abenteuer. ... und wer weiß, wie lange man das noch genießen kann. Er spürt wieder einmal den kleinen stechenden Schmerz an der Achillessehne.
Sie zahlen und gehen wieder auf der Rheinpromenade, diesmal flussabwärts, zurück zum steinernen Willi. Sie haben nur noch Augen für einander. Sie bemerken kaum die Frau im Sari und auch nicht die beiden jungen Türkinnen mit ihren knallbunten Kopftüchern, die ihnen entgegen kommen, als sie den riesigen Schatten einer alten, sterbenden Eiche streifen.
Plötzlich wird seine ganze Aufmerksamkeit von ihr weg und hin zu einem erbärmlichen Wimmern gelenkt. Von weitem sieht er einen kleinen, schwarzhaarigen Jungen aufgeregt und weit in den Himmel zeigen. Er heult dabei so herzzerreißend, dass es körperlich wehtut.
Er schaut zunächst verständnislos in dieselbe Richtung, in die der Kleine mit seinem Fingerchen aufgeregt zeigt, und erblickt dann in einiger Höhe und schon weiter über der rechten Rheinseite einen Luftballon. Offensichtlich ist er mit Helium gefüllt und so dem Kleinen in einem Moment kindlicher Unachtsamkeit aus der Hand geglitten.
Hinter dem Jungen steht ein kräftiger Mann orientalischen Typs und schaut genervt und gelangweilt auf den Kleinen herunter. Warum legt er nicht die Hand auf seine Schultern? Warum nimmt er ihn nicht in den Arm?
Plötzlich wird ihm sterbensschlecht, ganz so, als hätte ihn, eine lange Gerade in die Magengrube getroffen. Eine ozeantiefe Schwermut fällt über ihn her, so, als ob das ganze Leid dieser Welt seinen Körper durchdringt, so, als ob der Berg Meru seinen Körper zerquetscht. Er fällt in ein Meer beklemmender Dunkelheit.
Und dann passierte es: Er kann plötzlich nur noch schwarz-weiß sehen. Ja, schwarz-weiß! Ihn fröstelt, wobei ihnen eben noch ein laues Lüftchen aus Richtung der nun untergehenden Sonne angenehm ins Gesicht blies. Ihn befällt die Panik, die sich noch steigert, als es feststellt, dass die ganze Szenerie von einer Filmszene völlig transparent überlagert wird. In der Brücke von Remagen ist zu sehen, wie mehrere Hundert Zivilisten panikartig über die Brücke flüchten, die von einem halben Duzend Baltimores bombardiert wird. Diesen Film hatte er vor Jahren gesehen, und diese eine Szene hat sich, aus ihm noch immer unerfindlichen Gründen, in sein Gehirn gebrannt. In einer Nahaufnahme war zu sehen, wie ein kleines Mädchen auf der Flucht ihre Puppe auf der Brücke fallen lässt, deswegen am Arm der Mutter entgegen der Fluchtrichtung zerrt und verzweifelt versucht, mit der anderen Hand nach der am Boden liegenden Puppe zugreifen. Dann eine gewaltig Explosion und … Nichts … Die Puppe war ihre ganze Welt, in der Krieg keinen Platz hat.
Träume ich? Kann es sein das ich träume? Im Traum ist man sich ja nicht bewusst, dass man träumt. Man hält alles für real, so wie wenn man mittags in der Kantine sitzt und nicht den geringsten Zweifel hegt, dass man dort isst.
Er ist für einen Moment völlig verwirrt, als eine dritte Szene sich eben so transparent über die beiden anderen legt. Er sieht eine Begebenheit aus der Kindheit Ende der Sechzigerjahre. Er war mit seinem Vater auf der Kirmes. Dort hatte er ihm ein kleines Spielzeugauto geschenkt. Er freute sich wahnsinnig. So etwas hatte es nur ganz selten gegeben. Danach waren sie noch an der Mosel spazieren und über eine Brücke gegangen. Er ließ das Auto mit der Hand über das Geländer gleiten, stolperte, und schon fiel das Spielzeug den Fluss. Er hatte keine Gelegenheit, ihm nachzuschauen, denn schon setzte es eine ordentliche Tracht Prügel. … war damals halt so …
Er spürt noch mal die Schmerzen von Vaters Ohrfeigen und plötzlich sieht er alles wieder in Farbe. Das merkwürdige, mehrschichtige, an A Day in the Life erinnernde Panoptikum in Schwarz-Weiß ist mit einem Mal verschwunden. Er fühlt sich unendlich alt und müde, aber ruhig. Er ist wieder in der Welt. Was ist passiert?
Sie schaut ihn verwundert an.
Er schluckt und mit unterschwelliger Aggression sieht er sie an. "Kann der alte Idiot nicht dem Kleinen einen neuen Ballon kaufen?" … Pause … und dann leiser: " … oder ihn wenigstens in den Arm nehmen?"
Sie schüttelt den Kopf.
Beide gehen weiter ohne noch ein Wort zu wechseln. Er hat ganz vergessen, dass sie noch zu Abend essen wollten. Und so manövriert sie ihn zielsicher in das Restaurant La Taverna , unweit vom Fluss.
Sie sitzen dort eine Weile ohne ein Wort zu wechseln. Jetzt fällt ihm ein, weswegen er hier hergekommen ist: Diese reife Frucht, vor Leidenschaft platzend, so süchtig nach Leben, die Lachfältchen, das freche Minenspiel, …
Wenn er diese Frau will – und er weiß jetzt, er will sie wie keine andere vor ihr -, muss er sich aus seiner Starre befreien. Hoffentlich hat sie nichts gemerkt. Sie hält mich sonst für verrückt.
"Du, immer wenn ich mich an Erlebnisse aus meiner Kindheit an der Mosel erinnere, sehe ich diese Szenen immer nur in Schwarz-Weiß vor meinem geistigen Auge. Und weißt Du auch wieso?" Das sagt er im Tonfall eines pensionierten Oberstudienrats.
Er schweigt für einen Moment und sie sieht in amüsiert an.
"Aus meiner Kindheit gibt es nur Schwarz-Weiß-Fotos. Und da ich sie mir immer wieder und wieder anschaue, ist mein Bewusstsein darauf konditioniert, Kindheitserinnerungen immer nur in Schwarz-Weiß zu memorieren."
Das ist er endlich wieder: Der Stenz, der Bildungsbolzen, die fleischgewordene akademische Tradition.
Sie essen, plaudern ein bisschen, tauschen Blicke aus, die Worte überflüssig machen, zahlen, verlassen das Restaurant und schlendern, jetzt Hand in Hand, in Richtung Parkplatz.
Dort angekommen gehen sie in Richtung seines Autos. Er ist klar, dass sie ihres hier stehen lässt und es erst morgen am späten Nachmittag wieder abholt. Das ist sonnenklar, ohne dass sie darüber sprechen.
Eines will er aber vorher noch aus dem Weg räumen.
"Du, mir ist da eben an der der Promenade was passiert …"
"Ich weiß."
"Du hast es bemerkt?"
"Ja."
"Vergessen wir es einfach. Du wirst es nicht verstehen. …jedenfalls noch nicht."
"Doch, ich habe verstanden."
"Das kannst Du nicht."
"Doch. Wir beide sind Kinder von Kriegskindern."
Er sieht sie ratlos an.
"Du warst so außer dir", sie stockt kurz, "weil der kleine Junge all die Tränen weint, die du nie geweint hast"