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Tom (Schweiss, der Ausgestossene, überarbeitet)
Es war ein unglaubliches Jahr, in dem die Hitze niemanden freute, am wenigsten Tom, den achtzehn jährigen, unbeliebten Mittelschüler. Er schwitzte wie ein Hürdenläufer, der nach wiederholten Fehlstarts und einem weniger als durchschnittlichen Lauf unter der gleissenden Sonne das Ziel erreichte. Oder wie ein nicht ganz ehrenhafter Schüler beim Examen, der vom Lehrer gebeten wird, die offenen Handflächen vorzuweisen.
Die meisten Leute wuschen sich den Schweiss von der Stirn und hielten die überdurchschnittlichen Temperaturen ohne gross zu klagen aus.
Aber Tom hatte Grund dazu, sich besonders unwohl zu fühlen. Er war nass wenn er sass, wenn er lag oder stand. Er schwitzte überall und immer intensiver. Tom trug einen kleinen Ventilator bei sich, der ihm ab und zu wenigstens ein Minimum an frische Luft gewährte. Zwei bis drei Mal am Tag wechselte er das T-Shirt, meistens gelb oder beige, denn die Farben sind kaum Hitze fördernd und nehmen im Gegensatz zu weiss den Schweiss unauffälliger auf.
Es nützte nichts; eine unangenehm riechende Nässe überdeckte dennoch seine Haut. Es war unerträglich; er war sich bewusst, dass er so viel mehr schwitzte als alle anderen und die anderen wussten es auch.
Neulich hatte er begonnen, jeden Abend eine Plastikblache über die Matratze auszubreiten, um nicht jede Nacht die Matratze durchzuschwitzen. Die Plastikbedeckung liess sich mühelos jeden Morgen rasch abwaschen.
Weshalb war er denn so anders? Was führte seine Poren dazu, alles, was er trank, gleich wieder nach aussen zu weisen?
Er stank ausserordentlich. Parfümieren nützte kaum etwas. Natürlich, er hatte es schon auch mit Überduftung versucht; ob er französisch dusche, hatten die anderen ihn dann gefragt und ihn ausgelacht.
Die meisten mochten Tom nicht und einige verabscheuten ihn; natürlich spielte da der Gestank und die daraus folgende Tatsache, dass er meist alleine war, eine bedeutende Rolle, doch manchmal sagte ihm eine innere Stimme, dass vielleicht noch mehr dahinterstand.
Mehr trinken, hatte der Arzt empfohlen, das war alles. Wenn der wüsste! In dieser Hinsicht müsste sich nicht der Arzt, sondern vielmehr die Trinkwasserbehörde Sorgen machen.
Tom duschte zweimal am Tag, manchmal auch mehr.
Niemand gab ihm die Hand, die meisten liefen mit zugehaltener Nase an ihm vorbei und hielten laute Monologe über unerwünschte Düfte.
Seine Mutter kam meist nur am Wochenende nach Hause, sie arbeitete hart, damit ihr intelligenter Sohn eine passende Schule besuchen konnte. Weder er, noch seine Mutter kannten den Vater. Dieser Vater musste eine sehr spezielle Person gewesen sein, denn Toms Mutter war eine durschnittliche Frau und so aussergewöhnlich, wie Tom war, hatte er sicher einiges vom Vater ererbt. Tom bereute es, ihn nicht gekannt zu haben.
Diejenigen, die Tom hassten – und das einige –, hatten ihm einen nicht besonders phantasievollen Spitznamen verpasst; sie nannten ihn ‚Schweiss‘ und quälten ihn, weil er übel roch. Sie schlugen ihn und er schlug gelegentlich zurück, sodass sich alles nur verschlimmerte. Jetzt hatte sich die Lage wieder zugespitzt. Die Agressivitätsbereitschaft seiner Feinde war ziemlich beunruhigend.
Tom war nicht schwach. Er hatte einen athletischen Körperbau und konnte sich auch ob dem sonstigen Aussehen nicht beklagen; er war eher gross, hatte blonde Haare, ein schön geformtes Gesicht mit dunkelbraunen Augen. Ohne den Gestank, ohne die ständige Körpernässe würden eine Menge Frauen auf ihn abfahren. Er hatte aber noch nie eine Freundin gehabt. Wie auch? Im Gegensatz zu den Männern, schlugen und jagten ihn die Frauen nicht, doch sie blieben auf Distanz. Der Schweiss und der Gestank, klar. Aber vielleicht war das nicht der einzige Grund.
Tommy Schweiss, wasch dich mal! Wie oft hatte er diesen Satz hören müssen. Aber das wäre noch gegangen. Wenn sie ihn nicht geschlagen, wenn sie ihn nicht verfolgt hätten. Vielleicht sollte er aufhören, sich zu wehren. Würden sie ihn dann allmählich in Ruhe lassen?
Vielleicht war es auch schon zu spät.
Heute schien ein besonders unangenehmer Tag zu werden. Nach der Schule – wo er, wie überall, stets alleine war – hatten ihn kleine Kinder aus der Umgebung erwartet und mit Steinen beworfen. Dabei hatten sie Witze gerissen, in der Art: „Ich kann ihn fast nicht treffen, der Gestank lenkt meine Steine ab!“
Das wäre noch gegangen, es war nicht das erste Mal.
Aber neben den kleinen Kindern kamen auch Jugendliche und Erwachsene.
Heute verfolgten sie ihn durch eine enge Gasse. Er atmete laut und schwitzte ausserordentlich stark. Er war sportlich genug, sie abzuhängen, doch sie fanden mühelos die Spur wieder. Viele, die Tom fliehen sahen, verrieten ihn. Zum Teil, weil sie die anderen fürchteten, zum Teil weil sie ihn hassten.
Es war kein primitives Spiel mehr. Sie hatten Baseballschläger dabei, es war ihnen Ernst. Tom erinnerte sich jedoch nicht daran, jemals etwas so Schwerwiegendes verbrochen zu haben, dass sie ihm deshalb gleich auf diese Art an den Kragen wollen müssten. Er hatte sich vielleicht nicht alles gefallen lassen und bisweilen mit der Faust reagiert, aber...
„Wenn du mal kurz stillhältst, kann ich dir helfen, “ rief einer, der ein Klappmesser in der Hand hielt „du wirst nach meiner Behandlung nicht mehr schwitzen, du wirst bluten!“
Das waren keine kleinen Kratzer mehr, die sie ihm zufügen wollten.
Ein ganz schneller Verfolger erreichte ihn fast. Er griff nach Toms T-Shirt, doch es sah aus, als würde dieses ihm wieder aus den Fingern gleiten. Nach einem Versuch, Tom dennoch festzuhalten, stolperte er und fluchte.
Ein weiterer Typ näherte sich ihm. Der Gejagte warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück. Die anderen waren weiter hinten. Abrupt hielt Tom an, wandte sich zu seinem Verfolger und schlug diesem mit der nassen Pranke voll ins Gesicht. Der Typ sackte zu Boden und als die anderen aufgeschlossen hatten, rannte Tom weiter. Seine Verfolger waren jetzt noch wütender.
Hinter dem Gejagten verrieten sich zwei Vespafahrer durch das laute Brummen ihrer Motoren. Wahrscheinlich steuerten sie mit der einen Hand das Fahrzeug durch die übrigen Verfolger, in der anderen hielten sie Hockey- oder Baseballschläger. „Jetzt schlachten wir dich, Arschloch!“, riefen sie.
Tom hatte Angst: Wenn sie ihn zu Fuss verfolgten, hätte er eine Chance. So aber stand es überhaupt nicht gut um ihn. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als eine enge Passage zu finden. Die kleine Gasse, durch die er im Moment gejagt wurde, verlief zwischen grösseren, alten Gebäuden und erreichte nach etwa hundert Metern die Hauptstrasse. Dort durfte er nicht hin. Bis dahin hätten ihn die Vespafahrer mühelos eingeholt und überwältigt. Sie waren zwei. Und sie waren wahrscheinlich erbarmungslos.
Er entschied sich für den engen Durchgang zwischen einer kleinen Fabrik und einem Gebäude, worin mehrere, wie es schien eher arme Leute wohnten. Er erreichte ihn, kurz darauf rasten die zwei Vespa-Verfolger an ihm vorbei. So schnell er konnte lief er weiter. Ausdauer war nicht sein Problem, Geschwindigkeit sowieso nicht. Aber er war nun mal speziell und es war nicht besonders angenehm und vorteilhaft, in klebrigen, nassen Kleidern fliehen zu müssen. Dazu befürchtete er, dass die anderen ihn immer anhand seines Geruches finden konnten.
Er stolperte über einen Haufen Abfallsäcke. Geschickt und schnell stand er wieder auf. Aber seine Verfolger waren nun wieder dicht hinter ihm. Er hatte seinen Vorsprung verloren.
Plötzlich erklang ein böses Knurren hinter ihm. Tom wusste was das bedeutete, er hatte auch schon mit Pitbulls zu tun gehabt. Dieses Tier würde er nicht leicht loswerden können. Solche Biester hatten ein scharfes Gebiss. Der linke Unterarm erinnerte sich gut daran. Damals hatte er das Tier mit einem kräftigen Schlag auf die Nase überwältigen können. Damals war das Tier allein gewesen.
Schweiss lief fast wie ein Olympiasieger. Die enge Passage – auf der Armenhaus Seite hingen eine Menge Tücher und Kleidungstücke; in diesem lichtarmen Zwischenraum eigentlich ein Witz, wenn die Hitze in diesem Sommer nicht selbst im Schatten so hoch wäre – mündete in eine ähnliche Gasse wie die vorhin. Tom bog rechts ab, ohne weiter zu überlegen: Er rechnete damit, dass er zur Hauptstrasse gelangen konnte. Erschrocken stellte er fest, dass dies nicht der Fall war. Er befand sich in einer Sackgasse.
Gleich wollte er kehrt machen, aber da versperrten ihm schon vier Pitbulls den Weg und drohten mit weit aufgerissenem Maul. Sie schienen zu erkennen, dass ihr Opfer nicht mehr entkommen konnte, denn sie gingen nun langsamer auf Tom zu. Auch die anderen Verfolger trafen ein. Am anderen Ende der Gasse bogen wieder die zwei Vespafahrer ein. Ein dritter schloss sich ihnen an. Die Jagd schien ihren Schluss zu erreichen. Tom rannte noch bis ans Ende der Gasse, wo zwei grosse Fässer, einige Papierhaufen und Abfallsäcke einen Haufen bildeten. Er würde sich nicht so leicht stellen. Mit geballten Fäusten bereitete er sich auf den Kampf vor.
Tommy Schweiss würde sicher nichts dagegen haben, wenn Gast mal die Kontrolle übernahm. Er und Tom teilten das gleiche Bewusstsein, die gleichen Gefühle, mit dem kleinen Unterschied, dass Gast von Tom wusste, aber Tom nicht von ihm.
Tom schwitzte ausserordentlich viel, das tat Gast Leid, aber es war nun mal der Preis für ihr doppeltes Bestehen. Auch er litt unter diesem Körpermakel. Er war der Grund, weshalb Tom so viel mehr schwitzte als alle anderen. Der Druck, den Gast von innen auf Tom verursachte, wirkte sich auf die Poren aus. Die Sommerhitze war der viel kleinere Schweissproduzent. Das meiste war wegen Gast.
Tom wusste nichts vom ihm, sowie ihre Mutter nicht wusste, von wem sie das Kind hatte. Gast wusste es. Er war mit dem Wissen geboren worden.
Zwar war er sich nicht sicher, ob er und Tom nur eine Art Brüder waren oder eins, aber im Grunde genommen spielte das keine Rolle. Sie dachten gleich, sie litten gleich, sie fühlten gleich. Sie wohnten im gleichen Körper. Tommy war ein guter Körper. Ein Körper, der sich besser beherrschen konnte als Gast. Aber Gast hatte die Kraft des Vaters.
Jetzt war nur noch er imstande, sie zu retten.
Das Leiden in Tom hatte auch für ihn die erträgliche Grenze überschritten. Sie waren nun wie ein Kaninchen, kurz davor von einem Wagen überfahren zu werden, wenn es nicht auswich. Ausweichen konnte nur noch Gast.
Er begann Tom nach innen zu stülpen. Die Lippen schwollen an, schienen sich zu verflüssigen. Die braunen Augen, die Tom gehörten, drangen in den Kopf. Kurz darauf wuchs ein weisses, fast durchsichtiges Etwas, das die Form einer Billardkugel und den Glanz eines Kristalls hatte, aus den Augenhöhlen. Die Pupille erschien als ein winziger roter Punkt. Die Nase war wie gegen eine Scheibe gepresst. Sie wurde ganz weiss. Die Haut löste sich wie Toms T-Shirt, fiel jedoch nicht auf den Boden. Sie wurde vom Körper bewahrt und glitt durch die Poren nach innen. Eine neue, farblose, fast durchsichtige Haut kam zum Vorschein. Etwas riss die Schuhe auf und gleichzeitig wucherten aus dem unterdessen farblosen Handrücken eine Menge weisse, dornartige Zacken. Der Unterarm erhielt ebenfalls solche Waffen, welche aus Verfolgern Gejagte machten. Die muskulöse Tom/Gast-Schulter schien hart wie Stahl geworden zu sein. Toms blonder Haarschopf wurde mit einem pfeifenden Geräusch eingesaugt. Gasts kahles Haupt schimmerte hellrot auf, als er wütend seine verblüfften Verfolger betrachtete. Ein Reissen war zu hören, als ein durchsichtiger Zacken am Knie die Jeans durchbrach.
Während die anderen allmählich in Panik gerieten und die sonst bedingungslos gehorchenden Pitbulls stehen blieben, schoss aus Gast ein langer Schwanz, der die Beweglichkeit einer Peitsche, die Form eines Dreizacks und diese weiss-durchsichtige Farbe hatte.
Die aufgeschwollenen Lippen waren einer regelmässig glatten Mundhaut gewichen, die sowohl Glas als auch Kautschuk ähnelte. Gast riss den Mund auf und schrie grässlich. Dieser Laut stellte vorerst den Schmerz der Umwandlung, dann aber ein bedrohlich- wütendes Gebrüll dar. Entsetzliche Reisszähne zierten sein erstaunliches Gebiss; noch waren sie weiss. Gasts krallenartige Finger waren um einiges länger als die Toms.
Er stürzte sich auf die Gegner.
Sogleich wurden vier unvorsichtige Kampfhunde zerfetzt. Gast warf sie in eines der Fässer. Er war unheimlich schnell. Seine Bewegungen liessen sich kaum rechtzeitig erkennen. Zahlreiche Verfolger versuchten schreiend durch die enge Passage zu fliehen. Gast holte sie ein und zerriss sie, schlug ihre Köpfe an die Wand. Mit jeder tödlichen Waffe seines Körpers wütete er, um das Leid, das Tom und ihm widerfahren war, auf grausamste Art heimzuzahlen. Die drei nun blutroten Spiesse seines Schwanzes bohrten sich in Augen und Münder. Er wütete im Blut, bis seine farblose Gestalt mindestens so rot war, wie die Schürze eines sadistischen Metzgers. Bis er keinen Gegner mehr fand.
Überraschend schlug ihn von hinten ein Baseballschläger. Doch auf Gasts glatter Haut entstand nur eine kleine Wunde. Er packte den Angreifer mit den Krallen und riss ihm den Brustkasten auf.
Er raste zurück in die Gasse. Ein Vespafahrer hatte mutig – oder bis zur Bewegungslosigkeit schockiert –, das Spektakel mitverfolgt, während seine zwei Kollegen das Weite gesucht hatten. Als er die Geschwindigkeit realisierte, mit der Gast auf ihn zuschoss, verlor er seinen Mumm. Er gab Gas, wollte fliehen, doch sein Fahrzeug blieb abrupt stehen. Der Angreifer hielt das Hinterrad fest.
In seinem Innern spürte Gast Tom, der die Kontrolle zurückverlangte. Das war nicht möglich. Das war erst möglich, wenn Gast den Fahrer umgebracht hatte. Nur wenn er keinen Verfolger mehr sah, würde er sich beherrschen können.
Und dann würden sie in Tommy Schweiss weiter bestehen. Gast würde wie letztes Mal Tom um eine Erinnerung erleichtern.
Selbst für seinen Bruder wollte und musste Gast ein Geheimnis bleiben.
Er konnte Tom beschützen. Aber Tom nicht ihn.
Anmerkung:
Das ist die überarbeitete Version einer Geschichte, die nicht gefallen hat. Ich hoffe daraus das beste gemacht zu haben, doch glaube ich auch nicht, dass die Geschichte nun als absolut genial bezeichnet wird. Ich denke und hoffe, dass man sie aber als durchschnittlich oder mehr bezeichnen kann. Doch bitte ich euch, mit Verbesserungsvorschlägen und konstruktiver Kritik nicht zu sparen, denn ich will aus der guten Grundidee(m.E) eine gute Geschichte machen.