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Tophs Verträge - Die Familie
"Ich glaub, die Alte hat Fieber."
"Noch ist ihr Leben nicht vorüber", flüsterte Heinrich, "also sprich nicht so über deine Mutter, sonst fängst du dir eine!"
Ullrich verließ augenrollend das Zimmer. Heinrich saß neben dem Bett, auf dem seine Frau lag, und hielt ihre rechte Hand mit beiden Händen fest. Paul stand hinter ihm, schüttelte den Kopf, und berührte seinen Vater sanft an der Schulter.
"Papa, du solltest schlafen, oder zumindest etwas essen."
"Ich werde sie nicht verlassen, Paul", gab Heinrich seinem älteren Sohn zur Antwort.
Dieser seufzte. "Wie lange bist du jetzt schon in diesem Zimmer? Drei Tage? Du hilfst ihr nicht, indem du neben ihr sitzt und zugrunde gehst."
Heinrich schüttelte den Kopf, ohne den Blick von seiner Frau abzuwenden. Paul wandte sich langsam ab und verließ das Schlafzimmer seiner Eltern. Er wollte seinem Vater helfen, er wollte es wirklich; aber er wusste nicht, was er tun konnte. Er war das älteste noch lebende Kind; seine beiden älteren Brüder waren vor zwölf Jahren im Krieg gefallen, und seine ältere Schwester war kurz nach dem Kriegsende 1945 ... gestorben.
Nun gab es nur noch Paul, Ullrich, die Mädchen Anna und Maria; und eben ihre Eltern. Und nachdem Pauls Vater nun auch noch seine Firma verloren hatte ...
In der Küche traf Paul auf seinen jüngeren Bruder.
"Na, Pauli, der Alte wird langsam-", doch noch bevor Ullrich den Satz beenden konnte, hatte Paul ihm eine Ohrfeige gegeben.
"Spinnst du?", rief Ullrich aus.
"Fragst gerade du? Was soll der Scheiß? Hast du keinen Respekt mehr vor unseren Eltern?"
Ullrich lachte kurz, doch es war ein freudloses Lachen. "Wieso sollte ich? Mutter ist kurz vorm Abtreten, und Vater sitzt heulend daneben! Wenn er sich so um Johanna gekümmert hätte, wie jetzt um die Alte ..."
"Er konnte nichts dafür!", verteidigte Paul seinen Vater.
Ullrich schüttelte seinen Kopf. "Ja, gar nichts! Er hat ja nur Soldaten bei uns wohnen lassen, die unsere Schwester …"
"Er konnte nichts dagegen machen", unterbrach Paul. "Wir haben ein großes Haus, also haben sie welche bei uns einquartiert."
"Und alle vier sind jede Nacht über Johanna hergefallen!" Paul stockte. Er hatte gehofft, das Ullrich das nicht wusste. "Aber unser lieber Vater hat ja keine Schuld! Er hat ja nur zugeschaut, wie die Russen Johanna begrapscht haben und wie sie über sie geredet haben und hat ja nur ihre Schreie überhört! Er hat nicht mal was gegen die Schweine getan, als man Johanna aus dem Teich gefischt hat!"
Paul schwieg. Er hatte natürlich bemerkt, dass sich Ullrich nach dem Tod ihrer Schwester verändert hatte. Er war faul und sorglos geworden, aber Paul hatte gedacht, dass das nur an Johannas Tod gelegen habe.
"Wieso jetzt so still?", fragte Ullrich. "Hast du gedacht, ich wüsste es nicht? Ich weiß es besser als du. Mein Zimmer war neben ihrem. Ich habe jeden Schrei gehört, jedes Weinen, jedes ..." Seine Stimme versagte, und seine Augen glänzten. Langsam ging Paul auf seinen Bruder zu und umarmte ihn. Er wollte etwas sagen, wollte sich entschuldigen oder Ullrich für den Hass auf ihren Vater tadeln, aber er brachte kein Wort heraus.
"Ich will nur endlich alt genug sein, damit ich hier weg und alles vergessen kann", flüsterte Ullrich schließlich.
"Störe ich?", erklang eine Stimme hinter den Brüdern.
Als sie sich umdrehten, stand ein Mann in einem feinen Anzug vor ihnen, mit einer Aktentasche in der Hand; sein Haare waren schwarz wie die Nacht, und sein Gesicht ohne Falten, aber dennoch wirkte er nicht gerade jung.
"Wer sind Sie?", fragte Paul.
"Toph. Ich war mal ein Vertragspartner von Heinrich Neuberg", antwortete der Mann. Nach einem Moment der Stille fügte er hinzu: "Ich hatte gehofft, ihn hier anzutreffen?"
Paul nickte und setzte ein halbwegs überzeugendes Lächeln auf. "Ullrich, hol unseren Vater."
"Glaubst du, er wird Mutter alleine lassen?"
"Das wird er", versicherte Toph mit einem Lächeln, "sobald er meinen Namen hört."
Einen demonstrativen Seufzer ausstoßend, verließ Ullrich die Küche. Es wäre vermutlich schneller und einfacher gewesen, Toph zu Heinrich zu bringen, aber Paul würde diesen Mann nicht in die Nähe seiner Mutter lassen. Ob es nun an seiner Ausstrahlung, seinem Aussehen oder seiner Stimme lag, aber etwas an diesem Mann machte Paul nervös.
"Ich habe gehört, dass Ihre Mutter erkrankt ist?", fragte Toph.
Paul nickte zögerlich. Es war in der Gegend wohlbekannt, dass seine Mutter im Sterben lag.
"Darf ich fragen, woran genau sie leidet?", fragte Toph.
"Das dürfen Sie bei aller Gastfreundschaft nicht." Es lag vermutlich kein Schaden darin, zu verraten, dass seine Mutter an der gleichen Krankheit litt, die ihre eigene Mutter und Großmutter im selben Alter dahingerafft hatte; denn auch das war überall bekannt. Aber je länger Toph vor ihm stand, desto mehr fühlte sich Paul von diesem Mann abgestoßen. Irgendetwas in seinem Gedächtnis regte sich, doch so sehr Paul auch nachdachte, kam er nicht darauf, wo er Toph schon einmal gesehen hätte.
Schließlich betraten Heinrich und Ullrich die Küche. Toph begrüßte Ersteren lächelnd: "Schön, Sie wiederzusehen, Heinrich."
"Sie sind es wirklich", stellte dieser leise fest, mit weit geöffneten Augen und zitternden Lippen.
"Ich habe von Ihrer Frau gehört, und wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht Interesse an einem neuen Vertrag hätten."
Heinrich stand völlig regungslos da, während sein Blick unruhig zwischen Paul, Ullrich und Toph hin- und her wanderte.
"Nein", sagte er schließlich mit fester Stimme.
"Weshalb nicht, wenn ich fragen darf?", erwiderte Toph lächelnd. Kurz musterte er Paul und Ullrich. "Wie ich sehe, hat der letzte Vertrag einwandfrei funktioniert."
"Einwandfrei?", bellte Heinrich, "Sie haben mich betrogen! Ich hatte keine Ahnung, was ich da unterschreibe!"
Das Lächeln auf Tophs Gesicht erstarb. "Wagen Sie es nicht, mir unlautere Methoden vorzuwerfen. Die Wirkungen des Vertrages waren einfach dargelegt, für die Konsequenzen aus jenen Wirkungen trage ich keine Verantwortung."
"Der Vertrag sprach von ihrem Glück, nicht von ihrem Leben!"
"Welches sie sich aus freien Stücken genommen hat", stellte Toph mit sanfter Stimme und einem mitfühlenden Lächeln im Gesicht fest.
Paul blickt seinen Vater ungläubig an. Sprachen die Beiden etwa über Johanna? Aber das war unmöglich. Man konnte nicht mit "Glück" handeln. Doch Pauls Gedächtnis gab keine Ruhe und regte sich immer mehr, bis er ein Bild vor Augen hatte: Sein Vater, wesentlich jünger, saß mit Toph am Küchentisch, ein edel wirkendes Blatt Papier zwischen ihnen. Und ganz entfernt mochte sich Paul erinnern, dass sein Vater ihn angebrüllt hatte, den Raum zu verlassen.
"Denken Sie darüber nach", bat Toph, "die Krankheit ihrer Frau wird eines Tages zweifelsohne auch Ihre kleinen Töchter heimsuchen, so, wie sie es schon viele Generationen lang tut. Und die Töchter ihrer Töchter, und deren Töchter et cetera."
Paul und Ullrich wechselten einen Blick. Toph sah nicht wie ein Arzt aus, und konnte diese Krankheit wohl kaum heilen. Paul störte es jedoch viel mehr, dass der Mann so viel zu wissen schien. Wozu hatte er noch nach der Krankheit gefragt, wo er doch bereits so viel darüber zu wissen schien?
Heinrich blickte Toph einige Augenblicke lang nachdenklich an, ehe er flüsterte: "Der letzte Vertrag ... es war ein Fehler, ihn zu unterschreiben, mit dem Glück meiner Tochter zu handeln. Es war nicht rechtens."
"Sie waren sich stets bewusst, was rechtens ist; wie es jeder gute Mensch auch in den dunkelsten Zeiten ist."
"Wovon reden Sie hier überhaupt?", fragte Ullrich mit lauter Stimme.
"Nicht jetzt", erwiderte Heinrich.
"Doch! Da kommt dieser seltsame Kerl und redet irgendwas von Verträgen und davon, dass du irgendwie Johanna und ihr Glück verschachert hättest! Was soll diese Scheiße?"
Bei dem letzten Satz wandte sich Toph abrupt Ullrich zu, und bedachte ihn mit einem Blick, der Ullrich verstummen und zurückweichen ließ; ehe Toph sich kurz räusperte und sich dann wieder lächelnd Heinrich zuwandte. "Ich will Ihnen nur etwas anbieten. Hören Sie sich mein Angebot zumindest an."
Heinrich seufzte. "Lasst mich und Toph alleine."
"Nein", erwiderten die Brüder wie im Chor.
"Raus hier!", brüllte Heinrich.
Ullrich verließ kopfschüttelnd die Küche, während Paul die Arme vor seiner Brust verschränkte. "Ich gehe nicht. Egal, worum es bei diesen Verträgen geht; du solltest einen solchen nicht alleine unterschreiben. Nicht in deiner momentanen Verfassung."
Heinrich seufzte und warf Toph einen fragenden Blick zu. Dieser nickte lächelnd. Anschließend setzten sich die Beiden an gegenüberliegende Enden des Küchentisches, Paul stellte sich hinter seinen Vater.
"Was bieten Sie an?", fragte Heinrich mit kraftloser Stimme.
"Gesundheit", erwiderte Toph. "Für Ihre Frau, ihre Töchter und jede Frau des Stammbaumes, egal ob bereits geboren oder nicht."
Paul stand kopfschüttelnd hinter seinem Vater. So etwas war unmöglich. Niemand konnte so etwas vollbringen, auch kein seltsamer Mann mit noch so mächtigen Verträgen.
"Und im Gegenzug?", fragte Heinrich.
"Nur eine Kleinigkeit", erwiderte Toph während er seine Aktentasche öffnete, daraus einen großen Stapel edler Papiere nahm, eines daraus hervorzog, und über den Tisch schob.
Als Paul das Papier sah, blitzte es erneut in seinen Gedanken auf, und in seiner Erinnerung konnte er hören, wie sein Vater fragte: "Und dafür werden Paul und Ullrich den Krieg überleben?"
"Kein einziger ihrer Söhne wird mehr in diesem Krieg sterben.", antwortete eine dunkle Stimme in Pauls Erinnerung, "Wenn Sie den Vertrag unterschreiben."
Auf dem Papier, welches nun vor Paul und Heinrich auf dem Küchentisch lag, standen nur wenige Worte:
Alle männlichen Mitglieder des Stammbaumes, sowohl bereits geboren, als auch jene, die erst noch geboren werden; werden fortan nie das erreichen, was sie am meisten wollen.
Paul musste sich beinahe ein Lachen verkneifen. Das konnte nicht ernst gemeint sein. Selbst, wenn Toph tatsächlich irgendwie Schuld daran trug, was mit Johanna geschehen war, und auch, wenn er irgendwie dafür gesorgt hatte, dass Paul und Ullrich den Krieg überlebt hatten, was nicht schwer gewesen wäre, da Beide durch das Geld ihres Vaters vom Wehrdienst verschont geblieben waren; so konnte er keine Generationen von Frauen vor Krankheiten beschützen. Von der Lächerlichkeit des zweiten Absatzes ganz zu schweigen.
Doch Heinrich schien nicht zum Lachen zumute zu sein, im Gegenteil. Tränen flossen über sein Gesicht.
"Du nimmst das doch nicht ernst, Papa?", fragte Paul ungläubig.
Er bekam keine Antwort. Also wandte sich Paul Toph zu und fragte: "Wie würden Sie das bewirken, was in diesem Vertrag steht?"
Toph winkte ab. "Ich mache gar nichts. Ich vermittle die Verträge nur, und sobald ein Vertrag unterschrieben ist, geschieht, was darin geschrieben steht."
Heinrich blickte mit noch immer feuchten Augen vom Vertrag auf. "Und meine Frau wird leben?"
"Ja", erwiderte Toph, während er Heinrich plötzlich einen edlen Federhalter hinhielt. Er war schwarz, gebogen, und verlief zu einer nadeldünnen Spitze.
Langsam nahm Heinrich den Federhalter, setzte ihn an den Vertrag, ehe er inne hielt.
Nun wurde auch Paul unwohl zumute. Was, wenn etwas an dem Vertrag dran war? Was, wenn er tatsächlich etwas bewirken konnte?
"Denken Sie an Ihre Töchter", flüsterte Toph.
"Papa", bat Paul, doch es war vergebens. Heinrich unterschrieb den Vertrag, die Buchstaben waren rot, und der Federhalter fiel klappernd auf den Tisch.
Heinrich verbarg sein Gesicht in seinen Händen, Paul legte ihm seine Hand auf die Schulter.
Als er wieder Toph anblicken wollte, war dieser fort; ebenso der Vertrag und der Federhalter. Und gerade, als Paul Gänsehaut bekam, erklangen die lauten Rufe der Mädchen: "Papa! Paul! Ullrich! Mama spricht!"
Am nächsten Morgen saßen alle beim Küchentisch, Heinrich neben seiner Frau, die lächelnd davon erzählte, wie gut es ihr nun gehe, Anna und Maria weinten vor Freude, denn auch sie hatten ihre Mutter bereits aufgegeben; und es wurde so ausgiebig gefrühstückt wie schon lange nicht mehr; Schinken und Käse und Brot und Semmeln und Äpfel und Paprika.
Ullrich beugte sich zu Paul, machte eine Geste in Richtung ihres Vaters und flüsterte: "Was hat er gestern gemacht?"
Paul sah seinem jüngeren Bruder tief in die Augen und antwortete: "Einen Fehler. Du ... du solltest wissen, was in dem Vertrag stand, den Papa unterschrieben hat."
"Ullrich", unterbrach ihre Mutter das Gespräch der Brüder, "ich glaube, wir brauchen ein schärferes Messer. Hol bitte das große!"
Ullrich stand auf, ging zur Anrichte und nahm dort ein großes, scharfes Messer aus der Schublade. Als er sich umdrehte, stolperte er.
Und die Worte, die sein Bruder am vorherigen Abend ausgesprochen hatte, hallten in Pauls Ohren: "Ich will nur endlich alt genug sein, damit ich hier weg und alles vergessen kann."