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Tränen beim Abendessen auf Sandfjell
Tränen beim Abendessen auf Sandfjell
Meine Schritte verlangsamten sich und verstummten schließlich ganz. Ich sah auf. Durchgeschwitzt, kraftlos und dick eingepackt in einer Winterjacke stand ich zwischen den Blaubeerbüschen, die in kleinen, mit Erde gefüllten Gesteinsspalten wuchsen. Die Büsche waren nur noch Gestrüpp, die irgendwann im Spätsommer abgeerntet wurden und sich jetzt nur noch dem kargen und tristen Klima des kalten Herbstes beugten. Auf dem Rücken hatte ich meinen großen, schweren Wanderrucksack, den ich extra für diese Tour im Keller ausgegraben hatte. Die untergehende orange-rote Sonne blendete mich. Ich versuchte mit ausgestrecktem Arm die Handfläche so zu positionieren, sodass ich noch etwas erkennen konnte. Heute Abend hing sie bereits tief. Bald würde sie ganz untergegangen sein und ich war positiv eingestellt, das miterleben zu dürfen. Heute war so ein Tag, an dem mich nichts aufhalten konnte und an dem ich alles so durchzog, wie ich es geplant hatte. Ich genoss die Abwechslung zum eher langweiligen Bürojob und freute mich auf das was kommen sollte.
Da vorne war sie, die Klippe vom Sandfjell. Nur noch wenige Schritte über's Fjell waren nötig um mein Ziel zu erreichen. Im Gegenlicht der Sonne war ein dunkler Umriss zu erkennen und nach kurzem betrachten erkannte ich einen anderen Menschen. Das lange Haar kam mir bekannt vor. Natürlich war sie es. Nur wir kamen auf die verrückte Idee so spät noch hier oben herumzulaufen. Schmunzelnd sah ich ihr dabei zu, wie sie sich im Licht der Sonne ihren Zopf neu band. Meine Beine fingen an etwas zu zittern und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Der Aufstieg war anstrengend, aber so kurz vor dem Ziel durfte ich nicht aufgeben. Nein, ich musste weiter. In wenigen Schritten hatte ich meinen damaligen Lieblingsplatz aus der Jugend erreicht. Ich würde mich ausruhen können und den Abend mit einer wundervollen Person genießen. Vorsichtig machte ich einen Schritt. Er fühlte sich gar nicht so schwer an wie erst angenommen und ehe ich mich versah, lief ich mit einem ausgestrecktem Arm der untergehenden Sonne entgegen.
Etwas keuchend erreichte ich Mira. Sie hatte bereits ihre Sitzunterlage ausgebreitet und genoss sitzend die Aussicht auf die Stadt im Tal, den Fjord, die Schären und das Meer. Sie war um einiges leichter und sportlicher gekleidet als ich, aber ihre Jacke wirkte noch dick genug um dem kalten Wind vom Meer standzuhalten. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, den anderen Zopf wohl wieder verworfen. Es erinnerte mich an unsere Kindheit, als wir auf dem Schulhof saßen und ich mit meinen Händen immer und immer wieder ihren Pferdeschwanz durchkämmt hatte, nachdem ich ihr geholfen hatte, die Apfelschorle zu öffnen.
„Auch geschafft, Eirik?“, fuhr sie mich spöttisch an und drehte ihren Kopf zu mir.
„Ja“, keuchte ich und versuchte zu lächeln.
„Ich habe dich ganz schön abgehängt im letzten Drittel des Aufstieges“, sagte sie selbstsicher und voller Stolz. „Ich erinnere mich noch an Zeiten, wo es genau umgekehrt war“, fügte sie hinzu.
„Die alten guten Zeiten, nicht wahr?“, sagte ich und löste die Bauchschnalle meines Wanderrucksacks.
„Ja, die alten guten Zeiten“, stimmte sie mir mit nachdenklicheren Stimme zu und sah wieder über die Stadt hinaus, den Fjord entlang bis an den Horizont des Meeres.
„Man wird auch nicht jünger“, fügte sie seufzend hinzu.
„Es tut gut, wieder hier oben zu sein!“, fing ich an, setzte meinen Rucksack ab um darin aus Gewohnheit nach meiner eigenen Sitzunterlage zu suchen und fügte hinzu: „Aber ich vermisse das Grüne des Sommers.“
„Der Herbst ist doch aber auch schön!“, entgegnete Mira ohne zu zögern und warf einen provozierenden Blick zu mir herüber. Ich verdrehte die Augen, gab dann mit einem „Ja, natürlich“ und einem Lächeln nach.
Mira mochte den Herbst schon immer mehr als die anderen Jahreszeiten. Das war mir entfallen, da wir uns schon länger nicht mehr gesehen hatten. Es war die Jahreszeit in der sie am meisten Lebensenergie hatte. Ich dagegen liebte den Sommer. Der Herbst war hier oben im Norden einfach zu kalt. Schon etwas nervös kramte ich in meinem Wanderrucksack weiter nach meiner Sitzunterlage und ärgerte mich über die große Picknickdecke, die es schwer machte etwas zu finden. Dann fiel mir auf dass ich manchmal echt konfus und chaotisch sein konnte. Natürlich konnte ich etwas nicht finden, was ich gar nicht dabei hatte und musste über mich lachen.
„Was ist denn? Warum lachst du?“
„Ach nichts!“, entgegnete ich und zottelte die Decke aus meinem Rucksack.
„Eine Decke, was hast du denn vor?“
„Ich will dich zum Essen einladen. Natürlich nur wenn es dir recht ist.“, antwortete ich, warf die Decke in den Wind und sah zu wie sie sich auffaltete.
„Nein … ich ... ja!“, stotterte sie schnell, sprang auf, fing die eine Seite der Decke eifrig aus dem Wind und half mir sie auf dem Felsen ordentlich hin zu legen. Mira wirkte etwas überrascht. Es machte mich ein wenig stolz. Sonst war ich eher schlecht darin andere Leute zu überraschen und Mira war nochmals ein Kaliber für sich. Ich nahm die beiden Teller und das Besteck aus meinem Rucksack und gab es Mira. Sie nahm alles mit lachenden Augen entgegen und begann damit es schnell auf der Decke zu platzieren. Sie wirkte wie ein kleines Kind auf mich, das schon Wochen vor dem Urlaubsstart die Koffer packte. Sie konnte es wohl gar nicht erwarten. Ich kannte sie so aufgeregt gar nicht. Sie hatte sich verändert und ich wusste nicht, ob ich es mochte.
„Du hast doch nicht etwa ...“
„Doch habe ich!“, unterbrach ich sie und reichte ihr zwei Weingläser.
„Oh Gott! Du verrückter romantischer Held!“, rief sie mit verdrehten Augen und schüttelte leicht den Kopf. Es brachte mich kurz zum lachen. So etwas Spöttisches hatte ich ja noch nie aus ihrem Mund gehört. Mira platzierte die Gläser neben den Tellern.
„Es wundert mich, dass du noch keine gefunden hast, Eirik“, meinte sie und setzte sich auf die Decke.
„Das Leben ist, wie es ist.“, sagte ich und zog die Schultern nach oben, reichte ihr anschließend die Flasche Wein aus meinem Rucksack. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, da ich unsicher war, ob ich diese Art von Gespräch jetzt überhaupt führen wollte.
„Weißt du Eirik, mir ist den letzten Tagen so richtig klargeworden, wie unglücklich ich eigentlich geworden bin“, fing sie plötzlich an zu erzählen und ihre Miene wurde ernst. Also wurde es scheinbar doch diese Art von Gespräch. Ich seufzte und griff mit beiden Händen tief in meinen Rucksack.
„Es scheint so als wäre das ganze Leben einfach an mir vorbeigegangen.“, setzte sie fort. Verwirrt riss ich meinen Blick von dem Inhalt meiner Tasche los und musterte sie. Sie sprach ja nahezu so, als wäre ihr Leben in kürze vorbei. Wollte Mira sich jetzt bei mir ausheulen über irgendetwas? Ich hatte mir jedenfalls ein ganz anderes Gespräch vorgestellt. Ich hatte darauf gehofft, dass sie mal etwas von Deutschland erzählen konnte. Sie war so lange fort gewesen.
„Jetzt aber mal halb lang. Wir sind gerade mal Ende zwanzig und finden sicher noch unser Glück!“, benamste ich und sah das Ganze damit als abgegessen für heute Abend. Ich stellte die beiden großen Tuppaboxen auf der Decke ab und setzte mich endlich auch nieder. Mira dachte über etwas nach, ob es meine Worte waren oder nicht, konnte ich nicht sagen. Sie machte einen zerrütteten Eindruck auf mich.
„Alles gut bei dir, Mira?“, fragte ich in Sorge und hoffte, dass es nicht ganz so wild war.
„Ja, alles gut.“ antwortete sie mit viel Luft in der Stimme und versuchte zu lächeln, „Und was hast du Schönes mitgebracht?“
„Griechische Fleischbällchen mit Zaziki, dazu etwas Wein und natürlich schokoladenüberzogene Erdbeeren.“, antwortete ich und freute mich schon darauf, alles zusammen mit Mira zu verknusen.
„Wo ist das Pölsebrö?“, fragte sie und ich sah, wie sich die Sonne in ihren Augen spiegelte.
„Das klassisch norwegische Würstchen mit Brot muss ja auch nicht immer sein.“, fügte ich hinzu, stolz die absurde Tradition gebrochen zu haben.
Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen lachten mich wieder an, „Du bist einfach ...“
„Unmöglich?“, unterbrach ich sie und lächelte frech.
„Gib schon her!“, befahl Mira, zog die eine Tuppabox mit den Fleischbällchen grinsend zu sich heran und tat sich auf.
Ich öffnete den Wein mit dem Korkenzieher meines Taschenmessers und schenkte uns ein. Der kalte Wind nahm etwas zu und die Sonne war inzwischen ein wenig hinter dem Horizont verschwunden. Sie nippte an ihrem Glas und schob sich gleich danach ein Fleischbällchen in den Mund. Ich zog die Tuppabox wieder zu mir herüber und der restliche Inhalt wanderte auf meinen Teller. Wir lächelnd uns an und ich hob mein Glas.
„Sag jetzt aber bitte nicht so etwas wie: Auf ewiges Leben oder so!“, warf Mira ein, runzelte die Stirn und hob ebenfalls ihr Glas. Wo war meine Mira und was hatte dieses verfluchte Mädel mit ihr gemacht?
„Ewiges Leben … hatte ich nie vor!“, sagte ich spöttisch und verzog etwas das Gesicht.
„Skål, Eirik“
„Skål, Mira“, bestätigte ich und wir nahmen beiden einen Schluck vom Wein. Er war fruchtig, etwas sauer im Abgang und musste eigentlich noch etwas länger lüften. Ein sehr jungfräulicher Wein, der gut zu dem Zaziki passte, wie ich fand.
„Denkst du viel über unsere Vergangenheit nach?“, fragte Mira und tunkte ihr Fleischbällchen in dem Zaziki auf ihrem Teller, schob ihn sich anschließend in den Mund.
„Ab und an denkt wohl jeder mal über seine Vergangenheit nach“, stellte ich fest und aß eins meiner Fleischbällchen. Mira kaute noch kurz zu Ende und setzte dann an:
„Weißt du noch damals, als wir die Leiter, die am Dach von Kjellands Stall lehnte, weggezogen haben und der alte Kjelland auf dem Dach fest saß?“
„Ja“, lachte ich, „Daran kann ich mich noch gut erinnern!“ Und das konnte ich wirklich. Viele verschiedene Erinnerungen an unsere gemeinsame Kindheit blitzen in mir auf. Ich erfreute mich an einem weiteren Fleischbällchen. Wir sind oft nach der Schule auf dem Weg nach Hause vom Straßenrand der Landstraße auf das Kornfeld hinausgelaufen und haben uns dann mitten im Feld unseren kleinen Korngreis gemacht. Wir hatten uns extra dafür unser Pausenbrot aufgehoben. Sie hatte Salami mit Gurke, ich Schinken mit Möhrchen. Kurz vor der Ernte im Herbst sah das Kornfeld vom alten Kjelland in Straßennähe wie ein Schlachtfeld aus. Viel von seinem Korn war umgeknickt. Dafür bekamen wir Feldverbot und wir rächten uns mit der Mission Leiter. Ganze vier Stunden soll er wohl da oben auf der leeren Scheune verbracht haben, angeblich.
„Aber du Mira, was ist denn eigentlich los mit dir? Du bist die ganze Zeit so eigenartig und fragst jetzt auch noch nach unserer Vergangenheit. Ich bin doch eher der nostalgische Typ, aber du?“, fing ich an. Es hätte mir ja sonst keine Ruhe gelassen, wenn ich nicht gefragt hätte. Ich war auf fast alles vorbereitet, Liebeskummer, Probleme bei der Arbeit, aber nur nicht auf das was kam. Ihre Augen wurden feucht, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Mit dem Ärmel versuchte sie, die Tränen aufzuhalten, doch sie strömten immer nach. Dann fiel sie mir in die Arme, warf dabei ihr Glas Wein um und ich fühlte mich eigenartig, so mit der Gabel in der Hand. Ich hatte sie nie Weinen gesehen, nie. Sie hatte mir sonst auch immer alles erzählt, verlor aber nie so sehr die Fassung wie heute. Etwas in ihrem Leben musste kaputt sein, etwas was vermutlich nicht mehr zu reparieren war.
„Ich habe Krebs, Eirik!“, flüsterte sie und drückte mich fest. Mein Herz setzte aus. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Es war für mich einfach nicht greifbar gewesen. Es war so unfair.
„Seit wann weißt du es?“ flüsterte ich zurück nachdem ich kurz inne gehalten hatte.
„Vorgestern“, schniefte sie mir ins Ohr, „Ich habe Angst!“ Ihre Stimme hörte sich ganz rau vom Weinen an. Ich legte die Gabel vorsichtig aus der Hand und drückte sie zurück, strich ihr dabei über den Rücken. Wie würde es wohl werden, wenn ich sie schon bald nicht mehr so in den Arm nehmen konnte, wenn sie im sterben lag?
„Dass ich nach Deutschland zu diesem Typen ausgewandert bin, war mein größter Fehler.“ flüsterte sie weiter nach einem Moment der Stille, „Ich war so naiv. Ich hätte uns niemals aufgeben dürfen.“ Sie drückte mich nochmals fest. „Es tut mir alles so leid!“, fügte sie hinzu. Mir tat es auch leid, einfach alles. Ich hatte damals in der Jugend sehr hart um Mira gekämpft. Dann kam einfach dieser Deutsche und nahm sie mir weg. Nach der Oberstufe beschloss sie schließlich, mit ihm in Deutschland zu studieren, bei ihm zu wohnen … alles was ich auch mit Mira tun wollte, wenn wir groß waren.
„Und deswegen bist du zurückgekommen?“, flüsterte ich zurück, um mich zu vergewissern.
„Ja, gleich mit dem nächsten Flieger und ich werde hierbleiben!“ versprach sie.
Ich konnte das nachvollziehen. Hier war auch ihre Familie zu Hause, hier war sie groß geworden und hierher wollte sie zurück, um die ganzen Bilder der Vergangenheit vor sich zu sehen, um sich zu erinnern. Ich musste jetzt einfach ihr so viel ich konnte helfen, ihr die eine Konstante im Leben bieten, die ich für sie immer sein wollte. Ich nahm mir vor nicht nachtragend zu sein was den anderen Typen an beging. Ich wollte ihr helfen, egal wie. Ich freute mich sie wieder bei mir zu haben, aber nur den Umständen entsprechend.
„Aber jetzt will ich die Schokoerdbeeren!“, flüsterte ich und sie lächelte. Ich sah es nicht, aber ich konnte es spüren.
„Ich werde mich bemühen, egal was sein wird, versprochen!“, versprach ich ihr, hoffte, ihr die nötige Sicherheit und den nötigen Halt geben zu können. Und ich hielt das Versprechen oder bin zumindest im Glauben es gehalten zu haben, bis heute!