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Tonka
Tonka
Kennen Sie Signore Staffelli? Valerio Staffelli? - Er ist in der ganzen Welt unterwegs. Heute in Cleveland, morgen in Zürich, Anfang nächste Woche in Illulissat. – Aber ich fürchte, er kehrt zurück - und holt sich Tonka. Zwar hätte er gemäss Vertrag schon vor sechs Wochen zurück sein sollen. Aber mit jedem Tag, an dem er sich nicht meldet, wächst meine Hoffnung. Und Hoffen ist besser als verzweifeln. Tonka und ich leben nämlich in goldiger Eintracht zusammen. Und ich darf nicht daran denken, dass unsere Idylle schon bald zerbrechen könnte.
Ich habe Signore Staffelli vor zwei Monaten im Café Schall&Rauch kennen gelernt. Ich wusste zu Beginn natürlich noch nicht, wer der distinguierte Herr mit den hochgewölbten Augenbrauen am kleinen runden Tisch zwei Stuhlbreiten neben mir war. Aber sein Rasierwasser wehte einen vertrauten Duft zu mir hinüber: Tüff, das Rasierwasser meines Vaters selig. Mag sein, dass mich dieser Tüff-Schwall für das, was da kommen sollte, also Tonka, empfänglicher stimmte. Ich verbringe die Sonntagnachmittage gewöhnlich im Café Schall&Rauch. Immer zur vollen Stunde bringt mir Eduard, der dienstälteste und stilvollste Kellner, ein Himbeertörtchen, den Puderzucker obendrauf leicht abgeblasen, und drei Deziliter Knutwiler, das Mineralwasser der Mineralwässer, ich hoffe, Sie kennen es. Den Herrn am Tischchen nebenan hatte ich nie zuvor im Schall&Rauch gesehen. Er trug einen dunkeln Anzug und befeuchtete seinen Zeigefinger, bevor er in der Speise-und Getränkekarte wie in einem Gedichtband blätterte; er wendete die Seiten umständlich vor und zurück und bestellte schliesslich ein Glas Champagner und einen Salade César. Die junge Kellnerin, Zaida, eine Bosnierin, kritzelte die Bestellung auf ihren Notizblock. Salade César ist doch der mit den Streifen gegrillten Huhns. Na ja, jedem das Seine! Was mich angeht, ich mag Huhn generell nicht, aber gegrilltes Huhn am Sonntagachmittag ist schlicht ein No-go, wenn Sie wissen, was ich meine. Sonntagnachmittag ist für mich Himbeerzeit. Und zwar sommers wie winters.
Der Herr sass und wartete mit langen, auf dem Tischchen verschränkten Fingern, wie ein Buddha, mit hochgewölbten Brauen - in einer Duftwolke von Tüff versunken, jenem nach Minze riechenden Rasierwasser, mit dem auch mein Vater seine empfindliche Backen- und Kinnhaut massierte, bevor er Samstagabend mit Mutter ins Kino ging. Aber ich erzähle jetzt, wie ich zu Tonka beziehungsweise Tonka zu mir kam, und das ist also erst die Einleitung.
Aber kurz nachdem mir Eduard mein Vier-Uhr-Törtchen und das dazugehörige Knutwiler serviert hatte, brachte Zaida auch den Salade César mit dem Champagner. Beides putzte der vornehme Herr in Nullkommanichts weg, mit einer gewissen Atemlosigkeit, wie mir schien, und wischte sich dann ausgiebig den dünnen Mund unter dem gezähmten schwarzen Schnauzbüschchen. Er räusperte sich, schob den Knoten seiner dschungelgrünen Seidenkrawatte zurecht und - neigte sich dann urplötzlich mit einem so heftigen Schwenker zu mir hinüber, dass es mir glatt den Atem verschlug. Ich führe nämlich ein ziemlich zurückgezogenes Leben, wissen Sie, und bin mir deshalb so abrupte Zuwendungen einfach nicht gewohnt.
Der Mann sprach zwar mit einem ausgeprägt italienischen Akzent, aber sonst perfekt Deutsch. Er fragte, ob ich nicht auch der Meinung sei, dass hoffen besser sei als verzweifeln. Die Lage sei ja zweifellos zum Verzweifeln, aber solange es Menschen wie mich gebe, gebe es wohl noch Grund zur Hoffnung. Trotzdem, das brutale Faktum sei: Bis zu 130 Tierarten würden jeden Tag aussterben. Unwiderruflich. Bis zu 130 Arten täglich! schrie er mir flüsternd ins Ohr. Säugetiere, Amphibien, Vögel. Und die Bedrohung spitze sich dramatisch zu. Aber eben: hoffen sei besser als verzweifeln. Er sei ja eigentlich Tapirologe, das heisst Tapir-Experte. An der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro habe er schon 1992 warnend über die bedrohte Zukunft des Tapirs, insbesondere des südostasiatischen Schabrackentapirs ein vielbeachtetes Referat gehalten; die Hälfte des Jahres verbringe er gegenwärtig forschend auf den Spuren des scheuen Schabrackentapirs, wie alle Tapire ein Unpaarhufer übrigens, in den Tropenwäldern Thailands, Malaysias und Sumatras, den Rest des Jahres rase er von Tagung zu Tagung; er sei der Präsident der TSG, der Tapir Specialist Group; sein Name sei Valerio Staffelli. Er schob mir seine Visitenkarte zu. Tatsächlich mit einem Tapir in der linken oberen Ecke. - Romantische Tapirverehrung sei gut gemeint, aber es gelte in der Öffentlichkeit Flagge zu zeigen, anders gebe es keine Hoffnung für seine Schützlinge. - Der Mann redete ohne Punkt und Komma. Das sorgfältig getrimmte Schnauzbüschchen unter seiner schrägen Nase tanzte vor meinen Augen und machte mich ganz benommen. Vielleicht war es auch die Tüffwolke, der ich letzten Endes nicht gewachsen war. - Der Tapir sei seinem Naturell nach ein stoischer Geselle, aber bitte sehr, alles andere als langweilig, mit seinen bis zu acht Zentnern behäbig vielleicht, aber wer ihn als langweilig bezeichne… seine nächsten Verwandten seien übrigens die Pferde und Nashörner. - Der Mann kannte, wenn er mal im Schuss war, kein Innehalten mehr. Irgendwann, ich erinnere mich nicht mehr wie, aber es war bereits, nachdem mir Eduard, stilvoll wie immer, das Fünfuhr-Törtchen mit zughörigem Knutwiler serviert hatte, kam er auf den jungen Tapirbullen zu sprechen, für den er notfallmässig eine private Unterkunft suche, solange die Aufnahmeverhandlungen mit den interessierten zoologischen Gärten noch nicht abgeschlossen seien. Es handle sich um einen malaysischen Schabrackentapir namens Tonka, erst halbjährig, mit bildschöner Fellzeichnung, ein Geschenk des Zoos von Surabaja übrigens. Mehrere artgerechte Bleiben für Tonka stünden in Aussicht. Nur eben, für eine kurze Übergangszeit von einer Woche, allerhöchstens zehn Tagen, sei er in Verlegenheit. Ob ich nicht bereit wäre, einzuspringen und Tonka ein paar Tage Unterschlupf zu gewähren, am besten im Badezimmer? Wassernähe wirke sich immer günstig auf das Befinden eines Tapirs aus. Drei Ballen Heu würde er mitliefern, Tonka sei Vegetarier, absolut genügsam und die Friedfertigkeit in Person. Er legte mir einen professionellen Logier-Vertrag vor; ich unterschrieb das Ding sofort, obwohl ich eigentlich kein Freund so spontaner Entscheidungen bin.
Das Tier wurde mir termingerecht am Montagmittag in einer Kiste mit Atemlöchern von einer Transportfirma zugestellt. Auch drei Ballen Heu waren dabei. Seither teile ich mein Badezimmer mit Tonka, der sich bei mir offensichtlich wohl fühlt. Man liest ja, dass Tapire nachtaktive Tiere seien. Aber Tonka ist rund um die Uhr die Ruhe selbst. Tagsüber schläft oder döst er in der Dusche. Wenn ich das Badezimmer betrete, schnüffelt er mit seiner rüsselartig verlängerten Nase und fiept mir freundschaftlich entgegen. Nachts liegt er immer mit unerschütterlicher Gelassenheit in der Badewanne im Wasser, wackelt ab und zu mit einem Ohr und kaut bedächtig an einer Melonenschale oder einem Kohlstumpf herum. Tonka ist seelisch ausgeglichen wie ein Zen-Mönch. In seinen Augen glaube ich manchmal den Glanz eines unerreichbar nahen Glücks zu entdecken. Was für eine Wonne, mit einem solchen Wesen zusammenzuleben! Das sage ich als eingefleischter Einsiedler. Ich habe unverhofft meinen idealen Wohnpartner gefunden. Ganz zufällig ist mir häusliches Glück zuteil geworden. Hoffentlich hält es noch ein wenig an. Hoffentlich haben alle zoologischen Gärten ihr Angebot zurückgezogen! Signore Staffellis Visitenkarte habe ich absichtlich verloren. Vielleicht hat er uns ja einfach vergessen. Die Umweltkatastrophe ist ja schliesslich kein Schleck; sie lastet sicher tonnenschwer auf seinen Schultern und verstopft seinen Terminkalender. Heute spricht er in Cleveland, morgen in Zürich, Anfang nächste Woche in Illulissat - immer pfefferminzkühlen Tüff-Wind um sich verbreitend. - Ja, ich hoffe - und ist hoffen nicht eh besser als verzweifeln?