Tränen, die Du nicht siehst
Als Du gestern anriefst und mir sagtest, dass Deine Welt in Scherben liegt, war ich wie gelähmt. Ein dicker Kloß saß in meiner Kehle und schnürte mir die Luft ab. Nur mit Mühe konnte ich das Zittern in meiner Stimme unterdrücken. Du solltest nicht merken, wie sehr mich Dein Unglück bewegte. Schließlich war ich nicht nur eine Geliebte, sondern ein Freund – für Dich. Ich jedoch sah viel mehr in Dir. Durch Dich hatte ich erfahren dürfen, was wahre Liebe ist. Ich konnte verzichten, ohne unglücklich zu sein. Ich konnte selbstlos lieben, Dich, weit entfernt von mir, den Mann einer anderen Frau, und ich konnte mich begnügen mit den kleinen Zärtlichkeiten, die wir uns gelegentlich gestatteten. Nur Dein Glück war mir wichtig, ganz egal, wo und von wem Du es bekommst.
Jetzt hattest Du mir mit Tränen erstickter Stimme gesagt, dass Dein Glück Dich verlassen hat. Und Schuld daran war nicht Deine kleine Untreue. Das wäre leichter gewesen. Sie hatte sich verliebt. Sie hatte gesagt, dass es ihr leid tut, doch sie könne nicht mehr mit Dir leben. Sie hätte ihr wahres Glück gefunden.
Meine Chance, Dich doch an meine Seite zu bekommen? Vielleicht. Aber da war keine Freude. Es schmerzte. Es brannte meine Seele aus, denn den glücklichen Mann, den ich liebte, gab es nicht mehr. Am anderen Ende des Telefons stand ein Mann, dem plötzlich der Boden unter den Füßen fehlte, und ich wusste, niemals das ersetzen zu können, was sein Leben so wunderbar machte. Ich war immer nur ein winziger Teil dieses großen Glücks.
Mancher mag nun denken, dass es ihm recht geschehen sei. Wer betrügt, muss damit rechnen, dass er eines Tages selbst der Betrogene sein wird. Doch war er seiner Frau tatsächlich jemals untreu? Hatte er nicht immer gesagt, dass er sie über alles liebt, sich niemals von ihr trennen würde, und war sein Verhältnis zu mir nicht eher soetwas wie das berühmte I-Tüpfelchen, das ein Gesamtbild letztlich nur perfekt macht?
Aus trotziger Angst heraus hattest Du ihr dann von mir erzählt. Du wolltest ihr weh tun. Sie aber sagte nur, sie wüsste es, und dass es nie eine Rolle gespielt hätte. Ich sei keine Gefahr für sie gewesen. Sie war sich Deiner Liebe sicher. Sie schäme sich dafür, bei ihrer Entscheidung nur an sich gedacht zu haben. Kein Trost für Dich.
Dein Schluchzen war so furchtbar. Ich wollte Dich in den Arm nehmen, aber Du warst weit weg, und nicht nur räumlich betrachtet. Und selbst wenn ich bei Dir gewesen wäre, hättest Du nicht als Mann in meinem Arm Trost gesucht. Mir rannen die Tränen über das Gesicht. Die Schminke brannte in den Augen. Ich sehnte mich nach Deiner Nähe, um meinen Schmerz über Dein Leid zu lindern. Dein Unglück machte mir klar, dass meine Liebe zu Dir nicht so selbstlos ist wie ich bisher glaubte.