Mitglied
- Beitritt
- 27.04.2009
- Beiträge
- 2
Totenruhe
Totenruhe
Von
Uwe Luxemburg
"Das Leben ist ein Vergehen, das mit dem Tode bestraft wird."
Schopenhauer
Kapitel 1
Wer hätte das geahnt?!
Die erste Welle traf Hongkong. Zufällig festgehalten von einem englischen Kamera-Team, das gerade eine Reportage über die Metropole machte, wurde es live in die ganze Welt übertragen. Es sah aus wie ein Stromausfall der menschlichen Energie. 20 Millionen Menschen in Hongkong und Umgebung brachen tot zusammen. Keine Ankündigung. Der Himmel verdunkelte nicht, es gab keine Heuschrecken und keine Vulkanausbrüche. 17:53 Uhr asiatischer Zeit wurden den Menschenmassen, wie Millionen Marionetten, mit einer gigantischen unsichtbaren Schere die unsichtbaren Fäden durchtrennt.
Ich war einer von denen, die es live am Bildschirm miterlebten. Das englische Kamerateam fing das Geschehen zufällig ein. Das Team filmte die schwarzhaarige Reporterin mit dem Pagenschnitt. Hinter ihr sank eine Hauptstraße zwischen den Wolkenkratzern in ein Tal und erhob sich dann wieder, bis sie unscharf im Smog verschwand. Tausende von Menschen schunkelten auf die Kamera zu und schienen sie nicht zu erreichen. Auf der Straße Doppelstockbusse, die scheinbar still standen, zwischen denen sich Rikschas und Mopeds durchschlängelten. Überall Fastfood-Stände. Das reine selbstorganisierte Chaos, völlig undurchschaubar für alle, die nicht darin aufgewachsen waren. Die Gipfel der Betonriesen leuchteten im orange-gelben Licht der untergehenden Sonne, als man es plötzlich sah. Am Horizont begannen die Menschen wie Dominosteine umzukippen. Die Welle kam rasend auf das Team zu. Der Kameramann verließ seinen Fixpunkt und schwenkte auf das Geschehen, was die blasse Reporterin zum Umdrehen zwang, wo sie sich ihrem eigenen Schicksal nur noch bewusst werden konnte, bevor es sie aus den Schuhen schlug. Die Kamera stürzte zu Boden, wo sie sich noch einmal auf der Seite liegend drehte, als wolle sie mit letzter Kraft noch einen guten Job machen und uns das Szenario zeigen. Busse zerquetschten kleine Autos und Mopets, und alles schob sich irgendwie ineinander. Ein riesiger chaotischer Akt, bevor alles verstummte. Später wurde der Beitrag erweitert durch Aufnahmen von Verkehrskameras, die die gesamte Megacity als Leichenhalde präsentierten. Eine nervenzerreißende Ruhe strahlten die Bilder aus. Doch das war erst der Anfang. Einen Tag später verloren wir Amsterdam, wieder einen später Chicago und Johannisburg.
Massen von Rettungs- und Bergungs-Teams. Welthilfeorganisationen, Wissenschaftler, Feuerwehr, Nationalgarde. Alles strömte in die Städte. Doch sie konnten nur die Feuer löschen und beginnen das Chaos zu beseitigen. Millionen von Leichen zu beseitigen, stellte sich als Sisyphosarbeit heraus. Überall türmten sich die Leichenberge. Über- und unterirdisch, ob in Bunkern, in Bergwerken oder den höchsten Hochhäusern; in Flugzeugen in Panzern, in Wohnungen, selbst in hermetisch abgeriegelten Forschungslaboren der höchsten Sicherheitsstufe, überall Leichen, gestorben wo gelebt. Ob gefüllte Fußballstadien, wo ein dichter, ovaler Ring von achttausend Toten, zweiundzwanzig über das Spielfeld verteilter Leichen umsäumte. Oder die Strände, wo die still an ihrem Lieblingsort verstorbenen, liegend und stinkend in der Sonne verschmorten. Alle waren sie tot umgefallen.
Das schlimmste, man fand keine Erklärung. Keinen Bösen, keinen Schuldigen. Keine Umwelt- oder andere Katastrophe. Kein Ozonloch, keine Strahlung und keine geologischen oder geografischen Gründe. Keine Pandemie, keine Epidemie, keine Prionen-Erreger, keine mutierten Viren, keine resistenten Staphylokokken. Die Forscher fanden nichts.
Immer fand der Effekt eine klare Grenze. Doch gab das kaffefleckförmige Auftreten auch keine Geheimnisse preis. In Johannisburg zog sich die Grenze quer durch die Stadt, es kam vor, dass Leute auf der einen Seite starben und auf der anderen weiterliefen. Rannten sie rüber, geschah ihnen nichts mehr. Der Effekt schien nur ein paar Sekunden anzudauern. Als das größte Weißenviertel von Johannisburg zu Boden ging, feierten die Farbigen in den Armenvierteln das Geschehen als die göttliche Reinigung, bis es sie zwei Wochen später auch traf.
Die Straßen von Hongkong waren, nach einer Woche und 20 weiterer Wellen auf der Welt, schon fast von den Leichen auf den Straßen befreit, als eine zweite Welle das Terrain durchpflügte und die Rettungskräfte mit Mann und Maus tötete. Die Helfer starben über den Opfern. Von da an wurden die Orte der Vernichtung gemieden. Die Menschen zogen sich aus den Metropolen zurück, weil sie dachten dort sicher zu sein, doch es erwischte sie alle. Als würde Satan tödliche Wasserbomben auf die Erde schmeißen und Fleck für Fleck das menschliche Dasein auslöschen.
Tag 10 nach der ersten Welle
War ich immun, und wenn, warum?
Am 10. Tag nach der Welle traf es New York. Ich war gerade auf einer Pressekonferenz, auf der sich Militär und Forschung gegenseitig Versagen vorwarfen, als plötzlich 361 Beine von 181 Menschen wegknickten. Alles um mich herum klappte zusammen. Ich stand da wie die Freiheitsstatue, immer noch mein Diktiergerät in die Luft streckend.
Ich brauchte zwei Tage, um mich über die Flüsse aus Leichen und Autowracks aus der Stadt zu kämpfen. Als ich wieder auf Überlebende traf, schloss ich mich einem Trupp der Nationalgarde an. Bei denen fühlte ich mich sicher. Doch als ich mit ihnen Washington erreichte, saß ich von einer Sekunde auf die andere in einem Bus mit 50 Km/h, voller toter Soldaten. Der Bus schob erst einen Armee-Hummer in einen Lkw, schoss an diesem vorbei und ballerte dann ungebremst durch die Kommandozentrale eines Heimatschutz-Zeltlagers. Nach dem Zelt nutzte der Buß einen Strom-Generator-Wagen als Schanze, um sich auf die Seite zu schmeißen und endlich an einem Betonpfeiler zum Stehen zu kommen. Beim Aufschlag brach ich mir die Nase an dem Gewehrkolben meines toten Sitznachbarn.
Als ich aus dem Vehikel gekrabbelt war und mir unter derben Schmerzen mein Nasenbein in die Soll-Position brachte, erblickte ich das Fiasko. Ich stand auf dem Bus, es goss in Strömen und ein Teppich schlafend aussehender Menschen lag mir zu Füßen. Am Horizont jagte eine stattliche Passagiermaschine senkrecht in den Boden. Es sah aus als hätte es die Erdkruste durchschlagen und eine Explosion, die wie ein kleiner Vulkanausbruch wirkte, folgte sofort.
Tag 63 nach der ersten Welle
Wir waren ca. 30 Leute, die das Armageddon überlebten. Wir fanden uns übers Internet. Das funktionierte noch zwei Wochen nach dem die letzte und größte Welle, so nannte man die Katastrophe, den Rest menschlichen Lebens, der noch übrig war, von der Erde fegte. Das einzige was von der Menschheit blieb, waren die verrottenden Bauwerke und ein bestialischer Leichengestank. Die Erde war jetzt ein einziger überirdischer Friedhof mit 7 Milliarden Leichen. Wir fanden uns im Forum der Überlebenden, deren Mitglieder auf uns paar runtergeschrumpft gewesen war. Ich hatte mich tagelang im verstummten Washington herumgetrieben, bis ich auf die Idee gekommen bin, im Internet nach Überlebenden zu suchen. Das Fernsehen war schon vor Wochen auf ein automatisches, unaktuelles Notprogramm umgestellt worden.
Tag 34 nach der ersten Welle
Da saß ich jetzt im Internet Kaffe, zwischen verrottenden Leichen, deren Köpfe auf den Tastaturen lagen. Das kalte Herbsttageslicht schien durch die Ladenscheibe und unterstützte die düstere Atmosphäre. Nur die toten, wachsartigen Gesichter der starren Leichen flimmerten im Licht der immer noch laufenden Flat-Screens. Mein Gesicht unterbrach die Stimmung. Es bewegte sich. Ich beachtete die Toten nicht mehr und wunderte mich, wie schnell ich mich an dieses schaurige Szenario gewöhnt hatte. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles. Mein einziges Ziel war es geworden, andere wie mich zu finden.
Schnell hatten sich viele wie ich in mein Forum eingeloggt. Zehntausend waren es am Tag 15. Am Tag 34 waren es noch 1000. Einer nach dem anderen traf in meinem Netcafe ein, und wir richteten uns in den Wohnungen darüber häuslich ein. Am Tag 50 fiel der Strom aus und mit ihm das Internet. Und so verloren wir den Kontakt zu den restlichen 500 Überlebenden weltweit mit Internetzugang.
Kapitel 2
Es ist still geworden auf der Erde
Tag 64 nach der ersten Welle
Mein Alltag hatte sich verändert und sollte nie wieder der alte werden.
Jeden Tag wachte ich bei Sonnenaufgang auf, durch das Fenster drangen höchstens Wetter bedingte Geräusche. An windstillen, regenfreien Tagen war die Stille dröhnend. Mehrere Räume meiner 4-Zimmer-Wohnung waren zu Lagerräumen umgestaltet worden. In einem hatte ich Konserven und Armeerationen gebunkert, die für das nächste Jahrzehnt reichen sollten. Im nächsten befand sich Ausrüstung. Die Straßen waren unbefahrbar. Und teilweise hatten sich die Autos zu hohen Schrottbergen geformt, so dass das Passieren nur mit Bergsteigerausrüstung möglich war. Jeden Morgen legte ich eine an. Ich nahm meinen Rucksack mit Verpflegung, Erste- Hilfe- Paket und einen kleinen Revolver.
Was ich mit der Waffe wollte, fragte ich mich selber ständig. Wen sollte ich denn töten? Es waren doch schon alle tot. Und dann machte ich mich auf den Weg durch die Straßen. Ich wusste nicht einmal, was ich suchte. Vielleicht weitere Überlebende. Vielleicht ein Kind oder Tier, doch jeden Abend kam ich mit leeren Händen zurück in mein Cafe. Es befand sich am Rande des Stadtzentrums am Ende einer Ladenpassage. Die Straße davor hatten wir schon komplett gesäubert. William, ein Farbiger, ein stämmiger Mann Mitte 50, der sein ganzes Leben bei der Stadtreinigung gearbeitet hatte, fegte sie jeden Tag rauf und runter. Die anderen lachten über ihn, aber ich glaube, das war nur der Neid, weil er seine Aufgabe gefunden hatte.
Im Cafe waren die Computer einer großen Tafel gewichen, an der wir uns allabendlich zusammensetzten, um uns das immer schlechter werdende Essen zu vereinnahmen. Ich saß an einem Ende mit William, dem Straßenfeger, Rick Carson einem kleinen kompakten Autohändler, Kater Leshesky, Radsportler, Eiko Akira, einer Japanischlehrerin und 26 anderen. Keine Gemeinsamkeiten und nichts Außergewöhnliches war ihnen nachzusagen. Beim Essen unterhielten wir uns. Die Themen wiederholten sich wie die Argumente.
„War das hier die Hölle?“, fragte ich mich oft. Wir diskutierten wieder einmal, ob Gott oder wir uns selbst in diese Situation gebracht hatten, als plötzlich allen außer den vieren in meiner Ecke die Köpfe wegknickten, als wenn ihnen jemand die Wirbelsäule rausgerissen hätte. Sie fielen mit ihren Gesichtern auf ihre Teller. Eiko begann zu schreien. Wir sprangen auf und machten ein paar Schritte zurück. Der Tisch war voller Leichen.
William betete: „Gott, steh uns bei, in der Stunde…“
Leshesky unterbrach ihn: „Gott hat diesen Planeten verlassen. Und so wie es aussieht, hat er seine Seelen mitgenommen.“
„Warum nicht wir?“ fragte ich monoton, den Blick auf die starren Augen eines 16-jährigen Mädchens, dessen Gesicht in einem Teller mit Bohnensuppe ertrank.
„William ist bestimmt kein sündiger Mensch, also warum sollte Gott ihn mit uns in die Verdammnis schicken?“
Carson: “Lasst uns hier verschwinden. Hier will ich nicht sterben.“
Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg.
Irgendetwas war anders als wir an diesem Morgen zu viert, voll bepackt, die Straße rauf marschierten und das Cafe hinter uns ließen. Der Gestank war weg, der faulig-süße Geruch der Verwesung, den die braungelblichen Kadaver absonderten. Mir wurde schnell klar, dass er keinesfalls verschwunden war. Ich hatte mich nur an ihn gewöhnt- ich hatte mich an ihn gewöhnt, wie ich mich an die Leichen gewöhnt hatte, die die Straßen säumten.
Diesen Weg war ich schon öfter gegangen, und ich kannte die Schwierigkeiten. Gegen Mittag erreichten wir die Jefferson Ave. An einer Kreuzung der vierspurigen Einbahnstraße hatten, als die Welle einsetzte, gerade die ersten Wagen an der Ampel gehalten. Als die Piloten der folgenden dreißig Fahrzeuge starben, knallten diese ungebremst in stehenden, einer der höchsten Blechhaufen der Stadt entstand. Als dann ein Tanklaster mit Flüssiggas diesen Berg hinauf schoss, um an der Spitze auseinander zu brechen, verschmolz die folgende Explosion das Gebilde zu einem Kunstwerk aus Metall und Fleisch, welches dieses Sonnensystem noch Jahrzehnte als Mahnmal des Untergangs der menschlichen Zivilisation schmücken sollte.
Ich kannte einen Pfad, der einigermaßen sicher darüber hinweg führte. Als ich mich an der Front eines Fort Escalate hochzog, blickte ich in die offenen Augen einer brikettschwarzen Leiche, deren Oberkörper sich auf der Motorhaube festgebrannt hatte. Das Weiß der Augen leuchtete aus dem schwarzen Nichts, das einmal das Gesicht einer Frau oder eines Mannes gewesen war. Was war das? Ein Blinzeln? Ich dachte, ich hätte ein Blinzeln gesehen. Schnell kletterte ich weiter, die anderen hinter mir her. Plötzlich fielen mir die vielen weiß gerahmten Augen auf, die mich aus dem Schrottberg anstarrten, als hätten sie mich fixiert. Da ein Chevrolette mit einer ganzen Familie, das Dach wie bei einem Cabrio abgerissen und nach hinten geklappt. Die fünf menschlichen Schatten machten mir Angst. Hatte das Feuer ihre Lider weggebrannt? Große Augen die mich anstarrten, sie wirkten so lebendig. Ich kletterte schneller.
„Langsamer!“ schnaufte der dicke Carson, nachdem ein Seitenspiegel abbrach, den er als Stufe nutzen wollte.
„Beweg du lieber deinen pastagestopften Arsch, oder willst du auf diesem Metallfriedhof übernachten?“ fluchte der drahtige Leshesky.
Am Abend hatten wir das Ungetüm überwunden und schlugen unser Lager in einem kleinen Chinashop auf. Wir hatten nicht mehr die Kraft, den Laden von den Entschlafenen zu säubern, und so lag der kleine, alte Verkäufer noch hinterm Tresen unter der Kasse, die er mit sich gerissen hatte. Eine Frau, deren fette, blau angelaufene Waden über die kleinen Pumps quollen, lag halb stehend in einem zusammengebrochenen Büchsenturm. Ein Handwerker wollte wohl gerade eine Klimaanlage installieren und war in einem Luftschacht gestorben, aus dem noch immer seine Beine baumelten. Alles Horrorszenen, an die man sich gewöhnt hatte, zwischen denen man jetzt lebte, als sei es normal.
Leshesky schaufelte irgendetwas aus einer Dose in sich rein. Das Licht unserer Gaslampe war gespenstische Schatten in sein knochiges Gesicht: „Was hat uns hier erwischt? Das ist das einzige was ich noch wissen will.“
„Und wann sind wir dran?“ fragte ich.
„Ist mir egal, wenn es uns erwischt, dann sind wir wenigstens bei den Anderen.“ gab Leshesky zwischen zwei Gabeln zurück. Aiko, der man die totale Verstörung ansah, warf ein:
„Sind wir die letzten lebendigen Menschen auf der Erde?“
„Ich glaube ja.“, antwortete ich. „Und ich glaube es wird noch eine Welle kommen. Die uns ebenfalls schlafen legen wird. Der ganze Planet ist tot. Vielleicht stimmt etwas mit den Naturgesetzten nicht mehr. Es haben ja nicht einmal die Schaben überlebt.“
„Und wenn uns keine Welle erwischt wird uns irgendwann das Essen ausgehen“, meldete der Autoverkäufer.
„Wir stören die Totenruhe, wir müssen hier so oder so verschwinden“, flüsterte Leshesky mit eiskalter Ruhe. Und weiter:
„Lasst uns aufs Land gehen, eine Farm säubern, unsern Frieden mit uns selber schließen und unser Schicksal erwarten.“
Alle bejahten dies mit schweigen.
Ein Alptraum plagte mich die Nacht. Ich lag nackt in einem Massengrab. Halb begraben von ebenfalls nackten Leichen. Ihre gelben, schmutzigen starren Körper waren kalt. Durch die gebrochenen Finger einer starr in den Himmel ragenden Hand sah ich eine kalt leuchtende Sonne. Wie ein Raumschiff verdunkelte plötzlich die Schaufel eines Bulldozers den Himmel und dann regnete es tote Körper auf mich. Ich versuchte mich zu befreien. Doch waren mein Arme und Beine fest umschlungen von selbigen in kalt. Je mehr ich zappelte desto fester umschlungen sich mich. Waren sie doch nicht tot? Alles bewegte sich plötzlich, immer mehr Leichen stürzten auf mich. Ich schrie, da wurden mir Mund und Nase zugehalten. Überall Finger, diese kalten Finger. „Raus aus unserm Grab!“ dröhnte es als ich erwachte. Alpträume war ich gewohnt und so realisierte ich schnell dass ich wieder in meinem Daueralptraum war. Die Sonne hob sich gerade still aus der Skyline und warf rotes Licht auf meine Leidensgenossen. Ich sah Carson an und erschrak, als ich in seine weit geöffneten Augen blickte. Er war tot. Meine Augen rasten zu den anderen, sie lagen auch still da. Ich schrie:
„Das kann doch nicht war sein! Scheiß auf dich, ich scheiß auf dich!“
Da wachten Leshesky und Aiko auf. Sie hatten nur geschlafen.
„Was ist los?“
„Carson, sie haben ihn sich geholt!“
Wir verschwanden sofort, Beerdigungen gab es schon seit einem Monat nicht mehr.
Kapitel 3
„Den Tod fürchten, heißt dem Leben zu viel Bedeutung beizumessen.“
Wir liefen und kletterten den ganzen Tag. Gegen Nachmittag begann es zu regnen und wir legten eine Pause in einem Wohnmobil ein. Auf der langen vierspurigen Straße war wohl ein Stau auf den Spuren, die in Richtung des Wohnmobils standen, kaum Auffahrunfälle, auf den beiden Spuren der anderen Fahrtrichtung sah das anders aus, eine Schlange von ineinandergesteckten Vehikeln wand sich bis zur nächsten Ampel. Ein großes Kino schmückte die Ladenpassage, wo ein Zementmischer den Eingangsbereich zerstört hatte. Eine Motorradgang mit ca. zwanzig Maschinen hatte sich zwischen den Autos und Minivans verkeilt. Die Kadaver sahen schlimm aus. Offene Schädel. Abgerissene Arme und Beine. Ein großer 47 Cadillac mit Flossen war wohl von der Straße abgekommen und durch eine Touristen-Gruppe gefahren, bevor er sich an einer Betonwand hoch und zusammen schob. Die Überfahrenen sahen aus wie überdimensionale Insekten, die auf dem pinken Lack zersprungen waren. Das Blut war mit den Wochen schwarz geworden, die Gebeine hatten die Farben gelb, blau und grau angenommen. Immer öfter fielen mir ihre weit aufgerissen Augen auf, die mich aus allen Ecken anzustieren schienen.
Wir hatten den Gasherd angeschmissen um uns etwas Wasser zu erhitzen. Ein Kaffe war immer willkommen. Aiko durchwühlte mit geübten Griffen die Schränke nach dem Nötigen, während sich der Gasgeruch in der Kabine verteilte. Ich blickte aus dem Fenster, wo schwere Regentropfen die Entseelten wusch. Der Himmel wurde immer grauer, ein paar Risse in der Wolkendecke ließ Sonnenstrahlen passieren, die bis auf den Boden reichten. Der Regen funkelte im Licht. Da war plötzlich ein Kratzen. Wir schreckten alle zusammen. Aiko goss den Kaffe an der Tasse vorbei. Ein schaben wie von einem Hund, der rein wollte. Ich wühlte meinen Revolver aus meinem Jack Wolfskin Rucksack und schlich mich auf die Tür zu. Aiko und Leshesky folgten an meinen Schultern. Ich öffnete langsam die hintere Seitentür des Wagens. Da lag ein Gestorbener, die Hand nach uns ausgestreckt. Er bewegte sich nicht. Regen schlug auf seinen Trenchcoat ein. Sein rechtes Bein und ein großes Stück der Hüfte fehlten. Ich stieg aus dem Wagen und hockte mich, das Terrain mit meinen Augen scannend, vor ihm hin. Wasser floss mir durchs Gesicht. Ich drehte den schmalen Mann um. Wir blickten in ein totes Gesicht, Mund wie Augen aufgerissenen.
„Was ist hier los?“ wimmerte Aiko, das Sehende kaum ertragend.
„Zurück! – zurück in den Wagen!“ befahl ich, „Wir sind nicht alleine.“
„Den muss jemand hier her gebracht haben, der war vor zehn Minuten noch in dem Cadillac eingeklemmt!“ wunderte sich Leshesky. Etwas schepperte. Wir zuckten zusammen und stiegen rückwärts, uns hinter der Waffe versteckend, wieder in die Wohnbox. Ein tiefer, unmenschlicher Schrei einer Sirene ähnlich hallte plötzlich durch die Straßen.
„Scheiße, man…“ fluchte ich und wurde von Aiko unterbrochen:
“Die Geister, kommen, sie kommen um uns zu holen.“
Ich wusste nicht was ich dem entgegnen sollte. „Schnell rein!“ war alles, was mir einfiel. Wir stolperten rein und verbarrikadierten uns, so gut es ging. Die Risse im langsam schwarz werdenden Himmel färbten sich rot.
„Höllenaufgang!“, kommentierte Leshesky sarkastisch.
„Das ist nur die untergehende Sonne.“ ,erklärte ich. Dann brach das prasseln des Regens ab, auf einen Schlag Stille. Nur das Wimmern von Aiko. Durch die Schlitze der geschlossenen Jalousien stierten Leshesky und ich in die der Hölle immer ähnlicher werdenden Dämmerung.
Bewegte sich da was?
Eine Frau mit einem durchnässten braunen Pelzmantel war, auf der Beifahrerseite eines Mercedes mit dem Oberkörper durch die Windschutzscheibe geknallt. Der Mercedes stand direkt neben uns. Die nassen, kupferfarbenen Haare der Frau klebten auf der silbernen Motorhaube. Sie ließen eine lange vergangene Dauerwelle erkennen.
Aber die zuckte doch!
Ich rieb mir die verschmutzten Augen. Wie eine Katze, die ein Fellknäuel hoch würgt, durchfuhren Muskelkontraktionen ihren sichtbar kalten Körper. Blutige Kotze sprühte ihr aus dem jetzt zu mir gedrehten Kopf. Jetzt sah ich es überall, ein Winden und Zucken. Die Leichen erhoben sich. Alle befreiten ihre Speiseröhren und Lungen von wochenlang eingetrockneten Speise- und
Blutresten, die ihnen fortan aus Mund und Nase tropften. Sie zogen sich aus ihren eisernen Särgen, die einst das Symbol ihrer Überlegenheit waren. Eingequetschte Extremitäten wurden los- oder abgerissen. Dabei ertönten qualvolle Schreie, die ihren Ursprung wohl eher in der Erinnerung fanden als in realen Schmerzen, denn die konnten sie wohl kaum haben.
Hunger dominierte ihre demolierten und verrotteten Körper, und so gingen sie aufeinender los. Sie begannen sich anzufressen. Einander und sich selbst.
Ein Schlag traf unser Gefährt. Mit solcher Wucht, dass ich dachte er hätte mich in den Magen getroffen. Aikos weinen steigerte sich zu Geschrei. „Ruhe!“,brüllte Leshesky durch die Zähne. Noch ein markerschütternder Schlag an die Tür vor der der Trenchcoatleichnam lag. Aiko schrie. Die Dämonen, die sich selbst verschlangen, hörten diesen Schrei, und schon wurden wir von hunderten toten Augen angestarrt. Und alles begann auf uns zuzukrabbeln. Immer noch entknoteten sich zusammengemanschte Fleischberge, um noch einmal zu Individuen zu werden, die den voran krabbelnden folgten. Der Ursprungsort des Schreis von Aiko war zum Wallfahrtsort der Toten geworden. Panik durchströmte meine Venen. Leshesky hockte sich hin und begann das Gebet das alle kannten. Immer mehr Leichen strömten auf uns zu. Sie krabbelten und stolperten unbeholfen über Autos und übereinander auf uns zu. Knabbern, Kratzen und Poltern erklang. Sie schrien beim Einschlagen auf das Wohnmobil wehleidig in die rote Dunkelheit. Die erste Welle wurde von der nächsten niedergetrampelt und zertreten. Der Wagen schaukelte im Meer der Monster. Ich blickte nach oben, als das Poltern auf dem Dach begann. Das Dach bog sich leicht ein. Mit dem Revolver auf die Wände zielend ging ich rüber zu Aiko und hockte mich neben sie zwischen Spüle und Waschraum, gegenüber der Eingangstür, und legte einen Arm um sie. Leshesky machte eine beängstigende Mine. Er stand auf, ging zur Tür und löste die Verriegelung begleitet von Aiko`s Schrei: “Nein!“
Ich drückte sie etwas fester, was sie zu beruhigen schien. Leshesky, drückte den Griff runter und stemmte sich gegen die Tür. Sofort griffen gierige Hände nach ihm und versuchten ihn raus zu ziehen. Sie schnappten seinen Arm und brachen ihn ab. Dabei stürzten ein paar Dutzend rückwärts um. Die Tür knallte auf und Leshesky viel raus. Sofort stürzten sich die Untoten auf ihn und begannen mit ihren stumpfen Zähnen in ihn rein zu beißen. Mit einem ruhigen Gesichtsausdruck begrüßte er sein Ende. Es waren so viele. Die ganze Stadt schien sich auf uns zu stürzen. Leshesky verschwand in der Menge, die jetzt auf uns aufmerksam wurde. Sie kamen auf die offene Tür zu und stiegen hindurch. Ich gab drei verzweifelte Schüsse auf die ersten ab. Sie blieben ohne Wirkung. Der erste erreichte mich. Es war die rothaarige Frau. Ihr Kopf schnellte auf meinen Nacken zu und wollte in ihn hinein beißen. Doch durch ihren Unfall war ihr Unterkiefer zertrümmert und die losen Fragmente brachten nicht genug Kraft zu beißen auf. Der nächste und noch ein weiterer stürmten rein, ich schoss noch zweimal in ihre Kadaver. Ich wimmelte die Rothaarige ab und warf mich vor Aiko. Dadurch erwischten mich die beiden. Immer mehr strömten jetzt in den Wagen. Als sie mich gerade zerreißen wollten, brach das Dach ein. Tausende, sie waren überall. Wir waren begraben. Ich spürte starke Bisse in meinen Oberschenkel, ich konnte sie nicht abwimmeln. Noch ein Biss in den Arm, ein Gesicht direkt vor mir biss mir in die Augenbraue. Ich schrie und drehte mich etwas. Da sah ich Aiko, sie lag unter mir und wimmerte. Den Revolver hielt ich immer noch fest umschlungen. Ich schob ihn zwischen unseren Körpern hoch auf ihr Gesicht zu. Ich merkte, wie sie anfingen, meinen Rücken aufzukratzen und meine Beine fraßen. Das sollte Aiko nicht widerfahren. Ich drückte ab und eine Kugel bohrte sich durch ihr Gehirn. Sie war sofort tot. Als ich den Revolver auf mich gedreht hatte und abrückte, klickte es nur. Er war leer. Und so wurde ich langsam aufgefressen. Auf dem Grund eines Berges aus lebendigen Leichen.
Und das Leben blieb aus. Die Flamme des Lebens erlosch und niemand vermochte es neu zu entflammen.