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Totaler Krieg oder Betrug der Realität
Draußen scheint irgendwie die Sonne. Irgendwie, weil dies so ungefähr das Letzte war, was ich erwartete, als ich mich enstchloss zu erwachen. Doch auch ich muss irgendwann mal wach werden, wenigstens auf der einen oder anderen Ebene. Ist komisch, da sie doch bloß scheint, um meinen Unwillen herauszufordern. Oder mir Mut zu machen, das kann natürlich auch sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Ich verstehe weder die Gründe der Sonne, noch die Reaktion der Menschen.
Die Sonne scheint und es ist kühl. Wahrscheinlich eine Art Herausforderung und Aufmunterung zugleich, denn Wärme hätte mich nur niedergedrückt und mich dazu veranlasst, im Selbstmitleid zu baden. Die Frische weckt einen auf und lädt dazu ein, sein Dasein zu überdenken und zur Tat zu schreiten. Zu denken, zu schreiten. Erst zu denken. Das Schreiten ist eine ganz andere Angelegenheit. Was soll ich denn denken? An mich. Gar nicht so leicht, riskantes Unterfangen, schwierige Mission. Ich kämpfe wohl zu oft auf verlorenem Posten, habe das schon immer getan. Mächtiger Fehler, die Lage nicht einschätzen zu können. Wäre wohl ein lausiger Feldherr. Feldherrin. Wie auch immer. Vielleicht auch nicht, denn Blindheit und fanatische Begeisterung ohne den lästigen Ballast der Logik und Selbstkritik können einigermaßen verführerisch wirken. Trotzdem ist das Denken über sich selbst ein von vorneherein verlorener Krieg. Ein in die Hose gegangener Kreuzzug. Wer kann das schon, ohne sich in verzerrte Bilder des hätte-dies-dann-wäre-das zu verirren und sich selbst seine eigene kleine Heldenwelt zu erschaffen? Ich persönlich versuche dies zu vermeiden, indem ich mir gar nicht erst erlaube ich selbst zu sein, sondern in meinem Kopfe Menschen erschaffe und Vorbildern folge, die mir diktieren, woran ich zu glauben habe. Macht das Ganze simpler. Ist auch moralisch vertretbarer als einfach sich selbst sein, denn durch das Erfinden legt man sich Eigenschaften zurecht, die man von Anfang an einordnen kann und die unveränderlich, also unfehlbar sind. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund jedoch lassen sich diese göttlichen Kreationen nicht mit dem Täglichen Einerlei vereinbaren. Ich kreiere also die Realität. Vielleicht kreiert die Realität auch mich, das tut nun wirklich nichts zur Sache. Es ist irrelevant, denn kann ich die Frage nicht beantworten. Wichtig ist, dass die Sonne nun doch scheint um mir Mut zu machen, um mir zu sagen, dass ich es nicht vergessen habe. Es. Diese Sache, der ich keinen Namen zu geben vermag, denn der von der Realität geschaffene Begriff reicht wohl kaum aus, es in seiner ganzen, zerstörerischen Tragweite zu umschreiben. Es.
Ich dachte nämlich geraume Zeit, ich hätte es vergessen. Irgendwie vergessen. Weiß auch nicht, wie es passieren konnte, doch eines schönen Tages war es weg. Ich konnte es weder spüren, noch durch eingehendes sondieren in mir orten. Es war der verlorene Kampf, zu dem Schluss bin ich dann gekommen. Dort verlor ich es. Ich habe die Lage falsch eingeschätzt, alles riskiert, mich in den blutigen Kampf gestürtzt, auch bereit zu kapitulieren und mich dem größeren Genie zu beugen, falls ich das Gefühl hätte, er besitze die Macht, mich zu beherrschen. Denn nur so kann ich mich ergeben, aber dann voll und ganz. Er besaß diese Macht, er war gewillt, die Schlacht mit mir, und gelichzeitig gegen mich, auszutragen, und, verdammt noch mal, er war die Sache wert. Er verstand meinen Drang zur Kriegführung, meine Sehnsucht, zu siegen und besiegt zu werden. Damals war es noch da, ich konnte es deutlich spüren, in jeder Faser meines Selbst, es brannte, es schmerzte, es trieb mich an und auch zum Wahnsinn, es war ein Rausch, eine Droge, ein Feuer und die Verdammnis. Ich hatte es, es war das Banner, was mich veranlasste, in den Krieg zu ziehen. Auch er zog in diesen Krieg. Doch wie habe ich es verloren? Ich kann es sagen. Er konnte nicht mehr kämpfen. Die Bataillone sind einfach verschwunden, der Feldherr war gefallen, von einer Fremden Macht dem Leben und Kampfe geraubt. Einfach weg. Und mit ihm mein Kampfgeist. Danach habe ich es vergessen.
Es ist leicht, wenn man es vergessen hat, sich auf die anderen Dinge des Lebens zu konzentrieren, denn in den verschiedensten Bereichen kann man sich nur eines Sieges gewiss sein, wenn man auch bereit ist, im Kampfe alles zu verlieren. Diese Arten des Kampfes jedoch werden nicht gekämpft, um die Stärke des Anderen zu testen und sich dann willig und im Rausch der Selbstzerstörung, der Selbstaufgabe und der anschließenden Wiedergeburt zu ergeben, nein, sie sind da, um Machtpositionen zu sichern. Auch dies kann vergnüglich sein, fehlt da doch die zermürbende Komponente des Etwas, was ich vergaß, verlor. So führten mich die Schlachten an alle Orte, auch dahin, wo die Sonne scheint um mich aufzumuntern. Vielleicht um mich an etwas zu erinnern. Ich schritt von nun an unverletzt durch die Frontreihen, denn ich konnte keine Wunden erfahren. Ich setzte ja nicht mich selbst, erfunden oder von der Realität fabriziert, aufs Spiel.
Doch irgendwann traf mich die Erkenntnis, dass ich es vielleicht doch nicht vergessen haben könnte, dass es bloß tief in mir schlummerte, listig auf die Gelegenheit wartend, seinen Winterschlaf ohne Vorwarnung zu unterbrechen und mich der Umwelt wieder verletztlich zu präsentieren. Freilich hatte ich so lange nichts mehr davon gespürt, dass ich total und absolut aus der Übung geraten war. Geraten bin. Ich weiß jetzt gar nicht, ob ich es nun vergessen habe oder ob ich es einfach nicht mehr identifizieren kann, oder vielleicht ob das, was ich vergessen zu haben glaube und nun wieder in mir mich verletzen fühle, bloß der nostalgische Versuch einer Wiederbelebung ist. Ein Projekt der erfundenen Menschen, der vorsichtig und umsichtig ausgesuchten Vorbilder, zusammengefunden um zu beraten und zu einem Konsens zu kommen. Dass es gar nicht da ist, sondern einer von mir geschaffenen Illusion entspricht. Wäre typisch, was traurig genug ist. Meine Autosuggestionskraft (falls ich mir dieses Wort nicht nur selbst suggeriere) war schon immer ein recht erstaunliches Phänomen. Deswegen bin ich mir nie sicher, ob ich die Realität (übrigens ein recht weitläufiger Begriff) erschaffe oder sie mich.
Doch habe ich es nun vergessen oder habe ich es wirklich wiedergefunden?
Es liegt an ihm, den ich erst vor kurzen in meine Realität spazieren ließ. Irgendwie hat er sich in die Welt eingeschmeichelt, harmlos tuend, charmant und naiv, so dass ich, keinen Verdacht schöpfend, ihm Eintritt gewährte und ihm erlaubte, ein Teil des Lebens zu werden. Grober Fehler. Ich dachte damals, als mein Krieg mir entrissen wurde und ein riesiges Loch in der Realität klaffte, welches ich gewitzt mit dem Nichts zu füllen verstand, ein Meisterstreich meinerseits, dass es endgültig vorbei wäre. Ich wäre nie wieder dazu imstande, es noch einmal heraufzubeschwören, es willkommenzuheißen im Triumphzug mit Fanfaren, Wimpeln und der unvermeidlichen Marschmusik. Doch irgendwas ist grundsätzlich schief gelaufen. Die Realität spielte irgendwie nicht mehr nach meinen Regeln. Ich wurde, ob ich es nun wollte oder nicht, wiederum in einen Krieg verwickelt. Damals waren die Fronten geklärt, auch wenn wir zu jung waren, die Logik der Kriegführung vom wilden Wüten der gewaltigen Schlachten zu trennen. Damals kamen wir zu einem Ende als noch kaum entschieden war, wer die größeren Chancen besaß, Herr der Lage zu werden. Das, oder zu wissen, wem wir den Sieg in den Tiefen unserer Herzen wirklich gönnten. Jetzt aber ist es ganz anders.
Die Fronten sind alles andere als geklärt.
Er führt eindeutig Krieg, doch die fehlende Logik lässt mich die inkonstante Frequenz der Angriffe und taktischen Rückzieher wohl kaum begreifen. Ich begreife ja nicht einmal meine eigene Taktik.
Ich wollte diesmal gar nicht in den Krieg. Wäre ja auch mehr als wiedersprüchlich, denn ich war ja des unverrückbaren Glaubens, ich hätte es vergessen. Verloren. Wie auch immer. Doch eines schönen Tages machte ich die Entdeckung, dass die Realität sich im Ausnahmezustand befand, und das ohne Vorwarnung oder Ultimatum. Irgendwie ungerecht. Ich hatte gar keine Zeit, mich zu organisieren und einen Lageplan zu schaffen oder zu analysieren, man gab mir ja keinen. Die Realität hatte mich also, und es schmerzte mich, diese Erkenntnis zu machen, hinterrücks erstochen. Auch damals schien die Sonne, um mir Mut zu machen. Ich glaube, die Sonne möchte sich mit mir der alles niederwälzenden Übermacht der Realität entgegenstellen. Wäre auch nur gerecht, denn es handelte sich um eine gemeine Verschwörung.
Also gut, schön. Ich muss aber zugeben, dass ich nicht einmal im Traum daran gedacht habe, einen Rückzieher zu machen und den Krieg zu beenden, ohne zu kämpfen oder gar ohne zu kapitulieren. Ich kritzelte schnell einen Plan für den Notfall, falls es dazu käme, dass ich meinen Schuldanteil verleugnen müsse, um ehrenhaft davonzukommen, und dann machte ich alle Kräfte, die ich so auf die Schnelle finden konnte, mobil und zog in den Kampf. Totaler Reinfall. Es war kein offener, schöner Krieg, vielmehr einer terroristischen Guerilla gleichend. Immer wieder diese Dolchstöße, vom feindlichen wie vom eigenen Lager. Zwischendurch habe ich Kampfgeist wie Mut verloren. Schon lange weiß ich nicht mehr, warum ich überhaupt noch kämpfe, und wozu. Es ist vielleicht doch nur eine Illusion, von mir erschaffen, um die Realität zu verblenden, oder umgekehrt. Schwer zu sagen. Ich dachte zu Anfang des Krieges, dass ich, mit dem Nichts erfüllt, im Grunde nichts zu verlieren hätte. Doch dann kamen ja die dummen Zweifel.
Jetzt geht es mir um so miserabel, und ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht. Wo der Horizont grau und blutig sein sollte, scheint die Sonne, um mir Mut zu machen, denn sie hat sich ja mit mir gegen die Realität verschworen.
Es kommt ab und zu zu Verhandlungen mit dem Feind, doch seine Taktiken sind brutal und unfair, während ich alles darauf setze, ihn soweit es geht zu provozieren, um dann zu meinem zerschlagenen Lager zu rennen und den totalen Krieg zu proklamieren. Er versteht es aber nicht. Unsere Kampfmethoden sind sich zu fremd, um sich zu verstehen und auf eine einheitliche Art des Abschlachtens zu einigen. So erstechen wir uns gegenseitig und begreifen gar nicht, woher das ganze Blut kommt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es nicht mehr lange aushalte. Das heißt, mein Kontingent an Nichts hat sich beinahe erschöpft und ich beginne zu glauben, dass ich es doch nicht vergessen habe.
Gestern schien die Sonne nicht.
Es war eine weitere, besonders gewalttätige Ettappe des Kampfes in Gange.
Ich provozierte ihn, er schlug zurück, änderte jedoch alsbald die Taktik und bekämpfte, was beiderseitiges Unverständis (man sollte meinen, die erste Vorraussetzung für den Ausbruch eines Krieges) hervorrief, mich mit Mitteln, die ich nicht verstand. So zog ich mich zurück und stach in meine eigenen Wunden, unter dem Vorwand, sie pflegen zu wollen. Sie bluten noch immer. Die Schlimmste Wunde, von ihm heimtückisch beigebracht, stammt von einer beinahe willkürlichen Berührung. Oh, das sind die hinterhältigsten Verletzungen, die auch, wenn sie überhaupt heilen, deutliche Narben hinterlassen. Die Verführung der Gefahr trieb mich direkt ins feindliche Lager, und ich wäre bereit gewesen, jeden Anspruch auf Sieg aufzugeben, wenn nur die Methoden des Kampfes den meinen geglichen hätten. Hier spreche ich selbstverständlich nicht von Gerechtigkeit, sondern einem ersuchten Einverständnis zwischen mir und der Realität, eine Verschwörung in der Verschörung sozusagen. Doch wieder spielte die Realität mir einen Streich und alles ging daneben. Ich, wenn ich den konkreten Beweis bekommen hätte, unterlegen zu sein, hätte mich der Übermacht gebeugt und keinen Widerstand geleistet. Doch das war nicht möglich, denn nicht einmal die Sonne war bereit, mir Mut zu machen. Es war ein verlorener Posten und ich wollte es nicht sehen. Die Wunden, die meinem Stolz und meiner Bereitschaft, mich zu ergeben, angetan wurden, kamen niederträchtig von einem schönen, anmutigen und zugleich verständnislos-grausamen Wesen, welches meine Logik verstehen aber meine Kriegführung nicht akzeptieren vermochte. Vermag.
Es war eine Berührung der Augen, die schlimmste Waffe, die einem den Atem und Willen zum Kampfe raubt. Eine Berührung der Seele und ein Rückzug, der mir mein Nichts ohne Vorbehalte nahm, als ich verwundbar war, und mich verkrüppelt zurückließ, blutend auf dem Schlachtfeld, auf dem ich schon die weiße Flagge gehisst hatte. Das Nichts ist jetzt endgültig weg. Die Anmut des Feindes bleibt in mir haften, die Realität ist von ihrer kaltblütigen, wenn auch davon nicht in Kenntnis gesetzten Eleganz gebrandmarkt. Der Schmerz, der jetzt anstelle dieses Nichts das eigene Lager peinigt, die Schreie der Verwundeten und das Trauma, die Erinnerung an diese flüchtige Berührung, lassen das einstige Loch wieder klaffen, und ich erstarre in der Kälte....... und in dem wiedergekehrten Leben, welches mich zwingt zu atmen, so schmerzhaft es auch sein mag.
Ich glaube, ich habe es doch nicht vergessen.
Ich glaube, es ist eigentlich immer da gewesen, lauernd, beobachtend, auf den geeigneten Moment wartend, um mich anzugreifen, sobald sich meine Verteidigung unachtsam zeigte. Irgendwann war dieser Moment dann auch gekommen. Die Realität nutzte die Gier des vergessen Geglaubten schamlos aus, um sich gegen mich und mein Nichts zu verbünden, uns zu zerstören und neu zu erschaffen.
Er, der Feind, zeigte mir mit seiner ihm überaus gut stehenden, verführerischen Grausamkeit, dass das Nichts weniger konstant ist als die Realität, die einen immer wieder aufs Neue verändert und sich gegen mich und die Sonne verschwört.
Ich habe es nicht vergessen, und jetzt quält es mich mit Schmerz, Selbstvorwürfen, Sehnsucht, Demütigung und Verlangen.
Ich habe es nicht vergessen.
Ich habe sie nicht vergessen.
Die Liebe.
Den totalen Krieg.