Was ist neu

Tom's Wunsch

Mitglied
Beitritt
07.10.2002
Beiträge
72

Tom's Wunsch

„Ist es dir möglich, zu kommen? Er wünscht es sich so sehr!“ Ich hatte meine Freundin Myriam kaum verstanden und auch jetzt, obwohl sie mir den Grund ihres Anrufes, unter heftigem Schluchzem, mitgeteilt hatte, erfasste ich den Sinn des Gehörten noch nicht. Myriam war die Schwester meines ersten Freundes, meines ersten richtigen Freundes, meiner ersten Liebe. Zehn Jahre war ich mit Tom zusammen gewesen, wir waren eines dieser Pärchen, die sich in der Schule kennen gelernt hatten und auch nach Beendigung der Schulzeit noch zusammen blieben. Wir waren beide sechzehn Jahre alt, als er in meine Klasse kam, er gefiel mir vom ersten Moment an und bald stellte sich heraus, dass er mich auch mochte. Dieser Umstand machte mich extrem stolz, da Tom von den anderen Mädchen der Klasse ziemlich umschwärmt wurde. Er stellte die anderen Jungs in der Klasse durch sein Verhalten und seine Optik gewaltig in den Schatten. Tom wirkte viel erwachsener als die anderen, hatte kupferrotes, wuscheliges Haar und die grünsten Augen, die ich je gesehen hatte. Diese Augen lachten immer. Irgendwann, bei einer Klassenparty kamen wir zusammen, das heisst, wir küssten uns zum ersten Mal, während wir eng umschlungen tanzten und danach war irgendwie klar, dass wir nun miteinander gingen. Ich empfand Tom immer als einen Teil meines Ich’s, konnte ihn mir nicht wegdenken aus meinem Leben, obwohl ich mir andererseits nie ernsthaft Gedanken über unsere gemeinsame Zukunft machte. Während die Pärchen unseres Bekanntenkreises irgendwann damit anfingen, über eine gemeinsame Wohnung, Heirat und Familiengründung nachzudenken, schoben wir Planungen dieser Art immer von uns. Wir redeten nie darüber. Dafür hatten wir ja noch Zeit, in diesem Punkt, so glaubte ich, waren wir uns einig. Bis auf wenige Ausnahmen, sahen wir uns täglich. Im Grunde genommen unterschied uns nichts von den anderen Paaren, nur mit der Ausnahme, dass wir keine gemeinsame Wohnung hatten. Wir liebten uns und das war doch das Einzige, das zählte.

Nach zehn Jahren kam für mich das abrupte Ende unserer Beziehung. Tom kam eines Abends, obwohl es vorgesehen war, nicht zu mir. Alle Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, blieben erfolglos. Ich schwankte zwischen großer Sorge um ihn, die sich dann in ein panikartiges Gefühl wandelte. Man hätte mir Bescheid gesagt, wenn ihm etwas zugestoßen wäre, also musste sein Fernbleiben einen anderen Grund haben. Nach einer schlaflosen Nacht erreichte ich am anderen Morgen seine Schwester Myriam, mit der ich inzwischen eng befreundet war. Myriam war dieser Anruf sichtlich peinlich, sie stotterte nur hilflos herum und bat mich, bei Tom anzurufen, um mit ihm selbst zu sprechen. Durch Myriam’s Verhalten war mir klar geworden, dass etwas Einschneidendes passiert sein musste, etwas, das Tom schwer fallen würde, mir zu sagen. Mit weichen Knien und klopfendem Herzen wählte ich seine Nummer. Seine Stimme war leise und belegt, als er mir sagte, was ich eigentlich bereits geahnt hatte. „Ich habe vor einiger Zeit eine andere Frau kennen gelernt. Es ist verrückt, ich weiß, aber alles ging so schnell, ich habe mich total verliebt und sie ist total verliebt in mich. Sie will heiraten, sie will Kinder mit mir haben. Ich kann einfach nichts dagegen machen. Es tut mir so schrecklich leid, bitte glaube mir das.“ Es zog mir den Boden unter den Füßen weg, ich legte den Hörer auf, ohne etwas gesagt zu haben. Zehn Jahre meines Lebens waren einfach mal so dahin. Er brachte es fertig, sich in blitzartiger Geschwindigkeit, so kam es mir vor, für eine andere Frau zu entscheiden. Wie war es nur möglich, dass ich nichts davon bemerkt hatte, dass er nie, auch nur den Hauch eines Verdachtes in mir weckte. Es war mir nicht möglich, um Tom zu kämpfen, ich war keine Kämpfernatur. Ausserdem war es in meinen Augen aussichtslos, um eine Liebe zu kämpfen, ein Gefühl konnte man nicht mit Tränen, Vorwürfen und Gesprächen zurück erobern.

Es dauerte ein Jahr, bis ich die Trennung von Tom überwunden hatte. Zwar hatte ich weiterhin Kontakt zu Myriam, doch sie unterließ es taktvoller Weise, mich über Tom auf dem Laufenden zu halten. Erst nachdem ich mich wieder in einen Mann verliebt hatte und in einer neuen Beziehung war, redeten wir manchmal über Tom. Ich erfuhr von Myriam, dass er, nachdem wir ungefähr ein halbes Jahr getrennt waren, wieder gerne Kontakt zu mir aufgenommen hätte. Angesichts meines nicht besonders guten Zustandes konnte sie ihn aber davon überzeugen, dies nicht zu tun. Ausserdem war Myriam der Ansicht, dass ein Wiederaufleben unserer Sandkastenbeziehung, wie sie es immer nannte, sinnlos gewesen wäre. Irgendwann wurde Tom Vater eines Sohnes, später einer Tochter und heiratete die Frau, wegen der er sich von mir getrennt hatte. Tom war inzwischen weit in meine Vergangenheit versunken, ich hatte eine weitere Trennung hinter mir, die es erstmal zu verarbeiten galt.

Ich zog weg aus der Stadt und besuchte Myriam höchstens zweimal im Jahr, bei meinen immer spärlicher werdenden Besuchen. Tom war kaum Gesprächsthema, wenn wir uns trafen und wenn wir über ihn redeten, dann kam es mir vor, als würde ich über einen Menschen sprechen, den ich vor Urzeiten einmal gekannt hatte, der mich aber nicht mehr berührte. Tom selbst sah ich nie wieder.

Und nun erhielt ich aus heiterem Himmel diesen Anruf, der mir die Tränen in die Augen trieb. Tom war schwer am Herzen erkrankt, es gab wenig Hoffnung für ihn. Er war doch viel zu jung für eine derart folgenschwere Krankheit, er hatte zwei kleine Kinder, sein Sohn war gerade fünf, seine Tochter drei Jahre alt. Nun wünschte er sich, mich zu sehen. Was konnte er von mir wollen? Ich wusste zuerst nicht, ob ich ihm diesen Wunsch erfüllen sollte, buchte mich dann aber einen Tag später auf eine Maschine, die noch einen Platz zur Verfügung hatte.

Das Taxi brachte mich zu dem Krankenhaus, in dem Tom lag und als ich den endlos scheinenden, steril wirkenden Gang, entlang ging, sah ich in der Ferne vier Personen stehen, von denen ich drei erkannte, Tom’s Eltern und Myriam. Die vierte Person musste also seine Frau Petra sein. Myriam kam mir tränenüberströmt entgegen und sagte nur, „es ist vorbei, Tom ist vor fünfzehn Minuten gestorben“. Wir nahmen uns in die Arme, ich murmelte etwas, wie, „das tut mir so leid“, und fühlte mich zeitgleich völlig fehl am Platz. Jetzt wäre ich lieber alleine gewesen und hätte um ihn geweint, doch hier, vor seiner Frau, seiner Familie wollte ich das unter keinen Umständen zulassen. Aus den Augenwinkeln hatte ich gesehen, dass Tom’s Frau langsam auf uns zu kam. Ich löste die Umarmung mit Myriam und wandte mich an Petra, die mir die Hand entgegen streckte. Ich sah in ihre verweinten Augen und erwiederte ihren Gruß, stumm nickend. „Ich kann dir nicht viel sagen“, sagte sie mit tonloser Stimme, „nur soviel, ich soll dir das hier geben.“ Sie überreichte mir ein sehr kleines, beiges Päckchen, nicht viel größer als eine Streichholzschachtel. Zögernd nahm ich das Päckchen an mich und steckte es in meine Jackentasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, was in diesem Päckchen sein sollte, aber eigentlich war ich auch nicht neugierig, angesichts der Trauer, die mich umgab.

Ich blieb nicht zu Tom’s Beerdigung, flog am nächsten Tag wieder zurück. Das Päckchen packte ich erst Zuhause aus. Als ich den schlichten, silbernen Ring heraus nahm, konnte ich meine Tränen nicht zurück halten. Ich öffnete den sorgsam zusammen gefalteten Zettel, der sich noch in dem Päckchen befunden hatte und begann, mit verschwommenen Augen, zu lesen. „Diesen Ring habe ich zwei Jahre, bevor wir uns trennten, mit mir herum getragen und nie war der Zeitpunkt günstig, ihn dir zu geben. Immer hatte ich den Eindruck, dass dir unsere Beziehung, so wie sie war, gefiel. Ich wollte so viel mehr, hätte mir nichts mehr gewünscht, als dein Mann zu werden und ein Kind mit dir zu haben. Ich habe es oft bereut, nicht mit dir darüber gesprochen zu haben. Dein Tom.“

 

Guten Morgen Déjà-vu,

diese Erzählung kann einen richtig mitnehmen. Es ist alles sehr traurig, davon lebt diese Geschichte. Du hast es schnurrstracks gerade runtererzählt, eigentlich gefühllos, aber trotzdem hat es mich berührt! Mir hat es sehr gefallen und werde mehr von dir lesen. Gut geschrieben.

Von Rixta

 

Hallo Rixta,

vielen Dank für's Lesen der Geschichte und deine Kritik dazu. Es war ein großes Kompliment für mich, von dir zu hören, dass du mehr von mir lesen wirst. Du schreibst, dass die Geschichte eigentlich gefühllos erzählt wird. Damit hast du natürlich Recht. Die Geschichte behandelt ja einen relativ großen Zeitraum; ich denke, dass man nach so langer Zeit alles ein bisschen nüchterner sieht. Deshalb habe ich mich auf wenige Gefühlsäusserungen beschränkt, genau genommen nur auf die, die in der Gegenwart der Geschichte vorhanden waren.

Liebe Grüße
Déjà-vu

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom