- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Totmannschalter
Bautzen, Sowjetische Besatzungszone, 1946
„Zigarette?“
Der magere, abgerissene Häftling nickte vorsichtig. Dann hob er eine Hand und steckte sich die Zigarette zwischen die rissigen, blutverkrusteten Lippen. Er nahm einen tiefen Zug und schloss einen Moment lang die Augen.
„Erzählen Sie noch einmal, was Sie gestern gesagt haben. Sprechen Sie langsam, während ich für meinen Vorgesetzten dolmetsche.“
Der Häftling betrachtete die beiden Männer, die ihm gegenübersaßen. Glattrasiert, sauber, ausdruckslose Gesichter.
„Also, ich heiße …“ Der Dolmetscher unterbrach ihn und tippte auf einen grauen Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag.
„Wir wissen, wer Sie sind, welchen Rang sie in Ihrer faschistischen Armee hatten und wo Sie gedient haben, als Sie von unseren ruhmreichen Befreiungstruppen gefangen genommen wurden. Es genügt, wenn Sie uns von Projekt T erzählen.“
Der Häftling schaute zu Boden. Die Zigarette in seinen Fingern beachtete er überhaupt nicht mehr.
„Wir … also, Abteilung Blau meine ich … hatten den Auftrag, nach unorthodoxen Kriegsmitteln zu suchen. Eher zufällig stießen wir im Rahmen eines Austausch- und Hilfsprojekts, das wir mit unseren japanischen Verbündeten durchführten, auf etwas … wirklich Unorthodoxes. In einer kleinen Bibliothek in der Nähe eines Gebetsschreins in der Präfektur Hiroshima.“ Sein Blick ging ins Leere.
„Reden Sie weiter.“
„Wir fanden Aufzeichnungen. Jedoch wurde ich von dem Projekt vor Ort abgezogen, bevor ich Gelegenheit hatte, die Sache näher zu untersuchen. Nach dem, was die Amis dort angestellt haben, war das wohl mein Glück, oder?“ Der Mann lachte humorlos. Der Dolmetscher beugte sich zu seinem Nebenmann hinüber, als ihm dieser etwas ins Ohr flüsterte. Dann nickte er knapp und drehte sich wieder zu dem Gefangenen um.
„Die meisten Unterlagen wurden in der Tat zerstört. Zum Teil durch die Auswirkung des amerikanischen Angriffs, aber auch durch die Vertuschungsmaßnahmen Ihrer verbrecherischen Führung. Uns interessiert, was Sie über das Projekt T noch wissen. Denken Sie also besser in Ihrem eigenen Interesse gut nach, denn Ihr Erinnerungsvermögen wird sich fundamental auf Ihre Haftbedingungen bei uns auswirken.“
„Was ich damals in Erfahrung bringen konnte, habe ich in einem Bericht zusammengefasst. Bei Projekt T ging es um …“
Archangelsk, 1961
Der Professor und der General schauten auf den roten Sekundenzeiger der Wanduhr. Zwischen ihnen stand eine Flasche Wodka sowie ein überquellender Aschenbecher. Und ein Telefon. Die Luft in dem kleinen Büro war heiß, stickig und verbraucht. Kein Wort wurde gewechselt, kein Blick ausgetauscht.
Als das Telefon schrill klingelte, zuckten beide zusammen. Noch vor dem zweiten Klingeln riss der General den Hörer von der Gabel.
„Ja? ... natürlich war der Test erfolgreich, das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Wieviel, will ich wissen! … Fünfzig? Ist das auch sicher? Sehr gut.“ Grußlos hängte der Offizier wieder ein und schaute den grauhaarigen Wissenschaftler zufrieden an.
„Eben ist das Ergebnis bestätigt worden. AN 602 hat eine Sprengkraft von fünfzig Megatonnen. Fünfzig, stellen Sie sich das mal vor. Das ist fünfhundertmal mehr Sprengstoff, als jemals zusammengenommen auf der gesamten Welt bis heute gezündet wurde. Unser kleiner Wanja dürfte damit wohl einen Eintrag in dieses westliche Rekordbuch bekommen.“ Der General lachte. Der Professor nicht. Fahrig wischte er sich über das Gesicht.
„Der Westen und die USA mögen vielleicht glauben, wir wollen unsere militärische Schlagkraft unter Beweis stellen, aber wir beide kennen den wahren Grund. Auch wenn die Stärke für unser Rüstungsprogramm als Drohmittel einen nützlichen Nebeneffekt darstellt, vergessen Sie bitte nicht, warum wir diese Bombe überhaupt gebaut haben. Bauen mussten.“ Mit zitternden Händen goss er sich ein Glas Wodka ein und leerte es in einem Zug. Der General sah ihm herablassend lächelnd zu und schüttelte dann den Kopf.
„Kopf hoch, Professorchen. Glauben Sie mir, mit AN 602 haben wir genau das bekommen, was Sie sich für Ihr kleines Gulag im Ural so sehr gewünscht haben.“
Jamantau (südliches Uralgebirge), 1985
Jeleski klappte den Kragen seines Mantels hoch und drückte sich die Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Grimmig blinzelte er Schneeflocken und Eiskristalle aus seinen tränenden Augen. Dann zog er die Schultern hoch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Mürrisch drehte er sich zu seinem Begleiter um.
„Wo bleibt der verdammte Kerl bloß? Er ist schon über zehn Minuten zu spät. Na warte, Bürschchen! Das wird Konsequenzen haben.“
Der bullige Mann, der neben Jeleski stand, hauchte sich in die Hände und hielt sie dann vors Gesicht.
„Somokoljev ist doch oft zu spät. Beruhig dich. Der kommt schon noch.“
„Verdammte Geheimhaltung! Warum müssen wir auch immer getrennt in verschiedenen Wagen herkommen? Es wäre viel einfacher, wenn wir gemeinsam fahren könnten.“ Jeleski stapfte schimpfend mit den Füssen auf dem Boden herum und steckte sich die Hände unter die Achseln. Dann deutete er mit einem Nicken auf die wuchtige, gepanzerte Stahltür, die in die graue, schneebedeckte Betonmauer eingelassen war. „Ich wünschte, wir könnten ausnahmsweise schon reingehen, bevor uns hier endgültig die Eier abfrieren.“
Der andere zuckte mit den Achseln.
„Vorschrift, weißt du doch. Nur die ganze Mannschaft darf den Bunker betreten. Also heißt es, noch ein bisschen das Wetter genießen.“
Jeleski wollte zu einer Antwort ansetzen, als eine dick eingemummte Gestalt die betonierte Rampe hinunter hastete, an dessen Fuß die beiden anderen warteten. Der Neuankömmling war so dick mit Schnee bedeckt und in eine Pelzmütze mit Schal eingehüllt, dass er wie ein gedrungener Eisbär aussah. Schnaufend lehnte er sich an die Wand neben der Stahltür. Sein Atem pfiff heiser durch die klirrende Winterluft, als er sich zu Jeleski umdrehte, der drohend neben ihm stand.
„Tut … tut mir leid, Genosse Major, dass ich mich verspätet habe. Die Straße ist total zugeschneit. Ich musste die letzten zwei Kilometer zu Fuß gehen, weil der Wagen in den Graben gerutscht ist. Mein Fahrer hat sich dabei sogar …“
„Ist mir egal, was mit Ihrem Fahrer ist, Genosse Somokoljev. Das einzige, das mich kümmert, ist Ihre Verspätung. Schon wieder! Aber dieses Mal werde ich Sie melden, verlassen Sie sich drauf! Und jetzt Bewegung, damit wir endlich aus dieser Schweinekälte rauskommen.“
Die drei Männer tippten nacheinander unterschiedliche Zahlenkombinationen in eine klobige Tastatur, die sich hinter einer Metallplatte befand. Mit einem lauten Knirschen schwang die gepanzerte Luke langsam auf und gab den Blick auf einen hell erleuchteten Raum frei, in dem sich eine weitere Metalltür befand. Nachdem die Männer eingetreten waren, schloss sich die Außentür wieder und verriegelte. Dann öffnete sich die zweite Tür. Dahinter standen drei Soldaten, die mit ihren Kalaschnikows auf Jeleski und seine beiden Begleiter zielten. Die drei hoben ihre Hände.
„Jeleski, KN 4218. Taubenschlag.“
„Rodschkin, GR 5941, Bergbach.“
„Somokoljev, HP 3613. Pferderennen… nein … Pferdewagen. Immer diese scheiß Tagesparolen.“
Die Soldaten ließen grinsend ihre Gewehre sinken und schüttelten den Neuankömmlingen die Hände. Einer der Soldaten drohte Somokoljev spielerisch mit dem Zeigefinger.
„Würde ich dich nicht kennen, Wassili Nikolajewitsch, hätte ich dich wegen der falschen Parole eigentlich sofort erschießen müssen. Du könntest ja ein imperialistischer Spion sein.“ Die anderen kicherten.
„Das Lachen wird euch gleich vergehen, Genossen. Die Straße ist total zugeschneit und unpassierbar. So leid mir das tut, aber zurück zum Kontrollposten müsst ihr laufen.“
Ärgerlich murmelnd wickelten sich die Soldaten der abgelösten Schicht in ihre Mäntel und stemmten sich beim Verlassen des Bunkers gegen die eisige Kälte des schneegepeitschten Windes. Jeleski verriegelte die beiden Tore und wandte sich an seine Kameraden.
„Also dann, Genossen, Mütterchen Russland ruft und wir haben zu folgen. Rodschkin, du überprüfst den Empfänger und die Signalanlagen. Somokoljev, wenn es dir deine Pünktlichkeit erlaubt, dann sei doch bitte so freundlich und inspiziere den Generatorraum. Danach kochst du uns mal einen Tee. Ich gehe in die Zentrale und beginne mit dem Logbucheintrag und der Wachrotation.“
Die drei Soldaten hängten ihre Kalaschnikows über die Schultern und trennten sich. Somokoljev stieg eine tiefe Metalltreppe herab und betrat einen langen Korridor. Aus der Ferne war ein tiefes Brummen und das Geräusch laufender Turbinen zu hören. Die in regelmäßigen Abständen an der Decke angebrachten Glühbirnen tauchten den Gang abwechselnd in Licht und Dunkel. Hohl und hart hallten die Schritte seiner Stiefel von den kahlen, grauen Betonwänden wieder. Schließlich erreichte er eine große, schwere Metalltür, hinter der er den Lärm der Generatoren hören konnte. Unwillkürlich jedoch sah er kurz über seine Schulter und schritt dann weiter den Korridor hinab. Auch wenn er dazu keinen direkten Befehl erhalten hatte, so musste sich Somokoljev dennoch jedes Mal, wenn er Dienst hatte, wie aus einem inneren Zwang heraus persönlich davon überzeugen, dass hinten alles in Ordnung war. Für jedes Mitglied der Wachmannschaften hieß es einfach nur „hinten“. Keiner sprach es aus. Keiner wusste, was es war. Gerüchte gab es zuhauf. Und allen machte es Angst.
Jedes Jahr kam ein Sondertrupp der Spezialwaffenabteilung mit einer ganzen Gruppe KGB-Wachen vorbei, um das Tor zu öffnen und ihre Kontrollen durchzuführen. Einmal jedoch musste Somokoljev bei der Wache einspringen. Nur auf diese Weise hatte er überhaupt jemals einen Blick hinter das Panzertor werfen können. In riesigen, wuchtigen Klammern waren drei acht Meter lange Stahlzylinder befestigt. Somokoljev erkannte sofort, um was es sich handelte. Es waren drei „Zar-Bomben“, die größten Wasserstoffbomben, die jemals von Menschenhand gebaut worden waren. Doch irgendetwas stimmte mit diesen drei Zaren nicht. Sie hatten keine Abwurfmechanismen, keine Waffenaufhängungen, keine Stabilisierungsleitwerke. Jede einzelne Bombe wog 27 Tonnen. Und dennoch befanden sich keine Lastgeschirre auf dem Boden oder der Decke, mit denen sie hätten transportiert werden können. Es sah nicht so aus, als ob sie man die Absicht hatte, die Bomben überhaupt zu bewegen oder fortzuschaffen. Somokoljev hatte natürlich nicht gefragt, welchen Sinn es wohl haben konnte, drei riesige Wasserstoffbomben mitten im nirgendwo einzulagern, wenn sie offenbar gar nicht für einen Abwurf vorgesehen waren.
Unbewusst verlangsamte er seine Schritte, je näher der dem gewaltigen, knallrot lackierten Stahltor kam. Bedächtig, beinahe ehrfürchtig strich er mit seiner Hand über das kühle Metall und die dicken, in den Beton eingelassenen Riegel und Scharniere. Als er sich davon überzeugt hatte, dass alles fest verschlossen war, atmete er auf. Schnell bekreuzigte er sich und ging dann zurück in Richtung des Generatorraums.
UVB-76 (85 Km nordwestlich von Moskau), 02.September 2010
Pjogol blickte wütend zu Karjesov herüber.
„Was ist mit der Übertragung? Die Signale? Sind die noch da?“
Karjesow drehte und hantierte an Schaltern, Reglern und Hebeln. Nur das dumpfe Rot der Notbeleuchtung und ein paar schwach flackernde Kontrollleuchten erhellten den Raum.
„Keine Ahnung. Die komplette Stromversorgung ist ausgefallen. Die Trägerwelle ist auch weg.“
Pjogol schüttelte frustriert seinen Kopf.
„Krieg das Signal wieder in Gang!“
„Ich versuchs ja!“
Fluchend ging Pjogol zu einem Metallschrank. Er kramte darin herum und zerrte schließlich ein kleines Tonbandgerät aus einem Fach, das er seinem Kollegen in den Schoß warf.
„Hier, schließ das ans Sendemodul an.“
„Was? Wieso? Was ist das?“
Pjogol grinste.
„Schwanensee. Hör ich manchmal zum Einschlafen. Ich hoffe, die mögen Tschajkowski.“
Karjesov sah ihn entgeistert an. „Was soll ich? Hast du den Verstand verloren?“
„Wir wissen nicht, ob überhaupt was rausgeht, kapiert? Besser, wir senden irgendwas als gar nichts.“
„Das ist gegen die Vorschrift.“ Karjesov warf den Kassettenrekorder auf den Tisch vor sich.
„Das war dein kleiner Stromtest auch. Deswegen sitzen wir doch erst in diesem Mist.“
„Ich wollte nur die Leistung erhöhen. Wie hätte ich wissen können, dass der Generator direkt durchbrennt? Wahrscheinlich lags an der uralten Isolierung, die nicht mehr richtig ...“
„Dann schreib das doch in den Bericht, du Genie!“, herrschte Pjogol seinen Kollegen an. „Wir kümmern uns später um die Reparatur. Schließ das verdammte Tonband an. Der Saft aus der Batterie müsste reichen, bis wir uns einen Überblick verschafft haben.“
Karjesov zögerte. Pjogol verkrampfte grimmig den Kiefer.
„Jetzt mach endlich! Ich habe keine Lust, strafversetzt zu werden.“
Fluchend öffnete Karjesov eine kleine Wartungsklappe und fingerte Kabel und Platinen hervor. Dann griff er zu dem Tonbandgerät und zog einen schmalen Schraubenzieher aus seiner Brusttasche. Nach ein paar Augenblicken richtete er sich auf und studierte die Monitore. Pjogol sah ungeduldig zu.
„Und? Was ist mit der Übertragung? Sind die Sendungen wieder da?“
Sein Kollege las einige Skalen ab und blätterte in einem technischen Handbuch. Schließlich ließ er das Manual fallen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Sie sollten jetzt wieder funktionieren, aber sie sind schwach.“
Pjogol schlurfte zu dem Schrank. Er griff hinter einen Stapel Pappschachteln und holte eine kleine Flasche Wodka hervor. Er schraubte den Verschluss auf und nahm einen Schluck.
„Keine Ahnung, warum wir dieses klapperige Scheißteil hier überhaupt am Laufen halten sollen.“
Hiroshima, 1934
Die Zedern und der Pfeilbambus wogen sich sachte im Wind. Dunkle Wolken hingen an den Bergspitzen und kündigten mit leisem Donnern den Sturm an.
Müde drückte Hiro seinen Rücken durch und griff wieder zu dem Rechen. Er führte das Gartenwerkzeug so stolz wie ein Samurai sein Schwert.
In jeder Aufgabe steckt Ehre, wenn man sie ehrenhaft ausführt. Sein Vater hatte ihm das von Kindesbeinen an beigebracht.
„Großvater!“ Kaneda lief Hiro entgegen. In seiner Hand hielt er einen Weidenkorb. Hiro lächelte still in sich hinein und hob gespannt eine Augenbraue. Er war gespannt, ob Kaneda sich an die kleine Lektion in gutem Benehmen erinnerte, die Hiro ihm das letzte Mal beigebracht hatte.
Kanedas Gesicht verzog sich vor Konzentration, als er drei Schritte vor seinem Großvater stehen blieb, den Korb abstellte und sich dann steif verbeugte.
„Ich wünsche dir einen guten Tag, Großvater.“
Hiro nickte seinem Enkel anerkennend zu, als er den Gruß mit einer Verbeugung erwiderte.
„Hab Dank, Enkelsohn. Du bist ein Grund zur Freude für deine Eltern.“
Kaneda grinste vor Stolz, als er seinem Großvater ins Haus folgte. Hiro holte aus dem Weidenkorb einen Topf mit Reis und gedünstetem Fisch und setzte sich an den Tisch.
„Sag deiner Mutter, dass ich ihr wie immer sehr dankbar bin für das köstliche Essen.“
„Mutter fände es schön, wenn du zu uns ziehen würdest, Großvater.“
Hiro kicherte vergnügt, während er sich eine Tasse Tee eingoss.
„Dein Vater fände das nicht so schön, glaub mir das, kleiner Mann.“
Kaneda wartete ungeduldig, bis sein Großvater das Essen beendet hatte. Schließlich war es soweit.
„Großvater, erzählst du mir eine Geschichte?“ Kaneda sah ihn gespannt an.
„Welche willst du denn hören?“
„Erzähl mir wieder von Toyugoru.“
„Wird dir diese Geschichte denn niemals langweilig?“
„Nein, Großvater.“
Hiro nickte bedächtig mit dem Kopf.
Einst, vor vielen unzähligen Jahrtausenden, lebten zwei mächtige Wesen, die ersten und mächtigsten Götter. Sie hießen Izanagi und Izamani. Die beiden erschufen das Land und das Leben. Und sie waren die Schöpfer aller anderen Götter, die wir Jahrhunderte lang verehrten. Doch irgendwann begannen die Menschen, die Götter zu vergessen. Wir glaubten nicht mehr an sie und beteten nicht zu ihnen.
Izanagi wurde darüber sehr wütend. Und eines Tages, als die Menschen selbst ihm keine Achtung und Ehre mehr erwiesen, straft er sie in seinem göttlichen Zorn für ihre Respektlosigkeit. Er schnitt sich einen Finger ab und formte daraus das schrecklichste und mächtigste Ungeheuer, dass es jemals gab - Toyugoru.
Jahrhunderte lang suchte Toyugoru die Menschen heim. Er brachte Erdbeben und Tsunamis, Krankheiten und Taifune, Hungersnöte und Kriege.
Nach unzähligen Jahren der Verwüstung und Not versprach der Tenno in seiner Verzweiflung und Furcht um sein Reich demjenigen, der Toyugoru besiegen würde, die Hand seiner wunderschönen Tochter und den Thron. Viele tausend Krieger und ganze Armeen kämpften gegen Toyugoru. Doch sie alle fanden einen grausamen Tod. Denn Toyugoru war unbesiegbar und unsterblich. Seine Haut konnte von keinem Pfeil durchbohrt und keiner Klinge durchschnitten werden.
Bis sich eines Tages ein einfacher Gärtner mit Namen Dajamuto dem mächtigen Toyugoru im Kampf stellte. Doch was konnte Dajamuto in die Schlacht werfen, was den anderen ruhmreichen Kriegern und Samurai fehlte? Er hatte kein scharfes Schwert, keine prunkvolle Rüstung und auch kein edles Pferd. Als Waffe besaß er einen Rechen, die Rüstung bestand aus einem Reishut und sein Reittier war nur sein alter, treuer Esel. Toyugoru lachte so laut, dass die Berge selbst erzitterten, als er Dajamuto auf dem Schlachtfeld gegenübertrat. Er rief Dajamuto zu, er solle verschwinden, oder er würde ihn mit einem einzigen Hieb seines Schwerts in zwei Teile spalten. Doch Dajamuto ritt langsam und unerschrocken auf Toyugoru zu. Er hatte keine Furcht und in seinem Blick lag eine ruhige Kraft, die Toyugoru zögern ließ. Der grausame Dämon holte zu einem vernichtenden, tödlichen Schlag aus. Und in diesem Augenblick wurde sein Arm von starken, mächtigen Ranken umschlossen, die plötzlich aus dem Boden schossen. Seine Arme und Beine wurden von den Ranken wie von Ketten und Tauen umschlungen. Riesige Bäume wuchsen vor und hinter Toyugoru empor und ihre Äste hüllten ihn wie einen Käfig ein. Toyugoru schrie und brüllte. Er wollte um sich schlagen und sich befreien, doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich keinen Zentimeter mehr rühren. Die Pflanzen und Äste umwucherten ihn immer dichter und enger. Toyugoru war gefangen. Durch die Kraft der Pflanzen, Bäume und der Natur selbst. Dajamuto hatte sie gehegt und gepflegt, so wie sein Vater und Großvater vor ihm. Und in diesem entscheidenden Kampf stand ihm die Natur nun bei. Einen Kampf, den kein Samurai und keine Armee für sich entscheiden konnte, gewann ein unscheinbarer Gärtner. Der Tenno hielt sein Versprechen. Dajamuto heiratete die wunderschöne Prinzessin Yukitomi, lebte viele glückliche Jahre und wurde der Begründer und erste Shogun der ehrwürdigen Yamodaiko Dynastie.
Aber Toyugoru ist nicht tot, denn er ist unsterblich und unverwundbar. Er ist seit dem Tag seiner Niederlage gefangen. Man kann ihn immer dann hören, wenn sich die Natur aufbäumt. Dann versucht sich dieser uralte grausame Dämon aus seinem Gefängnis zu befreien. Wenn es donnert und ein starker, wilder Sturm über das Land hinwegfegt, dann ist das Toyugoru, der sein wütendes Geschrei zornig in den Himmel brüllt.
Hiro lächelte, als er das atemlose Gesicht seines Enkels sah. Draußen regnete es in Strömen. Donner grollte durch die schwere Wolkendecke. Kaneda sah ängstlich in den Himmel.
„Ist das Toyugoru, der da gerade schreit und tobt, Großvater?“
„Wer weiß, Kaneda. Die klugen Leute heutzutage sprechen nur von Wissenschaft. Sie glauben an ihre Bücher und Formeln und sicher nicht mehr an Izanagi oder Toyugoru. Und doch mag das Schicksal unserer Welt eines Tages vielleicht wieder in den Händen eines einfachen Gärtners liegen, und nicht in denen eines mächtigen Kriegers oder klugen Gelehrten“
„Mir ist egal, was Vater sagt, aber ich will auch später einmal Gärtner werden. So wie Shogun Dajamuto und du, Großvater.“
Hiro lachte und streichelte Kaneda über den Kopf.
Moskau, 2018
Grigorow schaltete das Tonbandgerät ein und zog Block und Stift zu sich heran. Dann sah er zu dem grauhaarigen Mann hinüber, der vor seinem Schreibtisch saß. Neben ihm auf einer Couch lümmelten sich ein weiterer Redakteur und eine Volontärin. Grigorow musste seinen Blick beinahe gewaltsam von ihren Beinen losreißen. Er lächelte gekünstelt und sah den Alten an.
„Nun, Herr Somokoljev. Dann erzählen Sie uns mal Ihre Geschichte.“
„Sie müssen es an die Öffentlichkeit bringen. Ich beschwöre Sie. Das wird unsere Welt zerstören. Bitte, ich flehe Sie an.“ Es sah so aus, als würde der Mann jeden Moment in Tränen ausbrechen.
„Was meinen Sie damit. Von Anfang an, bitte.“ Grigorow warf seinem Kollegen und der Volontärin einen wissenden Blick zu und verdrehte die Augen. Somokoljev sah es nicht oder achtete nicht auf die beleidigende Geste.
„Ich habe für das Militär gearbeitet. Von 1984 bis 1990 war ich Mitglied eines geheimen Projekts. Unter anderem in einem Funksender bei Moskau.“
„Und weiter?“
„Dieser Sender hat nur die Aufgabe, ein Signal zu schicken. Jeden Tag, dreiundzwanzig Stunden lang. Seit über vierzig Jahren. Und jetzt soll er abgeschaltet werden. Dass darf nicht geschehen!“
„Was hat es denn mit diesem Sender auf sich, dass er so wichtig ist.“ Grigorow malte Männchen auf seinen Block, während der alte Mann redete.
„Er ist ein Totmannschalter. Er sendet ein Signal zu einer Anlage, die irgendwo im Ural liegt, und erhält von dort eine automatische Antwort. Wenn diese Kommunikation aber längere Zeit unterbrochen wird, löst das einen Selbstzerstörungsimpuls aus. Schon mal von der Zar-Bombe gehört? Fünfzig Megatonnen nominale Sprengkraft. Drei Stück. Aber das ist nicht das Schlimmste.“
„Was könnte denn schlimmer als so eine Nuklearexplosion sein?“ Der Reporter klang belustigt.
„Das es ihn nicht vernichten, sondern befreien wird!“
„Ihn?“ Der andere Reporter auf der Couch beugte sich neugierig nach vorne.
„Den Toyugoru.“
„Toyu-was?“
„Ein japanischer Dämon.“ Hastig hob der Alte die Hände. „Ich bin nicht verrückt. Die Japaner haben in ihrer Mythologie ein solches Wesen. Wie bei uns Baba Jaga. Nur ist es kein Hirngespinst.“
„Baba Jaga also? Ich verstehe. Gut, Herr Somokoljev, vielen Dank …“
„Die Japaner und die Deutschen wollten den Toyugoru als Waffe nutzen. Aber nahezu sämtliche Aufzeichnungen und vor allem die Formeln, ihn zu bezwingen, sind zerstört worden.“ Somokoljev holte pfeifend Luft. „Der NKWD bekam nach dem Krieg Wind von der Sache und fing an nachzuforschen. Ein paar Wissenschaftlern gelang es, den Toyugoru zu erschaffen, zu beschwören, was weiß ich. Anfang der sechziger Jahre in dieser Anlage im Ural.“
Grigorow machten Anstalten aufzustehen. Somokoljev sprach schneller und hektischer.
„Bitte, hören Sie mir doch zu! Die Forscher merkten sofort, dass man ihn nicht kontrollieren konnte. Oder töten. Und sie haben es weiß Gott versucht. Also sperrten sie ihn zusammen mit den Zar-Bomben ein. Sie glaubten wohl, das würde ihn erledigen können.“ Der Alte stieß ein zynisches Lachen aus. „Der Funksender ist unsere Lebensversicherung. Der Totmannschalter, der jetzt abgeschaltet werden soll.“ Er war kreidebleich geworden und seine Unterlippe zitterte beim Sprechen. „Der Toyugoru wird die ganze Welt vernichten. Nur, weil irgendwelche Bürokraten, die mir auch nicht glauben, der Meinung sind, es sei zu teuer, einen Funksender über Jahrzehnte in Betrieb zu halten.“
„Herr Somokoljev, das ist eine phantastische Geschichte. Die sollten Sie in Hollywood verkaufen. Nein, wirklich, ich meine das ernst. Damit ließe sich ein toller Film drehen.“
„Hier sind Beweise.“ Er zog aus einer abgewetzten Aktentasche ein paar rissige, ausgeblichene Papierseiten. „Transportbefehle. Es gibt diese Anlagen. Ich selbst habe in beiden gearbeitet.“
Grigorow warf einen flüchtigen Blick auf die Unterlagen.
„Also hier sehe ich nichts von einem Toyu-Dingsbums.“
Frustriert warf Somokoljev die Arme in die Höhe.
„Natürlich steht da so explizit nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe. Diese Sache war ein streng vertrauliches Staatsprojekt der allerhöchsten Geheimhaltungsstufe. Deshalb haben die Duraks ja auch kein Problem damit, den Sender stillzulegen. Sie glauben, dass verdammte Ding dient der Atmosphärenforschung.“
„Also bitte, Herr Somokoljev. Ich glaube kaum, dass man diesen ominösen Sender tatsächlich abschalten würde, wenn das Schicksal unseres Planeten davon abhinge.“
„Weil sie es nicht besser wissen, Herrgott nochmal! Nicht mal die Männer, die dort noch Dienst schieben, haben eine Ahnung, wozu er dient. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist alles verschwunden oder wurde vertuscht. Ich habe über dreißig Jahre herumgeschnüffelt, bis ich die paar Informationen zusammenkratzen konnte, die ich Ihnen gerade gegeben habe.“
„Und was ist mit der Anlage im Ural? Da müssen doch auch noch Menschen arbeiten. Die werden …“
„Als sich der Zusammenbruch abzeichnete, fürchtete der KGB, die Zar-Bomben könnten Separatisten in die Hände fallen. Also hat man das Personal abgezogen und die gesamte Anlage auf automatischen Betrieb umgestellt. Dort draußen ist nur noch ein verlassener Bunkerkomplex, in dessen Inneren drei Wasserstoffbomben und ein Monster gefangen sind. Die Bomben werden den Bunker pulverisieren und den Toyugoru befreien. Niemand glaubt mir. Informieren Sie die Öffentlichkeit. Sofort!“
Seufzend zeigte Grigorow zur Tür.
„Das werden wir, Herr Somokoljev. Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden, wir haben eine Menge zu tun. Wir müssen ja schließlich Ihre Geschichte drucken. Die kommt gleich auf die Titelseite.“ Die Volontärin kicherte.
Somokoljev sprang auf und packte Grogorow am Kragen seiner Jacke.
„Du Arschloch! Wir werden alle sterben, wenn sie diesen Sender abschalten. Wir …“
Der Reporter riss sich los und stieß den Alten grob zurück.
„Okay, das reicht jetzt, du Verrückter. Verpiss dich, oder ich lasse dich vom Sicherheitsdienst rauswerfen.“ Dann drehte er sich zu seinem Kollegen um. „Boris, sag Olga bitte, sie soll demnächst nicht mehr jeden Spinner reinlassen, der mit einer angeblichen Story unterm Arm hier aufkreuzt.“
Mit hängenden Armen und leerem Blick hob Somokoljev seine Unterlagen auf, die auf den Boden gefallen waren, und verließ das Büro.