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Tomoko
Als ich Tomoko in der Stadt wiedererkannte, war Helene nicht da. Sie habe ich erst einige Tage später in Tomokos Begleitung gesehen. Es ist auch besser so, denn bei Helenes Anblick hätte ich das flüchtige Zwitschern vermutlich überhört. Ich kam vom Supermarkt zurück zur Arbeit. Meine Frau hatte mich angerufen und gebeten einige Sachen zu kaufen, die sie vergessen hatte. Normalerweise passiert das nicht. Sonst erledigt sie alles sehr sorgfältig, aber an diesem Tag war sie zerstreut. Ich weiß nicht warum, denn als ich nach Hause kam, war ich zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, als dass ich sie hätte fragen können. Um die Sachen zu kaufen, habe ich mich in der Kantine mit dem Mittagessen beeilt und bin zum Supermarkt gelaufen. Als ich mich dann nach dem Zwitschern umdrehte waren meine Frau und die Arbeit vergessen. Ich habe nur ihren Rücken gesehen, wie sie sich langsam von mir wegbewegte, wie damals im Park. Dieses Mal starrte ich ihr aber nicht nur hinterher. Automatisch setzte ich einen Fuß vor den anderen und lief ihrem Rücken nach. Die Einkaufstüte blieb auf dem Gehweg stehen.
Langsam lief Tomoko durch die Stadt. Ich musste immer wieder aufpassen, dass ich ihr nicht in die Hacken trat und machte deswegen oft an Schaufenstern halt, oder blieb an Straßenecken stehen. Tomoko blieb nicht stehen, sie ging mit ruhigen Schritt und starren Blick durch die vollen Straßen. Nur wenn ein Vogel zu sehen war, bewegte sie ihren Kopf um ihm hinterherzuschauen.
Sie bog in ein ruhigeres Viertel ab, in dem ich den Abstand zu ihr verlängerte um nicht bemerkt zu werden. Fast hätte ich verpasst, wie sie ihr Haus betrat. Einen kurzen Moment blieb ich an der Ecke, dann ging ich über die leere Straße zum Eingang und schaute auf die Klingelschilder. Da war sie. Tomoko Nobuhiro, 2. Stock, linke Seite. Die Straße war zu eng, als dass ich in ihre Wohnung hätte reinschauen können, deswegen betrat ich ein Haus auf der gegenüberliegenden Seite und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Dort stand ich im Treppenhaus und schaute ihr zu, wie sie in der Küche Essen zubereitet. Die Fenster ihrer Wohnung sind groß, wenn ich dort oben stehe, kann ich weit in ihre Wohnung schauen. Der Küchentisch und das Sofa im Wohnzimmer sind gut zu sehen. Meistens hält sich Tomoko dort auf, weswegen das Stehen neben dem Fenster für mich immer ergiebig ist. Nur manchmal verschwindet sie aus meinem Blickfeld.
Ich habe schon viel Zeit an diesem Ort verbracht, aber nie hat sie hochgeschaut und mich entdeckt. Auch niemand anders weiß, was ich dort tue. Wenn ich höre, wie Bewohner des Hauses die Treppe hochkommen, öffne ich das Fenster und zünde mir eine Zigarette an. Noch nie hat sich jemand über meine Anwesenheit gewundert. Sie grüßen höflich und gehen dann weiter ihrem eigenen Leben nach. Ein Fremder im Treppenhaus ist nichts, was die Aufmerksamkeit eines Großstadtmenschen fesselt. Ich kenne auch die wenigsten meiner Nachbarn, wenn in meinem Treppenhaus ein fremder Raucher stehen würde, wäre ich höchstens verwundert, weil eigentlich alle Wohnungen in dem Haus einen Balkon haben. Und es würde mich an Tomoko erinnern, wie so oft.
Der einzige mit dem ich manchmal während meiner Beobachtung rede, ist ein junger Student aus dem obersten Stockwerk. Wenn er mich sieht schnorrt er sich immer eine Zigarette und setzt sich auf die Fensterbank. Er denkt, dass ich im Haus wohne, hat aber nie nachgefragt in welcher Wohnung. Wir reden über die letzten Sportergebnisse. Meistens Fußball, weil das der einzige Sport ist, den ich regelmäßig verfolge. Er, stattdessen, schaut fast jeden Sport, der im Fernsehen läuft. Deswegen lasse ich ihn manchmal nur erzählen und höre genau zu um meine Kollegen in der Kantine mit plötzlichem Sportwissen zu überraschen zu können. Der Student erzählt besonders gerne von Baseball. Wenn er damit anfängt, vergisst er alles um sich herum, bis ihm die unangetastete Zigarette die Finger verbrennt. Ich habe ihn gefragt, ob er Sport treibe. Er hat mir erzählt, dass er als Jugendlicher Baseball gespielt hat, sogar so hoch, dass er sich eine Profisportlerkarriere hätte vorstellen können, aber seine Eltern haben ihn nicht unterstützt. Deswegen hat er den Sport aufgegeben und ist in die Stadt gezogen um auf Wunsch seiner Eltern Ingenieurswesen zu studieren.
"Ein Gutes hat es", hat er am Ende seiner Erklärung gesagt und die Zigarette hochgehalten, die schon wieder nur ein Stummel war.
"Als Profisportler hätte ich mich auf jeden Fall gesünder Verhalten müssen." Dann haben wir wieder über Fußball geredet.
Als das Essen fertig war, setzte Tomoko sich an den Küchentisch und blickte aus dem Fenster nach unten auf die leere Straße. Ab und zu kam ein Auto vorbei, oder ein Fahrrad. Gelegentlich verließ jemand eines der umliegenden Häuser. Nach oben hat Tomoko zu meinem Glück nicht geschaut. Vermutlich hat ihr der Anblick ihrer Vögel, die gegenüber auf dem Tisch saßen und sich um Körner zankten, schon gereicht. Sie musste nicht noch den Himmel nach weiteren absuchen.
Nach einer Weile verließ Tomoko wieder das Haus und ging den gleichen Weg zurück zur Arbeit. Sie arbeitet in einer kleinen Werbefirma in einem unauffälligen Gebäude. Die Firma ist nur ein paar Straßen von meinem Arbeitsplatz entfernt, aber ich hatte davor noch nie etwas von ihr gehört. Zuhause habe ich nachgeschaut, was die Firma macht. Sie bewirbt größtenteils landwirtschaftliche Geräte in einem professionellen Umfeld. Die Mitarbeiter werden auf der Seite nicht vorgestellt, deswegen schaue ich dort auch nur selten nach.
Tomokos Alltag ist sehr regelmäßig. Von Montag bis Freitag verlässt sie jeden Tag um 7 Uhr das Haus, um halb acht beginnt sie mit der Arbeit. Sie geht immer den gleichen Weg und nie wendet sie ihren Blick etwas anderem zu als vorbeifliegenden Vögeln. Um 13 Uhr hat sie eine zweistündige Mittagspause, in der sie nach Hause geht und kocht, oder sich mit Helene trifft. Gegen 18 Uhr macht sie Feierabend. Meistens geht sie dann nach Hause und verbringt den Abend lesend auf dem Sofa, oder sie schaut aus dem Küchenfenster. Gelegentlich, im Sommer, trifft sie sich mit Helene im Park. Den Samstag verbringt sie immer mit ihr. Entweder bei Helene zu Hause, oder wieder im Park. Alle paar Wochen gehen sie in die Stadt, zum Bummeln und Kaffeetrinken. Am Sonntag ist Tomoko immer allein, da geht sie auf den Westfriedhof und besucht das Grab ihrer Großmutter. Dann sitzt sie zusammengesunken vor dem schlichten Stein und regt sich nicht. Sonntags folge ich ihr nicht mehr. Es fühlt sich nicht gut an, sie in diesem verletzlichen Moment zu beobachten.
Zwei Mal bin ich Tomoko zufällig begegnet. Alle anderen Male waren geplant. Bei unserem ersten Treffen war ich im Park und habe gelesen. Ein richtiges Treffen kann man es nicht nennen, schließlich haben wir nicht miteinander geredet, uns nicht in die Augen geschaut. Ich habe sie nur beobachtet. Und sie hat mich nicht beachtet.
Tomoko war im Park mit ihrer Großmutter spazieren. Die alte Frau war krank und schwach. Sie konnte kaum noch hören und sehen. Tomoko musste sie am Arm eingehakt führen und regelmäßig setzten sie sich zum Ausruhen hin. Eine dieser Pausen fand in der Reihe Bänke statt, in der ich saß. Es waren kaum Menschen, trotzdem setzten sie sich auf die Bank mir gegenüber, zwischen uns waren vielleicht drei Meter. Die Großmutter begann zu reden:
"Bitte, Erzähl mir eine Geschichte, Tomoko. Sei so lieb."
"Aber du kannst mich doch kaum hören, Oma", sagte Tomoko zögerlich.
"Hm?"
"Du hörst mich nicht", wiederholte sie etwas lauter.
"Das ist nicht schlimm. Geschichten kann man auch mit schlechten Ohren verstehen, oder sogar wenn man komplett taub ist. Die Handlung bekommt man nicht mit, aber trotzdem die Gefühle."
Zu diesem Zeitpunkt war ich schon kurz davor mein Buch wegzupacken und mir einen anderen Platz zu suchen. Wenn Menschen um mich herum reden, kann ich mich nie auf ein Buch konzentrieren. Oft fliehe ich deswegen vor den Stimmen meiner Familie in diesen leeren Teil des Parks. Jedes Wort von außerhalb zieht mich aus der vorher so fesselnden Geschichte heraus. Andere Geräusche lenken mich nicht ab. Neben mir könnte ein Haus zusammenfallen und ich würde erst aufblicken, wenn die Schaulustigen anfangen zu schnattern. Jedes leise Flüstern holt mich in die Wirklichkeit zurück. Und Tomokos laute Stimme erst recht.
Ich will mein Buch schon zuklappen, da fängt sie mit ihrer Geschichte an:
"Vögel leben in mir, in meinem Körper"
Ich stutzte über die Ernsthaftigkeit mit der sie den Satz sagte und beschloss mir die Geschichte anzuhören. Mit dem Blick auf das Buch gesenkt, spitzte ich die Ohren. Nach einer kurzen Pause begann Tomoko zu erzählen.
"Sie haben schon immer in mir gelebt, aber lange Zeit haben sie geschlafen, glaube ich. Vielleicht habe ich sie auch nur nicht mehr bemerkt. Als ich ein Kind war, das war mir überhaupt nicht bewusst, dass Menschen eigentlich keine Vögel in sich haben. Ich dachte ich sei normal. Ein Freund, dem ich von ihnen erzählt habe, hat mich ausgelacht. Vögel leben nicht in Menschen, du Dummkopf, hat er gesagt. Vögel leben in Bäumen, das weiß doch jeder. Ich habe ihm erklärt, dass das nicht stimmt. Dass zwei Vögel in mir leben, die ich noch nie zuvor auf einem Baum gesehen habe. Dann habe ich ihm das Aussehen der Vögel beschrieben. Er meinte: meine Tante hat solche Vögel. Das sind Kanarienvögel. Du hast Recht, die leben nicht auf Bäumen, aber auch nicht in Menschen drin. Kanarienvögel leben in Käfigen. Das glaube ich dir nicht, habe ich gesagt und angefangen zu weinen. Daraufhin hat mich mein Freund mit zu sich nach Hause genommen, wir haben in der gleichen Straße gewohnt, und seine Eltern darum gebeten uns zum Haustierladen zu fahren. Er war Einzelkind, so wie ich. Nur, dass er und seine Eltern mehr dem Klischee entsprachen. Seine Eltern haben ihn abgöttisch geliebt und taten alles für ihn. Uns beide zum Tierladen zu fahren war also nur ein kleiner Gefallen von ihnen. Auf der Fahrt sprach ich kein Wort mit ihm. Ich schaute nur aus dem Fenster und ärgerte mich im Stillen über das, was er gesagt hat. Als ich aber den Laden betrat, realisierte ich, dass er Recht hatte. Kanarienvögel leben nicht in Menschen, sondern in Käfigen. Jeder einzelne Vogel im Laden saß in einem Käfig. Manche zu mehreren, manche allein. Wenn sie gekauft wurden, dann mit dem Käfig zusammen. Sie waren darin geboren und würden ihn niemals verlassen. Ich akzeptierte, dass die beiden Vögel nicht in mir leben konnten, und sie verschwanden. Lange Zeit waren sie nur eine vage Erinnerung, bei der ich mir nicht sicher war, ob ich sie mir nicht nur eingebildet habe. Manchmal kam mir ein Gedanke über die Vögel vom Wind in den Kopf geblasen. War da nicht mal etwas? Ich erinnere mich, wie ich mit etwa acht Jahren, da waren die Vögel schon seit drei Jahren fort, meine Eltern nach ihnen fragte, aber sie meinten nur, wir haben niemals Vögel besessen."
Sie machte eine kurze Pause und blickte, den Kopf seitlich gedreht, über die Wiese. Ich schaute mir ihr Profil an. Sie war etwa 20 Jahre alt und schön, wie das zweitschönste Mädchen aus einer Schulklasse. So schön wie man nur sein kann, ohne dabei aus der Masse hervorzustechen. Was man auch sofort erkennen konnte, war ihre Traurigkeit. Selbst damals im Park, wo ich nur ihr Profil anstarrte, konnte ich sehen, wie traurig sie war. Ihre Großmutter hatte einen friedlichen Gesichtsausdruck. Sie blickte mit trüben Augen über mich hinweg in die Baumwipfel. Bevor Tomoko ihren Kopf zur Großmutter zurückdrehte, schaute ich schon wieder auf mein Buch.
"Vor fünf Jahren kamen die Vögel zurück", fuhr Tomoko fort.
"Ich war damals in der Mittelstufe und entdeckte die Freiheiten einer Jugendlichen für mich. Fast jeden Tag habe ich mich, nachdem ich meine Hausaufgaben fertig hatte, mit meinen Freunden getroffen. Es war eine große Clique aus der Schule zu der ich gehörte. Immer wieder wurden neue Leute mitgebracht. Unbeschwert habe ich die Menschen kennengelernt und an den Albernheiten teilgenommen. Mich hatte noch nichts bedrückt. Es gab einen Jungen, mit dem ich mich besonders gut verstand. Alle meine Freundinnen waren schon mit Jungen zusammen und ich wusste, dass er mein Freund werden sollte. Er war beliebt und hat in der Schulmannschaft Basketball und in einer Band mittelmäßig Gitarre gespielt. Jeder mochte ihn, und jeder war sich einig, dass so ein hübsches Mädchen wie ich seine Freundin sein sollte. Aber daraus wurde nie etwas, denn plötzlich waren die Vögel wieder da und ich gehörte nicht mehr zu den anderen dazu. Ich saß mit meinen Freundinnen in einer Sitzecke im Einkaufszentrum. Wir haben ein bisschen getrunken und ein Mädchen war gerade dabei kichernd von ihrem Freund zu erzählen, da fing es in mir an zu Flattern. Ich saß wie erstarrt da. Die anderen haben nichts mitbekommen. Das Flattern verstummte und ein Zwitschern begann, und ich realisierte, dass zwei Kanarienvögel in mir saßen. Dann fielen mir die ganzen vergessenen Erinnerungen wieder ein. Wie ich als Kind die weichen Federn gestreichelt habe; wie ich am Fluss saß und ihr Singen nachahmte; wie ich versucht habe meinen Brustkorb so weit aufzublasen, dass sie Platz zum Fliegen haben; wie sie irgendwann weg waren. Überwältigt von den Erinnerungen fiel ich rückwärts von der Bank, rappelte mich aber, bevor meine Freundinnen reagieren konnten, wieder auf, murmelte irgendeine Entschuldigung und lief raus um nach Hause zu fahren. Dort saß ich in meinem Zimmer und weinte. Auf einen Schlag war ich kein durchschnittliches Mädchen mehr. Kanarienvögel leben in Käfigen, dass sie jetzt in mir leben macht nicht nur sie besonders, sondern auch mich. Leider nicht besonders im positiven Sinne, aber auch nicht wirklich im negativen. Zwei Kanarienvögel in sich zu schleppen ist eine Last, die man eigentlich gut ignorieren könnte. Sie wiegen nicht viel, es sind ja nur zwei kleine Vögel. Niemand kann sie sehen, niemand bemerkt sie. Und wenn ich mich konzentriere, dann sind sie ganz leise und lenken mich nicht ab. Ich hatte durch sie nie Probleme. Aber es ist nicht normal. Ich bin nicht normal. Und wer nicht normal ist, kann nicht an diesem normalen Leben teilnehmen. Meine ehemaligen Freunde hätten es nicht verstanden. Tomoko, warum willst du nicht mehr mitkommen, fragten sie. Und ich konnte nur die Schultern zucken. Besonders tief waren diese Freundschaften nie, deswegen lösten sie sich auf wie Zucker in heißem Tee und ich konnte mich dem Anders- und Alleinsein hingeben. Bei meinem fast Freund habe ich versucht, es genauer zu erklären. Er hatte mich schon vorher auf ein Date eingeladen, das ich ihm dann absagen musste. Auf seine Frage nach dem Grund, antwortete ich, dass sich etwas verändert hat, etwas in mir drin. Es ist anders und wenn ich trotzdem so bleibe wie vorher, wäre es eine Lüge, die mich und alles um mich rum zerstören würde. Was ist denn anders, fragte er unsicher. Etwas lebt in mir, etwas was nicht da sein sollte. Und deswegen kann ich kein normales Leben mehr führen. Ich bin verändert und muss mein Leben anpassen, verstehst du? Er blickte mich nur traurig an und schüttelte den Kopf. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, dann standen wir auf, reichten uns die Hand und gingen getrennte Wege.
Das Leben danach war nicht mehr leicht, aber angemessen. Ohne Freunde habe ich jede Pause allein auf der Fensterbank gesessen und den gefüllten Schulhof beobachtet. So konnte ich das normale Leben verfolgen, während ich davon ausgeschlossen war. Meinen Eltern ist nicht aufgefallen, dass ich mich verändert hatte. Schließlich haben sie sich auch nicht für mich interessiert. Sie haben weiterhin die gleichen Fragen gestellt, deren Antworten sie eh schon kannten: In der Schule war es gut; das Essen schmeckt lecker danke Mama; ja, ich habe meine Hausaufgaben schon fertig. Ich habe angefangen die Antworten zu variieren. Dann war es in der Schule wie immer, das Essen war gut, und die Hausaufgaben waren heute sehr leicht. Aber die Antworten sind völlig egal, genauso wie die Fragen. Nachdem sie beantwortet wurden, begann mein Vater über die Arbeit, seine Kollegen und die Karriere zu reden. Einmal haben sie gefragt, ob ich denn nichts mehr mit meinen Freundinnen machen würde. Ich habe mit den Schultern gezuckt und sie haben mich wieder in Ruhe gelassen. Dass ich mit 18 ausgezogen bin, hat mich sehr glücklich gemacht. Die versteckte, aber doch so offensichtliche, Kälte in dem Haus hat meinen Vögeln nicht gut getan. Wenn ich mit dir zusammen bin ist es besser, Oma. Aus irgendeinem Grund bist du auch nicht normal. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du dasitzt und mit deinen schlechten Ohren dem Gesang der Vögel in mir lauschst. Friedlich, wie immer. Dass meine Mutter dich nicht versteht, kann ich mir auch nur damit erklären, dass sie nach Großvater kommt und nicht nach dir.
Naja. Inzwischen lebe ich eine genauso lange Zeit mit den Vögeln wie ohne. Man gewöhnt sich daran, es macht keinen Unterschied im Alltag. An der Uni ist alles unpersönlich. Den vielen oberflächlichen Bekanntschaften fällt es nicht auf, wenn jemand anders ist, allein ist. Ich kann sogar mit meinen Kommilitonen im Cafe sitzen, mit ihnen reden und lachen und sie bemerken es nicht. Sie denken, ich sei genauso wie sie. Von ihnen ist keiner anders. Sie sind alle gleich, aber das ist nicht schlimm. Ich freue mich für sie. Seit ich studiere, werde ich auch seltener von irgendwem gestört. Tagsüber erledige ich all die Dinge, die von mir verlangt werden, und gehe gelegentlich mit dir spazieren. Nachts liege ich unbewegt in meinem Bett. Dazu hole ich die Vögel heraus und schaue zu, wie sie im Licht der Straßenlaterne unbeholfen im Raum umherflattern. Von der Kommode aufs Bett, auf die Fensterbank, an der Lampe festgekrallt, über den Boden hüpfend. Diese Momente sind echt. Alles andere kann dann eigentlich nur ausgedacht sein. Alles andere gehört nicht zum Leben dazu."
Danach schwieg Tomoko eine Weile. Ihre Großmutter richtete ihren Blick auf sie und sagte:
"Das war eine traurige Geschichte."
"Wollen wir weitergehen?"
"Was?"
"Lass uns weitergehen", sagte Tomoko beim Aufstehen noch einmal lauter und zog ihre Großmutter mit sich. Ich schaute ihnen nur hinterher.
Als ich sie nach dieser langen Zeit auf der Straße wiedererkannte, hat es mich an sie gefesselt. Sie war immernoch traurig, aber nicht mehr so sehr wie bei unserem ersten Treffen. Inzwischen ist Tomoko nicht mehr allein. Nach dem Tod ihrer Großmutter hat sie jemand anders gefunden, der wie sie, also nicht so wie jeder andere Mensch, ist. Sie heißt Helene Greitens, ich habe es von ihrem Klingelschild abgelesen. man kann nicht genau feststellen warum Helene nicht normal ist. Im Gegensatz zu Tomoko merkt man es ihr aber an. Während Tomoko unauffällig und unentdeckt in ihrer Andersartigkeit ist, zieht Helene alle Blicke auf sich. Die Leute schauen sich nach ihr um. Nicht bewundernd oder angeekelt, sondern erstaunt.
"Ach, solche Leute gibt es?", sieht man sie denken. "Wie merkwürdig."
Ich glaube, Helene ist der Grund dafür, dass es Tomoko so gut geht. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander und verstehen sich. ich habe sie beobachtet in ihrem friedlichen Zusammenleben. Es färbt auf mich ab. Wenn ich ihnen durch den Park folge und zusehe, wie sie mit den Vögeln spielen, komme ich viel entspannter nach Hause. Meine Frau lächelt mich an solchen Tagen besonders an, weil sie merkt wie gut es mir geht und wir reden dann auch mehr nachdem die Kinder im Bett sind. Nicht über Tomoko und die Vögel, sondern über uns und die Kinder. Wir reden über Wünsche und Träume, machen Pläne, und freuen uns gemeinsam über die Erfolge in unseren Leben.
Manchmal wenn wir am Küchentisch sitzen, oder auf dem Balkon stehen und rauchen, stelle ich mir vor wie Tomoko und Helene bei uns sind und an den Gesprächen teilnehmen. Tomoko würde vielleicht darüber reden, wie sie bei der Arbeit immernoch unentdeckt anders ist. Oder sie erzählt uns von ihrer Großmutter. Worüber Helene sprechen würde, weiß ich leider nicht. Die beiden reden viel miteinander, aber ich traue mich nicht nah genug ranzugehen um sie zu verstehen. Ich sehe immer nur aus der Ferne die Bewegung der Münder. Vermutlich könnte ich sie aber garnicht verstehen. Noch nicht einmal, wenn ich direkt daneben säße.
Sie verstehen sich gut. Ich glaube nicht, dass es einen Menschen gibt, der besser mit Helenes Verhalten umgehen kann als Tomoko. Wenn sie Samstags durch die vollen Straßen laufen, passiert es oft, dass Helene einfach stehenbleibt. Sie steht dann meist in der Mitte des Fußgängerwegs und starrt geradeaus.Ihr Stand ist sehr locker, sie verlagert das Gewicht von dem einen Bein auf das andere und neigt den Kopf leicht zur Seite. Ihre Arme hängen immer regungslos runter und wenn sie etwas in der Hand gehalten hat, dann lässt sie es im Moment des Stehenbleibens fallen. Für die Fußgänger wird sie zum Hindernis, oft laufen Leute in sie rein oder rempeln sie an, wobei sich Helene aber nicht bewegen lässt. Manche sehen die Schuld bei sich und entschuldigen sich höflich. Manche halten Helene für die Schuldige und rufen ihr beim Weitergehen Beleidigungen zurück. In beiden Fällen gibt es keine Antwort.
Tomoko reagiert in ihrer typisch ruhigen Art. Sie setzt sich auf die nächstgelegene Sitzmöglichkeit, eine Bank oder Treppenstufe, und wartet. Dabei stützt sie ihren Kopf in den Händen und folgt mit ihren Blicken den ganzen an ihr vorbeilaufenden Menschen. Helene, und die Leute, die sich über Helene wundern und ärgern, werden von ihr nicht beachtet. Wenn Helene dann nach drei bis fünfzehn Minuten wieder auftaut, steht Tomoko auf und sie gehen gemeinsam weiter.
Einmal, als ich wieder im Treppenhaus des Gebäudes gegenüber stand, verließ Tomoko ihre Wohnung zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit. Ich hatte sie schon drei Wochen nicht gesehen, weil ich mit meiner Familie Urlaub am Meer geemacht habe. Meine Schwiegereltern haben dort ein großes Anwesen, in dem wir oft Teile der Sommerferien mit ihnen verbringen. Es war angenehm vom Alltag und von der Arbeit wegzukommen. Aber wie entspannt ich auch war, Tomoko ging mir trotzdem nicht aus dem Kopf.
Deswegen war ich an diesem Tag, kurz nach der Rückkehr in die Stadt, im besonderen Maße dazu bereit sie zu beobachten. Schon in ihrer Mittagspause hatte sie sich merkwürdig verhalten. Anstatt zu essen, saß sie am Küchentisch und starrte vor sich hin. Nichtmal die Vögel holte sie hervor. Nachdem ich von der Arbeit zum Treppenhaus zurückkehrte, blieb ich länger als sonst vor dem Fenster stehen um Tomoko auf dem Sofa liegen zu sehen.
Als es schon dunkel war, stand Tomoko auf und verließ die Wohnung. Sie erhob sich vom Sofa und ging in den hinteren Teil der Wohnung, außerhalb meines Blickfelds. Die Lichter blieben alle an und ich dachte sie würde sich bettfertig machen. Deswegen war ich auch sehr überrascht, als sie plötzlich unten aus der Haustür hervortrat. Schnell lief ich runter um ihr durch die gelb beschienenen Straßen zu folgen. Auf ihrem Weg mied sie die Orte (Bars, Clubs und Spielhallen), an denen man nachts noch Menschen findet, deshalb begegnete uns niemand. Ich lief wie immer in einigem Abstand hinter ihr her und versuchte im Dunklen zu bleiben, ohne dabei auffällig zu wirken.
Mir war schnell bewusst, wohin Tomoko lief. Den Weg zum Park kannte ich genauso gut wie sie. Dort angekommen setzte sie sich auf eine Bank am künstlichen See im Nordteil des Parks, holte die Vögel hervor und starrte über das Wasser. Die Vögel sprangen ein bisschen hin und her, zwitscherten leise vor sich hin. Tomoko saß regungslos da. Etwa eine Stunde stand ich im Schatten eines Baums und beobachtete sie.
Dann ging Tomoko wieder, aber sie ließ die Vögel dort sitzen. Langsam ging sie, mit unsicherem Blick, sich immer wieder umschauend. Sie ging den Weg, den sie gekommen war. Ich musste mich hinter einem Busch ducken um nicht von ihr gesehen zu werden. Was genau sich in ihr abspielte, konnte ich nicht erkennen. Dazu war es zu dunkel. Als sie weit genug weg war, trat ich in das Laternenlicht, dass die Bank beleuchtete, und schaute mir die Vögel an. Zuerst hüpften sie von mir fort, aber schnell gewöhnten sie sich an meine Anwesenheit und gingen weiter gelassen ihrem Vogeldasein nach ohne mich zu beachten. Ich setzte mich auf die Bank, genau die Stelle, auf der Tomoko saß. Aber von ihr war nichts mehr zu spüren. Genau wie sie schaute ich über das Wasser und versuchte dabei ihre Gefühle in dieser Nacht nachzuvollziehen. Gerne hätte ich die Vögel in mich aufgenommen. Doch immer wenn ich meine Arme nach ihnen ausstreckte, flatterten sie laut kreischend ein Stückchen davon. Also saß ich nur da und versuchte mir vorzustellen, was in Tomoko vor sich ging. Woher kam der Entschluss die Vögel hinter sich zu lassen?
Plötzlich sprang einer der beiden Vögel auf die Lehne und begann zu singen. Ich ahnte, dass Tomoko zurückkehren würde und verließ gerade noch rechtzeitig die Bank und verschwand im Schatten. Kurz darauf kam Tomoko wirklich mit einem von Tränen überströmten Gesicht hergeeilt und nam die Vögel in sich auf. Während sie erleichtert nach Hause ging, blieb ich in der Dunkelheit auf dem kalten Rasen sitzen.
Ich bin froh über die Anonymität der Großstadt. Dass ich nicht auffalle, erspart es mir, mich mit den Leuten auseinanderzusetzen. Ich glaube nicht, dass jemand mein Verhalten gutheißen, oder auch nur verstehen würde. Aber ich könnte es auch nicht erklären. Warum Tomoko diese Wirkung auf mich hat, weiß ich selber nicht. Sie ist ein Rätsel über das ich zufällig gestolpert bin, wofür ich in meiner normalen Welt keinen Lösungsansatz finde und das mich nicht mehr loslässt. Trotzdem tut sie mir gut, glaube ich. Ich folge ihr nun schon seit drei Jahren und sie ist so glücklich wie man nur sein kann, wenn man bedenkt, dass Vögel in ihr leben.