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Todesfluch
Der Todesfluch
Schon immer waren seltsame Dinge in Theklas Umgebung geschehen. Es gab Unglücke und unerklärliche Todesfälle. Vielleicht wurde Thekla deshalb von allen gemieden. Oder aber es lag an ihren stechendgrünen Augen, die jeden mit Unbehagen erfüllten, den sie ansah. Mehr als alle anderen aber fürchtete sich die Mutter vor ihrer eigenen Tochter. Aus Angst schwieg sie jedoch zu allem, was Thekla tat und sagte, und sprach zu niemandem über ihren dunklen Verdacht.
Der Vater hingegen wich keiner Auseinandersetzung mit Thekla aus. Und immer wieder reizte sie ihn bis aufs Blut. Der Mutter wurde es jedes Mal angst und bange, wenn sie sah, mit welchen Blicken Thekla ihren Vater maß. Verachtung, Abscheu, sogar Hass lagen darin.
Eines Abends entbrannte ein besonders heftiger Streit, weil Thekla sich weigerte, ihrer Mutter in der Küche zu helfen. Plötzlich schlug der Vater mit der Faust auf den Tisch. Augenblicklich herrschte Totenstille im Raum. Theklas Augen wurden starr und bekamen einen seltsam fiebrigen Glanz. Der Mutter liefen eisige Schauer über den Rücken. Thekla fixierte ihren Vater. Dann rollten ihre Augäpfel nach oben, so dass nur das rotgeäderte Weiße zu sehen war. Ganz kurz dauerte der Spuk. Dann blickten ihre grellgrünen Augen in dem bleichen Gesicht genauso mürrisch wie immer.
Noch in dieser Nacht stand das Herz des Vaters, der bis dahin vollkommen gesund gewesen war, plötzlich still.
Von da an vermied es die Mutter, ihrer Tochter in die Augen zu sehen. Sie war richtiggehend erleichtert, als Thekla ihr kurz darauf mitteilte, dass sie in eine andere Stadt ziehen würde. Sie hoffte inständig, ihre Tochter nie mehr im Leben wieder zu sehen.
In der Stadt führte Thekla geraume Zeit ein unauffälliges Leben. Nachts bewachte sie ein einsames Firmengelände, und tagsüber hielt sie sich meistens in ihrer Wohnung auf.
Eines Tages begegnete sie frühmorgens im Park einem jungen Mann mit kräftigen Armen, blonden Haaren und freundlichen hellen Augen, der eine unerklärliche, fast magische Anziehungskraft auf sie ausübte. Doch es war nicht Liebe, was sie fühlte, sondern Gier und maßlose, flammende, unersättliche Leidenschaft.
Auch der junge Mann verfiel ihr vom ersten Augenblick an. Doch begnügte er sich nicht mit dem, was sie ihm gab. Er wollte sie ganz, mit Leib und mit Seele. Es dauerte aber nicht lange, bis er begriff, dass er nicht mehr haben konnte als nur ihren Körper, und da trennte er sich schweren Herzens von ihr.
Theklas brennender, verzehrender Zorn trieb sie tief in den Wald hinein. Sie schlug um sich, schrie und tobte in der Einsamkeit des dunklen Tanns. Sie konnte es nicht ertragen, wollte es nicht hinnehmen, es durfte einfach nicht sein, dass er sich ihr widersetzte. Es gab nur eine Lösung: Sie musste ihm noch einmal in die Augen schauen. Ihre Entscheidung war gefallen. Langsam wurde sie ruhiger.
Am frühen Abend lauerte sie ihm vor seiner Tischlerwerkstatt auf und überredete ihn, noch einmal mit ihr in den Park zu gehen. Sie setzen sich auf die Bank, auf der sie ihren ersten glutheißen Kuss getauscht hatten. Die Farben um sie herum verloren bereits an Leuchtkraft. Feiner Nebel dampfte aus dem Boden. Der Wind frischte auf und Kälte kroch von allen Seiten auf sie zu.
Sie schwiegen. Es gab nichts mehr zu sagen.
Mit einer langsamen, fast genussvollen Bewegung strich sich Thekla ihre langen schwarzen Haare aus der Stirn. Dann krallten sich ihre eisigen Finger in seine Schultern. Mit fiebrig glänzenden Augen starrte sie ihn unverwandt an. Er hob seinen Blick und konnte ihn nicht mehr abwenden, konnte sich nicht rühren, kaum noch atmen, wurde starr vor ihr wie Beute vor einer Schlange, verharrte selbst dann noch, als er das blutgeäderte Weiße in ihren Augen sah und hörte, was sie zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hervorstieß: „Verflucht zum Tode sollst du sein!“
Als sie ihn endlich losließ, sprang er auf und rannte wie gehetzt davon, nur weg, weit weg von ihr. Er bemerkte nicht den rauchigen Dunst, der ihn umwehte und sich um seine Gestalt legte wie ein hauchfeiner Kapuzenmantel. Aber Thekla sah es, und ein böses Glitzern trat in ihre Augen.
Es war der Tod, der dem jungen Mann von da an auf Schritt und Tritt folgte. Er jagte ihn die einsamen, dunklen Parkwege entlang, er trieb ihn über befahrene Straßen, ließ starken Sturm aufkommen und sogar ein Gewitter aufziehen, doch wie durch ein Wunder entging der junge Mann allen Gefahren und erreichte sicher das alte Haus, in dem er lebte. Schnell schloss er die Tür hinter sich, so als ob er den unheimlichen Schatten spüren könnte, der ihn verfolgte.
Dem Tod ist es jedoch ein Leichtes, selbst dicke Mauern zu durchdringen. Düstere Schwaden umwaberten um den jungen Mann, als er die Treppen bis zu seiner Wohnung im obersten Stock hinaufeilte, und der Tod ließ ihn straucheln, aber der junge Mann war flink und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Erschöpft ließ er sich in einen Sessel fallen. Der Tod umklammerte sein Herz und drückte unbarmherzig zu, doch seine Beute war jung und gesund und widerstand ihm erneut.
Der Tod ist nicht allmächtig. Aber er gibt niemals auf, und immer erreicht er sein Ziel. Irgendwann.
Dem jungen Mann fielen die Augen zu. Er schlief tief und fest. Geduldig wartete der Tod in einer dunklen Zimmerecke. Er schlug nicht wieder zu. Noch nicht. Er hatte alles gerichtet. Nun da er wusste, wie sein Opfer umkommen würde, konnte er ruhig ausharren.
Spät in der Nacht blieb eine dunkle Gestalt vor dem alten Haus stehen und blickte nach oben. In der Dachwohnung brannte noch Licht. Lebte er oder war er schon tot? Thekla musste es wissen. sofort! Sie wusste, sie würde erst wieder Ruhe finden, wenn ihre Rache vollendet war.
Sie läutete. Es dauerte eine Weile, bis der junge Mann ihr verschlafen die Tür öffnete. Der Tod – ihr Freund, ihr Verbündeter – hatte ihn noch nicht besiegen können. Doch er war zugegen. Schon im Eingang spürte sie seine modrige Anwesenheit und den süßlichen Geruch von Fäulnis, der die Luft wie mit klebrigen Fäden durchzog.
Thekla wollte nicht mehr länger warten. Sie würde dem Tod helfen, und sie wusste auch schon, wie. Hier kannte sie sich schließlich besser aus als er.
„Geh bitte!“, sagte der junge Mann, aber Thekla beachtete es nicht. Entschlossen drängte sie sich in die Wohnung, folgte der staubigen Spur der Finsternis und fand den Tod in der Zimmerecke.
Der junge Mann blieb hinter ihr. Sie wandte sich um. Mit ihren grellgrünen Augen suchte sie seinen Blick.
„Spürst du ihn nicht, den Gestank von Verwesung, der in der Luft liegt?“
Der junge Mann sah an ihr vorbei und antwortete nicht.
„Geh mit mir auf den Balkon!“
Der junge Mann blickte stumm zu Boden.
Thekla öffnete die Balkontür und trat hinaus. „Komm!“, lockte sie. „Atme die frische Nachtluft mit mir!“
Doch der junge Mann rührte sich immer noch nicht.
„Hörst du denn nicht!“ Ungeduldig ging Thekla drei Schritte nach vorn. Sie hatte nicht vergessen, wie niedrig das Balkongitter war. Mit beiden Händen berührte sie das kalte Metall. Gleich würde er über dieses Geländer in sein Verderben stürzen.
Aber der junge Mann stand immer noch an derselben Stelle mitten im Zimmer.
Doch es gab etwas, was Thekla nicht wusste, nicht wissen konnte, weil der Tod seine Hände dabei im Spiel hatte. Nur ihm war bekannt, dass der alte Holzbalkon morsch war.
„Wo bleibst du denn?“ Zornig stampfte Thekla mit dem Fuß auf. Mit einem Mal umfloss der Tod sie, umgab sie fast wie ein schützender Mantel.
Knacken, Bersten, Splittern und Krachen erfüllten die Luft. Der Holzbalkon brach. Und mit ihm stürzte Thekla in die Tiefe.