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Topfkönig
Der Nachttopf machte Hanna zu schaffen. Vor drei Tagen, als sie auf dem alten Dachboden stöberte, entdeckte sie das Ding. Er musste ihrer Großmutter gehört haben. Vielleicht war das Teil aber auch noch älter, jedenfalls hatte sie in ihren ganzen zwölf Jahren noch nichts Vergleichbares gesehen. Nur im Fernsehen, bei den Daltons, ihrer Lieblingsserie. Der Nachttopf war faszinierend. Eine einladende Schüssel aus karamellfarbenem Porzellan mit einem Deckel wie bei einer Suppenterrine. Dazu ein weitgeschwungener Griff als ob es eine überproportionale Teetasse für King Kong wäre. Er roch nicht. Wenn Hanna den Deckel abnahm und hineinblickte, dann war da... buchstäblich Garnichts. Kein Geruch (gottseidank!), kein Inhalt. Sie leuchtete hinein und fand keinen Boden! Nichts. Das Licht der kleinen Taschenlampe wurde von dem Topf einfach verschluckt, es war rabenschwarz. Hanna schauderte und knallte schnell den Deckel wieder drauf. Das war jetzt drei Tage her.
Hanna lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Weit nach Mitternacht gingen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Alle drehten sich um den seltsamen Nachttopf. Schließlich schwang sie sich aus dem Bett, fest entschlossen, knipste das Licht an und fixierte das Objekt. Es stand ein paar Meter weit weg auf dem Fensterbrett. Sie ging darauf zu und hielt einen Meter davor abrupt inne. Der Deckel fehlte. Um Gottes Willen, er fehlte, doch sie wusste ganz genau, dass er vor ein paar Stunden noch da war. Sie bekam Angst, stand einfach da und bewegte sich nicht. Gab keinen Laut von sich, es war totenstill im Raum. Ihre Angst wuchs. Sie starrte auf den offenen Nachttopf und ohne sich dessen bewusst zu sein, war sie bereits mit dem Gesicht über ihm und blickte in die tiefe Schwärze des Topfes. Ihre Neugier kehrte zurück. Langsam löste Hanna einen dicken Spucketropfen zwischen ihren Lippen, der zielsicher in die kleine Gruft fiel. Er verschwand völlig geräuschlos. Hanna löste einen billigen Plastikring von ihrem Zeigefinger und warf ihn hinein. Er war einfach weg. Kein Plong, kein Zisch oder Schluck. Sie schaute sorgfältig in der Umgebung nach, ob der Ring vielleicht irgendwo rauskäme. Aber nein. Faszinierend. Als nächstes probierte sie einige unnütze Was-Ist-Was-Bücher, benutzte Taschentücher, ein kaputtes Radio und mithin einfach Müll. In den folgenden Tagen experimentierte sie mit zunehmender Systematik. Große, kleine, schwere, leichte Gegenstände. Alle mit dem gleichen Befund: sie verschwanden völlig spurlos. Jedes Mal war es, als ob der Gegenstand in eine schwarze Wolke eintauchte und einfach versank. Den Deckel hatte Hanna bereits vergessen.
Schließlich kam ihr eine geniale Idee. Eilig befestigte sie ein dickes Hanfseil an einem alten Gehstock, ebenfalls vom Dachboden. Jetzt hatte sie eine Art Angel. Am Seilende knotete sie ihren geliebten Froschkönigbriefbeschwerer an, fest entschlossen diesen nicht zu verlieren. Ihr waren indes die entbehrlichen Gegenstände ausgegangen. Zufrieden mit der Konstruktion ließ Hanna den Froschkönig ganz langsam zur Schwärze herab. Kam ihr das nur so vor oder legte der gekrönte Frosch mit seinem immerwährenden Grinsen eine angsterfüllte Miene an den Tag? Für Mitleid war jetzt keine Zeit. „Keine Angst mein Prinz“ flüsterte sie, „ich lasse Dich nicht los“. Knapp über der Nihilisphäre - so nannte Hanna diejenige Höhe in dem Topf, ab der das Verschwinden einsetzte, auf den Begriff war sie furchtbar stolz - hielt sie inne. Der Frosch blickte sie klagend an. Sie überwand den seltsamen Impuls von Mitleid und senkte millimeterweise den Stock. Der Froschschenkel tauchte in die Nihilisphäre. Das Spiel begann.
Hanna hatte natürlich ein paar Überlegungen angestellt. Den Ablauf des Experiments sorgfältig geplant. Schrittweise würde sie den Frosch immer ein Stückchen tiefer eintauchen und wieder herausziehen, und dann untersuchen, welchen Effekt <<es>> auf ihn gehabt haben würde. Dass sich die Verbindung zur Außenwelt, das Seil, jemals lösen könnte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie wollte den Frosch nicht verlieren. Auf keinen Fall. Er stand unter ihrem persönlichen Schutz. Sie hatte damit Verantwortung übernommen und das Experiment gestartet. Hanna spürte wie der Topf mit seinem Nichts den Schenkel des Frosches packte, der nur ganz seicht eingetaucht war. Gemäß ihrem Plan zog Hanna das Seil wieder nach oben. Es spannte sich, als ob ein dicker Fisch angebissen hätte. Sie stutzte. Mit aller Kraft hielt sie dagegen, aber der Topf begann den armen Frosch weiter nach unten zu ziehen. Teufel auch, das konnte nicht sein! Der Frosch verschwand einfach unter dem undurchdringlichen Nichts! Doch es hörte nicht auf. Das Seil wurde langsam aber unablässig nachgezogen. Hanna wurde wütend und dadurch entschlossener. Sie entspannte das Seil indem sie nicht mehr gegen die Zugkraft anhielt und löste es in Windeseile von der Angel, um es an der Heizung unter dem Fensterbrett anzuknoten. Der Heizkörper war fest verankert in der Hauswand, das Seil dick und stark. Und was dann geschah würde Hanna niemals begreifen können. Dennoch sah sie es, vollkommen fassungslos.
Als das Hanfseil bis zum Äußersten gespannt war und am festen Heizkörper zu scheitern drohte, ergriff der Nachttopf die Initiative. Er nahm den Kampf auf und begann sich zu bewegen! Er schlang das Seil auf und folgte seinem Verlauf zum Heizkörper. Am Seilende angelangt fing er sogleich an, den Heizkörper zu verschlingen. Dieser gab in seinem eisernen Widerstand metallisch ächzende Geräusche von sich. Der Topf würgte ihn nach hinten und der Heizkörper wurde dabei durch die konstante Topföffnung gepresst, verbogen und barst schließlich in topfgerechte Häppchen. Die Verankerung riss mit einem lauten Krachen aus der Wand und zog eine Stahlverstrebung aus dem Beton hinter sich her. Es klang wie ein endlos gedehnter Rülpser. Kam das von dem Topf? Die Verstrebung wurde vom Topf scheinbar ohne Mühe verschlungen. Wie ein Faden, den man aus seiner Naht reißt, brach die Strebe den Boden auf. Der Topf verschlang Dielenbretter, nebenbei den Nachttisch, fraß sich entlang der Wand durch das gesamte Zimmer und blieb dabei völlig unversehrt. Hanna konnte die feuchte Nachtbrise von außen riechen, schloss kurzzeitig die Augen und kam schließlich wieder zu sich. Noch immer fassungslos fand sie langsam einen Rest von Verstand wieder. Das halbe Zimmer war bereits aufgefressen. Es sah aus wie nach einem Erdbeben in der Türkei, so wie es im Fernsehen zu sehen war. Die Tür war noch intakt. Hanna lief. Sie begriff, dass nur noch Flucht möglich war und stürmte die Treppe hinunter. Mit nackten Füßen und im Schlafanzug, trat sie nach außen und schmetterte die Eingangstür unter einem entsetzten „nein“ hinter sich zu.
Außer Atem, aber erleichtert, blickte Hanna sich um. Von hier unten sah alles normal aus. Nach einigen Sekunden bemerkte sie die fehlenden Geräusche. Im Haus hatte der Nachttopf ein unsägliches Getöse veranstaltet, aber hier draußen gab es einfach nur Nacht. Die Wände zu ihrem Zimmer fehlten teilweise, es sah vollkommen grotesk aus. Gleichzeitig war es verdächtig still. Der ausbleibende Fortgang der Zerstörung gab Hanna neuen Mut. Sie zog den Ersatzschlüssel aus dessen Versteck unter einem Blumentopf hervor und öffnete wachsam die Eingangstür. Behutsam drängte sie die Tür nach innen, bereit, erneut zu flüchten. Aber es blieb ruhig. Irgendetwas hatte den Topf aufgehalten. Sie überlegte. Es war nur so ein Gefühl… und sie wagte ein neues Experiment: Mit fester Stimme rief Hanna „weiter“ in das Haus hinein. Augenblicklich erschallte das Getöse erneut und schien das gesamte Haus in Angst und Schrecken zu versetzen. Ohne zu zögern schrie Hanna „stopp“ so laut sie konnte. Es funktionierte. Der Nachttopf ließ sich also kontrollieren. Welch eine Sensation! Frische Neugier ergriff Hanna.
Was wäre, wenn der Topf sich durch den Boden nach unten fressen würde? Wo käme er heraus? Das China-Syndrom? Könnte sie die Kontrolle auch über längere Zeit und außer Sichtweite bewahren? Es gab nur einen Weg um all das herauszufinden. Nachdem sie den Topf mit größter Mühe aus dem angefressenen Mauerwerk in den Resten ihres Zimmers herausgelöst hatte, platzierte sie ihn mit dessen Öffnung nach unten auf dem Rasen vor dem Haus. „weiter“ – es war wie bei einem Hund – und schon ging es los. Das weichfeuchte Erdreich verschwand unter schmatzenden Geräuschen im Topf, der in nur wenigen Sekunden so tief ins Erdreich eingesackt war, dass der Sichtkontakt verloren ging. „stopp“. Noch funktionierte alles. Wohin verschwand nur das ganze Material? Würde es ein Limit geben? So viele Fragen, Hanna war aufgeregt. Sie musste es erfahren. „weiter!“. Und es ging weiter.
Nach nur wenigen Sekunden hörte sie nichts mehr aus dem Untergrund. Ihr wurde ein Bisschen mulmig. Drohend rief sie „stooop“ in das bereits zusammengefallene Erdloch. Doch es gab bereits keine Möglichkeit mehr, den Erfolg des Kommandos zu überprüfen. Sie hatte die Kontrolle verloren. Reglos blieb sie mehrere Minuten einfach stehen und lauschte. Im etwa 20 Meter entfernten Nachbarhaus ging Licht an. Frau Casastrova, eine nette alte Dame die dort ihren Lebensabend allein verbrachte, rief: „Hanna? Hanna, bist du das?“ Zum ersten Mal in dieser Nacht kam Hanna die Frage auf, was um alles in der Welt sie ihren Eltern erzählen sollte? Sie waren für zwei Tage verreist. Teile des Hauses waren schlicht weg und es gab nicht einmal ansatzweise eine vernünftige Erklärung dafür. Doch ihre Eltern waren erst morgen dran, zunächst musste sie Frau Casastrova beruhigen. Hanna setzte bereits zu einer Antwort an, als ein zartes Erschüttern am Untergrund nagte. Ganz fein nur, doch deutlich genug für Hanna. Ein Erdbeben? Das wäre neu für diese Gegend. „Ist alles in Ordnung, Kindchen? Was machst Du denn hier draußen, um diese Zeit?“. Offenbar hatte die alte Dame nichts bemerkt und kam jetzt mit misstrauischer Miene und Nachtmantel aus dem Haus geschlurft. In der Rechten hielt sie vorsichtshalber einen Schürhaken, vermutlich nicht als Gehhilfe. Während die sorgende Nachbarin zögerlich die Veranda überquerte, schwoll eine neuerliche Erschütterung an, diesmal eindrucksvoll untermalt durch gedämpftes Donnern wie bei einem entfernten Gewitter. Frau Casastrova blieb schwankend stehen und blickte Hanna ängstlich entgegen. Dann wieder Stille. Hanna sah eine Schar Vögel durch den Schein einer östlich gelegenen Straßenlaterne passieren. Helles Mondlicht enthüllte flüchtige Feldhasen, die sich vom Acker machten. Bei Hanna breitete sich ein ganz ungutes Gefühl aus. „Was ist hier los?“ murmelte sie, sich vorsichtig umblickend. „Das gefällt mir ganz und gar nicht“. Dann brachen alle Dämme.
Das Donnern reifte zu einem präsenten Grollen heran. Der Boden verfiel in eine leichte aber kontinuierliche Erschütterung. Frau Casastrova hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten, war aber offenbar motiviert, ihren Gang entgegen jeder Arthritis zu beschleunigen, in Richtung Hanna. Das Haus der alten Nachbarin fing an zu zittern und Fensterglas im ersten Stock barst. Ein Splitterregen ergoss sich über die Außenmöbel auf der Veranda. Plötzlich tat es einen allumfassenden Ruck und eine Erdspalte hieb zornig den Untergrund entzwei, mitten durch das Haus der Frau Casastrova! Ein fundamentales Krachen, dann sackte das Bauwerk in sich zusammen so als ob Godzilla einen gigantischen Handschlag angebracht hätte. Es brach an allen Stellen gleichzeitig und verschwand ruckweise im Boden. Unter erheblich Lärm versickerten die Reste des Hauses allmählich Schritt für Schritt wie in Treibsand. Frau Casastrova war indessen bei Hanna angekommen und blickte mit weit geöffnetem Mund auf die stattfindende Entmaterialisierung ihres Lebensraums. Hanna selbst konnte es nicht fassen.
Nach drei Minuten war alles vorbei. In der unvermittelt eintretenden Stille blieben sie tonlos zurück. Polizei und Feuerwehr trafen kurze Zeit später ein, nahmen beide unter Obhut, Frau Casastrova im schweren Schockzustand, und versorgten sie mit Decken und heißem Tee. Als sie endlich ins Krankenhaus kamen – Hanna vorsorglich – graute bereits der Morgen.
Der begonnene Tag füllte sich mit Meldungen auf allen Kanälen, von allen Orten:
9 Uhr vormittags.
/„Heidelberg. Unerklärliche Destabilisierung des Erdreichs lässt Dreifamilienhaus vollständig verschwinden. 5 Personen, die sich zur Zeit des Ereignisses im Haus befanden, werden vermisst. Die Überlebenschancen seien gering, heißt es.“/
/„Frankfurt am Main. Seltsames Erdbeben verursacht einen 30 Meter breiten Krater mitten in sozial schwacher Wohngegend. Mehrere Hochhäuser stürzten ein und wurden größtenteils in die Tiefe gerissen. Man erwartet eine hohe Anzahl an Todesopfern. Über die Ursachen ist noch nichts bekannt. Experten halten sich zurück. Der Krater scheint unermesslich tief. Das THW ist überfordert. Der Hessische Ministerpräsident hat den Notstand ausgerufen und fordert Hilfe durch das Militär an.“/
/„Mühlhausen in Thüringen: Am späten Morgen wurden Bewohner der Turmstraße übel überrascht.“/
/…/
12 Uhr mittags.
/„Eine Welle geologischer Katastrophen erschüttert die gesamte Bundesrepublik. Bislang werden hunderte von Menschen vermisst. Niemand weiß, wo es als nächstes passieren wird. Aus Angst vor unkontrollierbaren Folgeschäden wurden bereits die 6 ältesten Atommeiler not-abgeschaltet. Die Experten sind sich uneins. Bislang konnte lediglich festgestellt werden, dass die Abstände zwischen den schrecklichen Ereignissen immer kürzer werden und das Schadensausmaß bei jedem Ereignis steigt. Die Bundesregierung kann terroristische Hintergründe nicht ausschließen.“/
/…/
13 Uhr mittags.
/„Schytomyr – Ukraine. Weite Teile der Stadt zerstört.“/
/„Danzig – Polen. Unvorstellbares Ausmaß an Zerstörung im Industriegebiet.“/
/…/
14 Uhr mittags.
/„Nordsee – mehrere Ölborinseln im Meer versunken. Ein riesiger Ölteppich breitet sich aus.“/
/…/
15 Uhr nachmittags.
/„Antarktis – Satelliten beobachten die spontane Abspaltung gigantischer Eisflächen. Die alarmierende Entwicklung kann in ihrer unerwarteten Größenordnung nur mit Mühe als Folge der Klimaerwärmung betrachtet werden. Als wahrscheinlicher wird ein Zusammenhang zu den mittlerweile in ganz Europa auftretenden geologischen Katastrophen gesehen, deren Ursache vollkommen unbekannt ist. Man spricht indes von der Superkatastrophe. Christliche Sekten sprechen vom jüngsten Gericht und der Papst fordert zum verstärkten Gebet auf.“/
/…/
16 Uhr nachmittags.
/„Wissenschaftlicher in Kalifornien schlagen Alarm: Abnorme seismische Aktivitäten im San Andreas-Graben rufen die Evakuierungspläne von Los Angeles auf den Plan. Eine Auswanderungswelle hat den sonnigen Bundesstaat erfasst. Tausende von küstennahen Bewohnern fliehen vor der nahenden Apokalypse. Das landesweite Verkehrsnetz droht zu kollabieren.“/
Hanna konnte kaum schlucken, so groß war der Kloß im Hals und so unerbittlich die zunehmende Übelkeit. Ihre Eltern waren zurückgekehrt. Gemeinsam verfolgten sie im Warteraum der Klinik ungläubig das Weltgeschehen im Fernsehen. Nach einer Erklärung hatte Hanna bisher niemand gefragt. Natürlich kam niemandem die Idee, dass sie irgendetwas erklären könnte. Das verschaffte Hanna immerhin eine Denkpause, aber langsam lief die Zeit davon. Die Welt stand am Abgrund. Hanna kannte die Lösung, doch niemand würde ihr glauben. Sollte sie zum nächstbesten Polizisten gehen und locker plaudern „Entschuldigen Sie, aber ich wüsste da, wie man die Welt retten könnte…“. Und falls ihr irgendjemand glauben würde, dann käme als nächste Frage, warum sie nicht eher damit herausgerückt war. Tausende von Menschenleben bisher. Ein Dilemma. Sie ergab sich den Tränen.
Ihre Eltern ließen Hanna für die nächste Stunde allein im Wartezimmer zurück. Besorgungen, Vorkehrungen, was auch immer. Für Hanna war nichts ein Trost. Einige Minuten vergingen. Niemand außer ihr hielt sich im Raum auf. Plötzlich stand ein Mann im Zimmer, dessen Hereinkommen sie nicht wahrgenommen hatte. Er ähnelte einem Abt, mit Bart und einem schwarzen Kapuzengewand. Auf seinem linken Handgelenk war deutlich eine Tätowierung zu erkennen. Ein eigenartiges Symbol: [highlight]|X)[/highlight] Er sprach sie vorsichtig mit überraschend warmer Stimme an: „Bist du Hanna? Hanna, die, bei der alles begann?“. Sie blickte irritiert auf. Er sprach weiter: „Mein Name ist Jan. Ich gehöre dem Bund der Ollaris-Brüder an. Erzähl mir, was passiert ist, mein Kind. Von Anfang an.“ Offenbar eine Art Geistlicher. Wie leicht es ihr fiel, Vertrauen zu fassen. In seiner Gegenwart verlor sie das schwere Gefühl von Schuld und begann schluchzend zu reden. Sie erzählte zehn Minuten ohne Pause, es sprudelte nur so aus ihr heraus, jeder Satz wie das Nachlassen eines pochenden Schmerzes. Der Mann, dessen Alter ihr unergründlich schien, hörte einfach nur zu. Am Ende ihrer Worte drückte er seicht Hannas Hand und sprach behutsam: „Warte hier. Ich muss Kontakt mit meinen Brüdern aufnehmen. Sie werden sich jetzt um alles kümmern.“ Er war gegangen ehe sie auch nur eine Frage stellen konnte.
Eine halbe Stunde später verebbten die Schreckensmeldungen so abrupt wie sie anfingen, doch der Mann kehrte nicht wieder zurück. Was blieb, waren weltweites grenzenloses Entsetzen und das Rätsel der Apokalypse, die doch keine wurde. So viele Fragen waren offen. Tage später, in ihrer Erinnerung, sah sie unvermittelt die Tätowierung des geheimnisvollen Mannes vor sich im Geiste aufleben. [highlight]|X)[/highlight] Sie kannte das Symbol, sie hatte es schon einmal gesehen! „Verdamm mich, es war auch auf dem elendigen Nachttopf“. Doch nicht nur da. Wo noch, woher kannte sie es noch? Ja, Hanna erinnerte sich: Es war auf einem uralten gerahmten Foto zu sehen, auf dem Dachboden. Der Dachboden war ja noch da und der Rest des Hauses bisher provisorisch geflickt. Hanna stürmte hoch, ihr Puls raste. Da war es. Das vergilbte Bild zeigte ihre Urgroßmutter, wie sie an einem Tisch saß und etwas auf ein großes Stück Stoff stickte. Erst auf den zweiten Blick wurde das Bild deutlicher: Hannas Urgroßmutter stickte jenes geheimnisvolle Symbol auf ein Gewand, wie das des Fremden. Da begriff Hanna, dass sie mit dem Nachttopf etwas gefunden hatte, was nicht gefunden hätte werden sollen. Der „Ollaris-Bund“ erzeugte keinen einzigen Treffer bei Google. Was der Nachttopf auch war oder was aus ihm wurde würde ein Rätsel bleiben. War er tief in der Erde vergraben? Oder Teil des oberflächlichen Schutts eingestürzter Häuser, auf dem eines Tages verbotenerweise Kinder spielen würden. Sie könnten das Versteckspiel spielen oder einfach spät dran sein, und eines der Kinder würde rufen: „Los! Wir müssen weiter“.