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Totenstille
„Wo bist du gewesen?“ Sein Gebrüll machte ihr Angst, aber sie kannte es ja schon. „Antworte, verdammt nochmal!“ Sie blieb regungslos in der Ecke neben der Tür stehen und starrte auf den Boden, als wenn dort die Antwort läge: „Das weißt du doch.“, rief sie mit zitternder Stimme. „Nein, das weiß ich eben nicht!“ Seine Wut steigerte sich immer weiter: „Alles, was ich weiß, ist, dass du dich irgendwo herumtreibst und es nicht für nötig hältst, dich zu melden!“, „Aber ich sagte doch, dass ich heute abend weg bin!“ Sie blickte immer noch auf den Boden, wagte nicht, ihn anzusehen. Er trat näher an sie heran, sein Atem roch nach Alkoholischem. Er ergriff ihren Arm, seine Stimme wurde lauter und lauter: „ Was fällt dir eigentlich ein, du kleine Schlampe? Dein Platz ist hier bei mir! Du gehörst keinem anderen, ist das klar?“ Er packte und schüttelte sie. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, sie wusste nur, sie durfte ihn jetzt nicht noch wütender machen. In seine Schüttelattacke hinein versuchte sie, ich zu besänftigen: „Aber ich hab’ dich doch nicht betrogen, du weißt, ich würde das niemals tun, ich war doch nur mit Maja in der Stadt. Du kennst sie doch. Bitte lass mich los!“ Doch ihr Flehen machte ihn nur noch rasender: „Kein Wort glaube ich dir!“ Er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, auf die altbekannte Stelle, er schlug ihr in den Magen, bis sie nur noch leise wimmern konnte. Ihre Tränen waren ihm egal, wie immer!
Er zerrte sie ins Schlafzimmer, warf sie auf’s Bett. Sie war wie betäubt, wagte nicht, sich zu bewegen. Er blickte von oben auf sie herab. Den Gedanke, jemand anders könnte sie berühren, konnte er nicht ertragen und niemand, aber auch niemand würde es je wagen, sie ihm wegzunehmen. Und ihr würde es nie, niemals einfallen, ihn zu hintergehen. Sie war seins, sein Ein und Alles. Vernebelt von Alkohol und Besinnungslosigkeit schlug er weiter auf sie ein. Sie versuchte, sich die von Zigarettenstummeln verbrannten Arme schützend vor’s Gesicht zu halten. Sie wusste, was gleich folgen würde und wenn sie heute nicht sterben wollte, dann würde sie wieder mitmachen, wie immer! „Zeig mir, dass du mich liebst, beweis es mir!“ Und wieder musste sie es ertragen, alles über sich ergehen lassen. Ihr Körper war wie gelähmt, sie konnte sich kaum rühren. Er nahm sich, was er wollte, zertrampelte ihren letzten Funken Stolz. Als er von ihr abließ, wusste er, sie würde ihn nie, niemals verlassen.
Sie blieb regungslos liegen, er zog sich ins Wohnzimmer zurück. In dem Moment war es still, totenstill. Bald war nur noch der laute Kommentar eines Fußballspiels zu hören. Ihre Gedanken kreisten: Warum blieb sie bei ihm? Die Angst, er könnte sie eines Tages totschlagen? Der Gedanke nahm ihr jegliche Luft zum Atmen. Liebte sie ihn noch? Sie wusste es nicht, aber sie wusste, sie hatte ihn mal geliebt. Geliebt aber hatte sie einen Mann, der anders war, einen, der ihr Liebe gegeben hatte, so wie sie sie sich vorgestellt hatte. Für ihn hatte sie ihre Familie verlassen: ihren Vater, der sie immer nur nach seinen Wünschen formen wollte, ihre Mutter, die ihr „kleines Mädchen“ nie wirklich loslassen wollte. Sie wollte sich damals losreißen. Ihr Vater hatte sie noch vor die Wahl gestellt: „Entweder er oder wir!“ Ihr „Neuer“ hatte ihm nicht in den Kram gepasst, aber dieses eine Mal wollte sie die Entscheidung treffen, die Entscheidung für ein neues Leben. Auch wenn sie mit diesem Typ bei ihren Eltern nicht aufzutauchen brauchte. Sie fühlte sich damals frei, zog mit ihm zusammen, alles schien gut zu gehen. Doch eines Tages hatte es begonnen und es dauerte bis heute. Anfangs waren es nur verletzende Worte, für die sich oftmals selbst die Schuld gab. Sie glaubte, ihn zu vernachlässigen, wenn sie nicht bei ihm war, er hatte doch niemanden außer sie. Aber musste sie deswegen seine blinde Wut, seine grausame Eifersucht ertragen? Was sollte sie tun? Er liebte sie doch bestimmt noch, wenn erst einmal alles besser wurde, wenn er eine neue Arbeit und neue Freunde hätte.
Aber er wollte keine neuen Freunde, er wollte nur sie, er hatte sie voll und ganz eingenommen, bestimmte ihr Leben, war ihr Leben.
Einen Monat später legte ein Mann in schwarzem Anzug Blumen an einem Grab nieder. Sein Gesicht trug Trauer in den wässrigen Augen, aber seine Lippen waren hart gespannt: „Warum bist du nicht bei uns geblieben? Warum er? Hättest du doch auf mich gehört!“ Der Himmel verdunkelte sich, es begann zu regnen, erst in vereinzelten Tropfen, dann in Strömen. Der Mann warf einen letzten Blick auf das Grab, drehte sich um und ging.