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Todesnachricht
Sie waren wieder da. Die Gedanken, die mich immer wieder quälten. Von denen ich glaubte, sie kämen nicht wieder. Eigentlich wollte ich an meinen Projekten arbeiten, doch stattdessen entschied ich mich für ein Buch. Das Geschenk von Fitzek zog mich innerhalb kürzester Zeit in seinen Bann und ich konnte einfach nicht aufhören zu lesen. Außerhalb der fiktiven Bücherwelt drang das Rauschen des Regens an mein Ohr. Fast schon ironisch, wie das Wetter meine Stimmung widerspiegelte. Die Gedanken waren sehr oberflächlich. Niemals könnte ich mich wirklich umbringen, doch aus welchem Grund auch immer, beschäftigte sich mein Kopf sehr intensiv damit. Sämtliche hochgesteckten Ziele rückten in den Hintergrund und das Leben erschien nicht mehr lebenswert, langweilig und unglaublich mühsam. Ich schüttelte den Kopf, symbolisch, um sämtliches Grübeln fallen zu lassen. Ein paar Seiten später war ich wieder in Fitzeks Fiktionen, die mich abhielt, über schlechte Dinge nachzudenken. Ich lag auf meinem Sofa, mit der linken Hand in der Müslitüte, um mir zwischendurch Süßes zwischen die Zähne zu schieben. Auf meinem Handy mussten mittlerweile eine Menge Nachrichten aufgeschlagen sein, doch ich konnte auf jegliche soziale Interaktion verzichte. Gerade als ich bemerkte, dass sich meine Gedanken schon wieder von dem Buch entfernten, klingelte es an meiner Tür.
Wer ist das? Eine dunkle Vorahnung durchlief meinen Kopf und sollte auch gleich bestätigt werden.
„Ja“, sagte ich offensichtlich genervt in den Hörer der Freisprechanlage.
„Ich bin’s, Mama“, antwortete die nervige Stimme am anderen Ende. Ohne eine andere Wahl zu haben, betätigte ich den Türöffner. Wie kann diese Frau immer den wohl ungünstigen Zeitpunkt erwischen? Seit meinen Auszug vermisste sie mich merklich und das bekam ich auch sehr deutlich zu spüren. Erst gestern war sie zu Besuch, hat mir angeboten, doch am nächsten Tag zum Essen zu kommen. In weiser Aussicht hatte ich abgelehnt. Und jetzt stand sie vor mir. Strahlend mit einem Topf in der Hand.
„Komm‘ rein“, sagte ich, ohne meine Unlust verbergen zu wollen. Sie zog ihre Schuhe aus und mir schoss der gestrige Tag erneut in den Kopf. Mir wurde sofort sehr heiß.
„Ich muss kurz auf Klo, geh doch schon mal rein.“ Tief durchatmend hob ich den schloss ich die Tür ab und hob den Klodeckel an. Für mich war das Blut ein gewohnter Anblick, für jemand anderes vermutlich ein Schock. Meine Mutter zumindest, sollte das auf keinen Fall zu Gesicht bekommen. Mittels Kloreiniger und Klobürste kratzte ich einen Großteil der Blutverkrustungen ab, während ich im Geiste durchging, ob ich noch irgendwo Rasierklingen liegen hab lassen.
„Und? Wie war dein Tag? Was hast du heute so gemacht?“ In ihren Augen lag ehrliches Interesse.
„Geschrieben, gelesen. Wie sonst auch“, warf ich ihr hin und blickte dabei in eine völlig andere Richtung. Die Zeit wollte nicht vergehen und meine Unlust schien sie nicht zu vertreiben. Schließlich ließ ich mich überzeugen, etwas von dem mitgebrachten Braten zu essen. Warm hatte ich schon länger nicht mehr gegessen. Meist gab ich meinem Körper Fertigfraß oder Obst. Gabel für Gabel verschlang ich die Fleischbrocken.
„Soll ich für dich abspülen?“, hakte sie wieder nach. Ihr Drang, mir zu helfen, überstieg sogar meinen Drang nach Schmerz.
„Nein, wie oft denn noch? Ich möchte selbstständig sein. Mein Haushalt geht dich nichts an.“ Natürlich versuchte sie mich noch öfter davon zu überzeugen. Es sei in Ordnung, Hilfe anzunehmen. Ich wollte doch nur wieder allein sein. Die letzten Stunden des Sonntags für mich haben, bevor ich am nächsten Tag wieder arbeiten müsste.
Nach einer geschlagenen Stunde war sie gegangen. Endlich hatte ich wieder Zeit für mich, für das Buch, das mich aus meinen Gedanken zog.
„Wie geht’s dir?“, zeigte mein Handy die Nachricht meiner Freundin an. Ich würde ihr später schreiben. Was sollte ich ihr sagen? Meine Gedanken schildern, ihr erzählen, was in mir vorging? Ich warf das Handy wieder auf den Schreibtisch und nahm erneut das Buch in die Hand. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits fünf Uhr war. Nur noch wenige Stunden, dann würde ich wieder arbeiten müssen. Ich verdrängte den Gedanken, ließ mich auf mein Sofa sacken und begann abermals zu lesen.
Was ein Ende! Die Gedanken an meinen eigenen Tod waren wieder ganz weit in den Hintergrund gerückt, hinter eine angelehnte Tür in meinem Kopf; auf der Lauer, mich jeden Moment wieder in den Bann zu ziehen. Zwanzig Uhr. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Neben der Uhrzeit zeigte mein Handy einen entgangenen Anruf an. Scheinbar hatte ich im Eifer des Lesens nicht bemerkt, dass mein Handy vibriert hatte. Gerade als ich auf Rückruf tippen wollte, ging ein erneuter Anruf rein. Die Nummer kam mir bekannt vor. Oma.
„Hallo Timon“, sagte die Stimme am Telefon. Ihre Stimme klang belegt und aufgeregt, als hätte sie geweint.
„Hi Oma, was ist los?“
„Die Mama und der Papa sind tot.“
„Was?“ Aus der Ferne hörte ich sie noch weiterreden, doch ich hatte das Handy wieder absinken lassen. Ich legte auf. Die ein einzelnen Worte schwirrten mir durch den Kopf. Mama. Papa. Tot. Eine erneute Nachricht blinkte auf meinem Handy auf.
Timon!
Alles klar bei dir?
Warum antwortest du mir nicht?
Ruf mich mal an, wenn du das liest. Ich mach‘ mir Sorgen!
Wie betäubt stand ich von meinem Sofa auf und taumelte Schritt für Schritt zu meinem Schreibtisch. Das Handy fiel mir runter und das Display splitterte. Mein Haushalt geht dich nichts an. Meine Worte liefen in meinem Kopf Karussell. Und mit den Worten kamen die Gedanken wieder. Die angelehnte Tür brach wieder auf. Wie ferngesteuert lief ich in mein Schlafzimmer und beugte mich unter mein Bett. Es war noch da. Ich öffnete meinen Balkontür und ging an die frische Luft, blickte in die Tiefe. Vierter Stock. Wehmütig starrte ich in die Ferne. Von meinem Balkon aus konnte ich ganz weit sehen. Danach ging alles sehr schnell. Ich ging zurück in mein Zimmer, schon den Schreibtisch vor die Balkontür, sodass dieser den Durchgang versperrte. Das Seil befestigte ich an den Beinen des Schreibtisches. Schließlich setzte ich an meinen Schreibtisch, griff nach dem Kugelschreiber und verfasste meine letzten Worte: „Sie waren wieder da. Die Gedanken, die mich immer wieder quälten. Von denen ich …“