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Totentanz
Ungläubig starrte Keutsch auf das Ohr. Sein Verstand war in den ersten Sekunden nicht in der Lage, die Situation zu erfassen und das Bild des abgetrennten Körperteils, das sich so plötzlich in seinem Schoß befand, in Einklang mit der Realität zu bringen. Er versuchte zu verstehen was sich abspielte, konnte sich aber keinen Reim auf das Stück Fleisch und Knorpel machen. So drehte er sich halb zum Mann neben sich um und setzte an, ihn danach zu fragen, nur um festzustellen dass wohl eben jener der vormalige Besitzer des Ohrs gewesen war bevor es ihm - gemeinsam mit einem Teil seines Schädels - abhanden gekommen war.
Bevor Keutsch sich weiter mit der Situation auseinandersetzen konnte, flog die Tür des kleinen, trostlosen Raumes auf und ein dick in seinen mausgrauen Wollmantel eingehüllter, schmutziger und atemloser Mann stolperte hinein, schlug die Tür und brüllte mit heiserer Stimme: "Scharfschütze! Runter, Mann!" bevor er sich auf den Boden warf.
Die beiden krochen so tief an der harten Erde wie möglich in entgegengesetzte Ecken des Raumes, der wohl früher einmal der Familie die das Haus bewohnt hatte, als Wohn- und Esszimmer gedient haben mochte. Dort verharrten sie für einige Zeit bevor der Neuankömmling sich vorsichtig aufrichtete, in seine Tasche fasste, zwei bereits arg in Mitleidenschaft gezogene selbstgedrehte Zigaretten hervorkramte und eine davon in Keutsch' Richtung hielt.
Keutsch zuckte zusammen und deutete auf das schmutzige Fenster doch der andere Mann lächelte und sagte: "Keine Sorge Junge, der ist schon über alle Berge - die bleiben nie lange an einem Ort. Die Ari schießt sich sonst auf die ein und dann wars das für den."
Damit beugte er sich vorsichtig vor und warf Keutsch die Zigarette zu.
"Name?"
Der junge Soldat sah auf dem dreckigen Mantel des älteren Mannes ein halb erkennbares Rangabzeichen und bemühte sich möglichst schneidig zu klingen.
"Keutsch, Gefreiter, zweite Schützenkompanie, Herr Oberfeldwebel!"
"Berger reicht Junge, Berger reicht." brummte der Ranghöhere und steckte sich die verdeckt hinter seiner großen, groben Hand versteckt gehaltene Zigarette an.
Auch Keutsch hob seine auf und wollte sie sich in den Mund stecken als ihm dämmerte, dass das Ohr immer noch auf seinem Schoß lag. Mit einem Stoßseufzer hob er es auf und legte es dem Toten neben ihm auf die Uniform, ganz so als wolle er eine Leihgabe zurückgeben und den Mann nicht wecken.
"Armes Schwein, hats voll erwischt."
Man konnte es Berger an dass er bereits seinen Teil an Tod und Zerstörung gesehen hatte.
"Und, was hast du hier verloren Keutsch? Die Zweite müsste doch schon Richtung Norden weiter durchmarschiert sein?"
"Die haben uns... also mich und fünf andere... zu einem 'Spezialauftrag' abkommandiert. Und als wir die Mission erfüllt hatten waren die Russen zwischen uns und dem Rest der Kompanie - da gabs kein Durchkommen mehr. Also haben wir uns in den Westen der Stadt abgesetzt und versucht einen Bogen um die Russkis zu machen."
Berger nickte.
"Mir gings ähnlich - wurde auch abgeschnitten und musste die Beine in die Hand nehmen, sonst wär ich schon auf dem Weg in die Gefangenschaft."
Er schien zu schaudern bei der Vorstellung, schüttelte den Kopf und zog an seiner Zigarette.
"Und die restlichen Männer aus deinem Kommando - tot?"
Der magere, erschöpft wirkende Gefreite nickte.
"Ja, als wir also den Auftrag erledigt hatten, wurden wir beschossen und dabei haben die drei von den Kameraden erledigt, einen weiteren haben wir nur ein paar hundert Meter von hier verloren."
Keutsch stockte und Berger sah ihm direkt in die Augen bevor er ruhig fragte: "Und der letzte?"
"Letzte?"
"Du hast von dir und fünf Kameraden erzählt die auf die Mission geschickt wurden, aber nur vier Tote erwähnt."
Keutsch schaute kurz zu Boden.
"Der liegt doch hier?" deutete er auf den toten Mann neben sich.
"Netter Versuch Kleiner, aber der gehörte zu den Sturmpionieren, der war also nicht von deiner Truppe. Also?"
Keutz' Lippen zitterten, er zog nervös an seiner Zigarette bevor er leise zu sprechen begann:
"Schenk ist abgehauen als es ernst wurde. Er ist einfach weggelaufen als uns die Russen aufs Korn genommen hatten. Ich glaube der versteckt sich in der Nähe der Bahngleise."
"Und wo habt ihr die Kiste hingebracht?"
"Haben wir befehlsgemäß im Keller der alten Konservenfabrik hinter ein paar Holzpaletten versteckt - die findet keiner."
Der junge Gefreite blickte auf, den Ausdruck einer plötzlichen Erkenntnis auf dem Gesicht.
"Woher wissen Sie von einer Kiste? Ich habe nur gesagt wir hätten..."
Weiter kam er nicht weil ihn die Kugel aus Bergers Pistole, die er unter dem Mantel verborgen hatte direkt in die rechte Stirnseite traf. Er kippte langsam kopfüber während der andere Mann die Pistole wieder unter dem Mantel ins Holster schob, einen letzten Zug an seiner Zigarette nahm und langsam aufstand, während draußen vor dem Haus die Geräusche sich nähernder Fahrzeuge lauter wurden.
Berger öffnete die Tür und trat ins Freie, wo er bereits von mehreren Männern in Uniform und einem Kübelwagen erwartet wurde. Der Beifahrer stieg aus, hob den rechten Arm zum Gruß:
"Herr Obersturmführer."
"Wir wissen jetzt wo sich die Kiste befindet - ordnen Sie die Durchsuchung der Konservenfabrik, vor allem des Kellers, an. Sie sollte hinter ein paar Holzpaletten zu finden sein. Und Beeilung - die Zeit drängt, die Russen sind auf dem Weg und dürfen die Kiste unter keinen Umständen in die Hände bekommen - direkter Befehl aus Berlin."
"Jawohl Obersturmführer Berger."
Der Offizier bedeutete dem Rest der bereits abgesessenen Soldaten des nachfolgenden LKW, sich zur Abfahrt fertig zu machen und setzte sich in Richtung seines Wagens in Bewegung als sich Friedrich Karl Berger, SS-Obersturmführer und Agent der Abwehr, sich nochmal an ihn wendete:
"Noch etwas, Scharführer. Besorgen Sie mir eine anständige Uniform und lassen Sie den Schuppen mit dem Deserteur niederbrennen. Dann schicken Sie einen Trupp zu den Gleisen, dort finden Sie den letzten Mann."
Dann nahm er das Mauser K98k-Scharfschützengewehr, das er zuvor an die Wand gelehnt hatte, und bestieg ebenfalls den Kübelwagen.