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Tour de soleil

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02.02.2003
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Tour de soleil

Kilometer fünfzehn und Oma ist voll in Fahrt. Die Sonne flirrt und luftspiegelt auf dem staubigen Radweg, aber Omas Redefluss kann durch die brütende Mittagshitze nicht zum Versiegen gebracht werden. Mama fährt neben ihr, schwitzend, keuchend, und tritt verbissen in die Pedale und riskiert nur ab und zu einen kurzen Seitenblick auf ihre Schwiegermutter. Der genervte Ausdruck auf ihrem Gesicht spricht Bände, aber davon lässt sich Omi nicht beeindrucken.

Früher, ja früher haben sie auch herrliche Ausflüge gemacht. Sie und Opa - Gott hab’ ihn selig - und der Junge. Wie glücklich sie damals doch waren und welchen Spaß sie hatten, und wie dünn der Bub seither geworden ist. Ob Mama das noch nicht aufgefallen ist, will Oma wissen. Und auch, warum die Kinder so verwahrlost aussehen? Wann Mama denn mal mit denen zum Frisör gehen wird, fragt sie. Tausend Bissigkeiten würden Mama einfallen, aber sie hat beschlossen stumm zu leiden. Düster fixiert sie den breiten Rücken des „dünnen Buben“, der kaum zwanzig Meter vor ihr neben den Kindern radelt. Warum hört der sich nicht dieses Geschwafel an, denkt sie frustriert.

Kilometer sechzehn und die Kinder sind am Ende. Die Sonne prügelt unbarmherzig auf ihre weizenblonden Köpfe ein und ihr Durst ist grenzenlos. Die Tochter quengelt, ihr Hinterteil fühle sich an wie ein Nadelkissen. Der Sohn lamentiert lautstark über seine schmerzenden Knie. Beide wollen sie von Papa wissen, wann sie denn endlich, endlich zum Gasthaus kommen.

Aber Papa schwitzt wie ein Schwein und hat nicht die geringste Ahnung, wie weit das verfluchte Wirtshaus noch weg ist. Sein Schädel dröhnt, Schweiss läuft ihm in die Augen und sein Rücken jault bei jedem Tritt in die Pedale laut auf. Ob Papa noch Wasser in der Flasche habe, hechelt der Sohn. Schon lange nicht mehr. Sie will sofort eine Pause machen, rebelliert die Tochter. Nicht schon wieder! Papa ist mit den Nerven am Ende, als er grimmig zu Mama und Oma blickt, die fröhlich zwanzig Meter hinter den dreien radeln. Warum hört die sich nicht dieses Gejammer an, denkt er frustriert.

Kilometer siebzehn und erst jetzt bemerkt der Liebhaber den Sonnenbrand auf seinem Hintern. Er wähnte sich im Schatten der riesigen Birken gut geschützt, aber die Sonne findet immer einen Weg. Auch egal, beschließt er und bemüht sich, nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Keine Wolke am Himmel, denkt die Liebhaberin. Ihr fehlen die Risse der Schlafzimmerdecke, die sie ihn solchen Situationen zu zählen pflegt. In der Nähe hört sie nerviges Kindergequake und Erwachsenengekeife, das rasch vorüberzieht. Ob die uns hier sehen können, geht ihr durch den Kopf. Ein Sonnenstrahl blendet sie und sie schließt die Augen. Vielleicht hält er das ja für Erregung, überlegt sie. Aber er kann nichts mehr denken und plötzlich versteift sich sein ganzer Körper und er stöhnt auf. Noch zwei finale Stöße, dann findet sein gequältes Hinterteil Erlösung im kühlen Gras. Du hast ihn doch rechzeitig rausgezogen, fragt sie. Was denn genau ihr Problem sei, will er nun wissen. Nicht schon wieder, denkt sie frustriert.

Kilometer achtzehn und der Wirt kichert irre, als er durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden nach draußen blinzelt. Auf der glühenden Terrasse seiner Gaststätte steht eine schwitzende, staubschmutzige Familie und sieht nicht glücklich aus. Ein Mädchen, das weint und ihren Po reibt, ein Junge, der finster seinen Vater anblickt. Der rüttelt wild an der abgesperrten Eingangstür und flucht und keift seine Frau an, dass er viel lieber ins Schwimmbad gegangen wäre. Eine alte Frau mit riesigen Schweissflecken unter den Achselhöhlen redet beschwichtigend auf ihn ein.

Sieh dir diese Idioten an, flüstert der Wirt zu seiner Frau, die hinter ihm sitzt. Sieh sie dir nur an. Er grinst breit, bleckt seine gelben Zähne und streichelt zärtlich die Schrotflinte, die er in den Händen hält. Dicke Schweissbäche rinnen über sein mondrundes Gesicht. Seine Frau würde gerne schreien, aber das breite Klebeband über ihrem Mund lässt sie kaum atmen. Und so schnauft sie nur wild durch ihre blutende Nase und zerrt an den Fesseln, die ihre tauben Arme an ihrem Rücken zusammenzwingen. Ihre Augen quellen panisch hervor, als sie ihrem Mann dabei zusieht, wie er zur Tür geht und dabei den Abzugshahn seines Gewehres spannt. Seid ihr durstig?, gurrt er fröhlich vor sich hin. Seid ihr durstig?

 

hi

zuerst dachte ich, das wär ne Satire auf den allseitsbekannten Familienausflug auf den hauseigenen Drahteseln. Aber das Ende is ja hart :)
Hab den letzten Abschnitt zweimal lesen müssen, aber mir is der Zusammenhang immer noch nich klar.
Soll das eine Art Gegensatz zur scheinbaren Familienidylle sein?

Der erste Abschnitt gefällt mir wirklich gut. Flüssig geschrieben und nicht zu komplizierte Sprache.
Hab dabei irgendwie an den Zug der Israeliten in die Wüste denken müssen :D

Aber Papa schwitzt wie ein Schwein und hat nicht die geringste Ahnung, wie weit das verfluchte Wirtshaus noch weg ist

Besonders der Satz hats mir angetan.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

hallo wolkenkind,

danke fürs lesen und kommentieren.

für mich ist der hauptdarsteller meiner story einfach der radweg, an dem entlang menschen und ihre schicksale aufgereiht sind, wie perlen an einer kette.
ob es sich dabei um ein familienglück handelt, das bei genauerem hinsehen gar nicht so glücksbehaftet ist, ein junges liebespärchen, dessen körperliche vereinigung von mehr oder weniger klassischen beziehungsproblemen überschattet wird, oder einen durchgeknallten wirt, ist dabei eher sekundär. ich wollte einfach darstellen wieviel an 'leben' sich auf drei läppischen radkilometern ansammeln kann.

lg p.

 

Hi journey2heaven,

hat mir gut gefallen die kleine Geschichte. Ich mag Stories bei denen verschiedene, zunächst unzusammenhängende Handlungen sich abspielen, die am Ende irgendwie zusammentreffen. Auch mir erschien der Anfang leicht satirisch; später dann bleibt einem das Lachen aber in der Kehle stecken. Der gehetzte Stil passt hier zur schnell voraneilenden Handlung.

Unisono wollen sie von Papa wissen, wann sie denn endlich, endlich zum Gasthaus kommen.
"Unisono" hat mir nicht ganz so gut gefallen, vielleicht weils zu hochgestochen wirkt. :-/
Ansonsten - sehr gern gelesen.

Ginny

 

hi ginny,

erstmal danke für deine kritik.

auch mir erschien das wort unisono beim schreiben der geschichte als eher unpassend und disharmonisch. sollte vielleicht durch gleichzeitig (was sinngemäß zwar etwas anderes wäre) oder einfach durch beide ersetzt werden.

lg p.

 

Ich hab beim Lesen auch "beide" als passender empfunden.
Bei "unisono" hab ich immer einen griechischen Chor aus einer Tragödie vor Augen. :D

 

Hallo journey2heaven,

der vorantreibende Stil Deiner Geschichte paßt gut zu ihrem Inhalt. Es ist ein interessanter Gedanke, sich vorzustellen, was alles unabhängig voneinander geschieht, aber doch miteinander in Beziehung steht, selbst wenn es nur durch ein zufälliges Treffen in einer Gastwirtschaft verbunden ist.
Übrigens: Treffender Titel!

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Servus Woltochinon,

du hast recht - auch für mich ist es faszinierend, sich vorzustellen, wie der flügelschlag eines schmetterlings auf madagaskar das wetter in hamburg beeinflusst. ein hoch auf die chaos-theorie. ;)

danke für deinen kommentar.

lg p.

 

Hallo journey2heaven,
tolle Geschichte. Hat mir gut gefallen, wie du in den ersten Abschnitten die Fahrradtour aus der jeweiligen Sicht der Familienmitglieder beschrieben hast. Auch der Schluss ist super. Schreib doch noch eine Fortsetzung. Es wäre bestimmt interessant, zu erfahren, was der irre Wirt noch so alles anstellt.
Auf jeden Fall gerne gelesen
Liebe Grüsse
Blanca

 

hi Blanca,

danke für deinen kommentar und deine positiven anmerkungen. ich glaube allerdings nicht, dass wir wissen wollen, was der kerl weiter treibt. ;)
es möge sich jeder leser seine eigene fortsetzung zimmern.

lg p.

 

Schnell, interessant, abschreckend schön, ein gutes Ende.

"Pulp Fiction" auf einem Radweg.

Einfach gut. Weiter so !

 

hi parabutuz,

danke für deinen kommentar. so genial wie tarantino wären wir alle gern, oder?

lg p.

 

deine Geschichte gefällt mir gut. den 2. den 4. und den letzten Abschnitt hätte ich aber nicht so abgesetzt, ich vermisse etwas eine Kontinuität:-( das ist aber auch schon alles was mir beim lesen negativ auffiel, weiter so!
mfg onida

 

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