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Totenruhe
Erich hatte einen Handwagen. Einmal hatte er einen Zementsack gekauft und wollte ihn noch bei Einbruch der Nacht nach Hause bringen. Er lud den Sack auf den Wagen und machte sich auf den Weg. Nach dem Dorfrand führte die Strasse über eine Wiese, auf der die Kirche mit dem Friedhof stand. Plötzlich klingelte in seiner Hosentasche das Telefon. Er, ungestüm wie er war, wollte es herausziehen. Dabei entglitt ihm die Wagenstange, verfing sich an seiner Jacke, an dem Ärmel, und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Kopfvoran stürzte er in den Weggraben und der Handwagen hinterher, wobei gleich noch zwei andere Missgeschicke geschahen. Der Zementsack fiel auf die Strasse und Erich stauchte sich eine Hand. Er fluchte, setzte aber doch das Telefon ans Ohr und sagte: "Ich heisse nicht Erich und habe jetzt keine Zeit." Sofort steckte er das Telefon zurück in die Hosentasche. Danach zog den Wagen aus dem Weggraben. Er ging zu dem Sack und wollte ihn auf den Anhänger heben. Sonst hätte er es gekonnt. Doch mit einer gestauchten Hand war die Lage eine andere. Vergebens mühte er sich ab. Seine Stimmung schlug vollends um. Er fluchte und schimpfte. Er trat mit dem Fuss gegen den Sack, und zwar so fest, dass er sich einen Zehen stauchte. Der Schmerz liess ihn aufbrüllen. Und dann fluchte und schimpfte er noch lauter.
Himmel Herrgott, polterte er und meinte noch: "Es ist doch immer dasselbe. Wenn man Hilfe braucht, dann ist niemand da. Nur wenn man keine Hilfe braucht, dann ist immer jemand da." In dem Augenblick kam ein Mann durch das Tor in der Friedhofsmauer und trat zu Erich auf die Strasse heraus. Wieder schlug Erichs Stimmung um. "Sie kommen wie gerufen, sagte er. Wenn Sie mir vielleicht behilflich sein wollen. Sie müssen nur helfen, diesen Sack auf den Anhänger zu laden. Für mich allein ist er zu schwer." Da ging der Mann zu dem Zementsack, hob ihn mit einer Hand hoch und schwang ihn auf den Anhänger, als wäre es ein Federkissen gewesen. Erich riss die Augen auf. Plötzlich sah er, wen er vor sich hatte. Leere Augenhöhlen starrten ihn an und die Nase fehlte dem Mann auch. Von seinem Schädel herab hing verwesendes Fleisch und durch die Kleider schimmerten bleiche Knochen. Mit einer tiefen Stimme sagte der Tote: "Heute habe ich dir geholfen, damit du weiterfahren kannst. Aber wenn du hier noch einmal so fluchen und schimpfen wirst, dann werde ich weniger nachsichtig sein, denn du störst den Schlaf der Toten."
Der Mann kehrte um und ging zurück auf den Friedhof, wo er in der dunklen Nacht dem Blick entschwand. Erich hingegen war noch nie so erschrocken, war noch nie so schnell einsichtig geworden und störte fortan nie mehr die Totenruhe.