Tosca Erinnerung
(Alp)traumhafte Geschichten
Das kleine Mädchen, circa 4jährig, wurde wach mit einem riesigen Gefühl der Freude, der Freiheit und der Sicherheit von allen geliebt zu werden. Zum allerersten Mal war sie weit weg von zu Hause, von den Eltern und den vier Geschwistern. Sie wusste nicht warum ihr diese Vergünstigung erteilt worden war. Sie durfte vier Wochen bei den Grosseltern, Oma und Opa, sein; ganz alleine.
Aber das Wachwerden war nicht so wie sonst. Egal in welchem Zimmer sie schlief, in welchem Bett sie lag, musste sie immer einige Zeit darauf warten, bis die nächste Person wach wurde und ansprechbar war. Doch an diesem Morgen wusste sie, dass sie nicht die erste war, die sich schon bewegte. Sie lag auf der „Besucherritze“ bei den Grosseltern, die zwei Menschen, die sie fast genauso stark liebte wie ihre Eltern. Ihre Eltern waren ihre Herrgötter, danach kamen die Grosseltern, und dann ihre Geschwister.
An diesem Tag war das anders. An diesem Tag spielte ihr das Schicksal böse mit. Grossmutter, die Mutter ihres Vaters, war schon aufgestanden, und der Grossvater war mit ihr beschäftigt, nachdem er vom Nachtdienst als Securitaswächter nach Hause gekommen war. - Ausgerechnet er!
Sie hatte jedes Mal noch so gerne Platz auf seinen Knien genommen, sich noch so gerne in die Luft werfen lassen und war noch so gerne kreischend in seine Arme zurückgefallen, wohlwissend, dass er sie nicht fallenliess. Darum verstand sie auch nicht, was er mit ihr machte. Er flüsterte ihr Worte zu, die sie nicht begriff. Warum flüsterte er ihr zu, dass er sie liebte, dass sie sein kleines Geheimnis war. Alle wussten doch, dass sie ihn gern hatte. Warum war sie sein Geheimnis? Sie umarmte ihn doch immer so gerne, auch wenn seine Bartstoppeln ihre Wangen so schmerzvoll röteten.
Heute, 60 Jahre später, hörte sie noch immer seine unterdrückte Stimme und spürte seine nassen Lippen an ihrem Ohr. Sie dachte heute zwar „Gott-sei-Dank“ ist er nicht bis zum Äussersten gegangen. Er hatte ihr nicht wehgetan, er hatte ihr nur zwischen den Beinen dieses ekelhaft schleimige Gefühl hinterlassen. Und er liess nicht ab von ihr, bis sie die Grossmutter hörten, die sie zum Frühstück herunterholte. Und da war sie sich auch ganz sicher, dass es etwas Verbotenes war, was er an ihr versuchte. Denn er spielte sofort den Schlafenden und liess sich auch nicht mehr bis zum Mittagessen blicken.
Das kleine Mädchen hatte schon immer eine Antenne dafür, was man erzählen konnte und sollte, und was man besser für sich behielt, damit die Welt, in der sie lebte, gleich behaglich blieb und nicht ihr böses Gesicht zeigte. - So hielt sie es ihr Leben lang!
Sie erinnerte sich noch gut daran, als sie, grade mal 9jährig, ihre Grossmutter einmal fragte: „Oma, wir hatten doch früher die grösste Medikamentenfabrik in Deutschland, hat Vati uns einmal erzählt. Aus diesem Grund trug jeweils der erstgeborene Sohn den Vornamen ‚Alfons‘; was ist damit geschehen?“ Und die Grossmutter antwortete in einem Ton, den das Mädchen nie zuvor und auch niemals später jemals wieder von ihr hörte: „Die hat der Grossvater verhuret!“ Sie wusste zwar damals noch nicht, was verhuret bedeutete, aber mit der Zeit verstand sie es, weil sie gleichzeitig bemerkte, dass Oma und Opa nie ein Wort miteinander wechselten, gleich wann und wo und egal wer in der Nähe war.
Opa war nun mal so! - 60 Jahre später weiss das kleine Mädchen, dass bei ihr ADHS diagnostiziert wurde. Mit 4 Jahren wusste sie nur, dass es nicht recht oder nicht richtig war, was mit ihr in den allerersten Ferien geschah. Ferien von was. Deshalb konnte sie es auch immer wieder vergessen. Sie vergass es sogar schon auf dem Weg zu Omas Frühstück - bis zum nächsten Morgen!
Aber es sollte nicht lange ruhig weitergehen in ihrem kurzen Leben. Das kleine Mädchen hatte öfter Grund genug ihre Antenne in Anspruch zu nehmen. Die Antenne, die ihr immer wieder riet, zu schweigen, damit die Welt so blieb wie sie war. Für sie selbst, aber hauptsächlich für die andern, die andern, die ihre Welt bevölkerten und die sie doch so gerne hatte. Das war immer das Schlimmste, dass die, die sie doch so grenzenlos liebte, die ihre Welt darstellten, die immer da waren, den Schutz ihrer Antenne täglich brauchten.
Es kamen noch einige wenige Personen in ihrem Leben dazu. Vielen, sehr vielen Menschen ist sie noch freiwillig oder unfreiwillig begegnet, aber den Glauben an die „Liebsten“ hat sie spätestens mit 14 Jahren verloren. – Ausgenommen die Eltern – die blieben ihre Götter – bis sie 18 Jahre alt wurde.
Aber, wie es so ist mit den Göttern – entweder sterben sie viel zu jung oder sie leben viel zu lang, und dann sind sie keine Götter mehr.
Sie durfte niemals mehr in die Ferien zu den Grosseltern. Was ihr allerdings auch nicht leid tat, wenn sie ehrlich so darüber nachdachte. Und als sie 14 Jahre alt wurde, starb der erste Halbgott oder vielmehr die erste Halbgöttin.