Todesengel
Mein Schützling hatte einem Wutausbruch. Er beleidigte seine Mutter als 'Schlampe' und warf eine Vase, in der eine wunderschöne weiße Rose war, zu Boden. Diese Rose war so einsam, wie sie dort in dieser unbeweglichen, zerbrechlichen Hülle lag. Sie tat mir Leid. Ich hörte ihre Schreie, die für Menschen unerhört bleiben. Die Tränen dieser schönen, unschuldigen Rose waren Säure für mein Herz. Sie taten mir weh, und ich konnte den Jungen einfach nicht daran hindern die Blütenblätter der Rose abzureißen. Schließlich warf er sie auf den Boden. Ihre Schreie erloschen, dafür schrie ich.
Ich sorgte dafür, dass sein Herz auf die gleiche grausame weise zum Stillstand kam, wie das der Rose.
Danach wurde mir der Zutritt nach Hause verwehrt. Ab da war ich nicht länger ein Schutzengel. Ich wurde ein Todesengel.
„Kannst du dich nicht ein wenig beeilen, Leon?“, drängte ich ungeduldig und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Jaja, ich mach doch schon. Das Zeug ist schwer. Hilf' mir doch mal!“
Ich guckte ihn so zornig an, dass er zusammen zuckte, als hätte ich ihn einen elektrischen Schlag versetzt.
„Kommt gar nicht in Frage. Du bist hier schließlich der Helfer!“, blaffte ich.
„Na und? Das heißt nicht, dass du unfähig bist mir zu helfen.“ Er nahm tatsächlich all seinen Mut zusammen und widersprach mir. Auch wenn es nur ein Murmeln war, musste ich mich darauf konzentrieren nicht auszurasten.
Ich atmete tief ein und schloss die Augen. „Leon, natürlich bin ich nicht unfähig dir zu helfen.“ Meine Stimme war warm und beruhigend. Dann öffnete ich meine blutroten Augen wieder. „Dennoch hast du es nicht verdient, dass man dir hilft!“ Er wurde gegen die Steinmauer geschleudert und all seine Unterlagen fielen auf den Boden.
„Beeile dich, oder ich werde dir noch schlimmere Schmerzen zufügen.“
Leon murmelte etwas was sich anhörte wie: "Es gibt sowieso nichts schlimmeres als dich als Herrin zu haben." Für diese Frechheit bestrafte ich ihn nicht. Er hatte ja recht.
„Wen haben wir als nächsten?“, fragte ich, als er seine Papiere soweit zusammen gekramt hatte, dass er in meine Richtung kam.
„Einen Mann, achtundzwanzig Jahre alt. Sein Name ist Sam. Sam Howiet.“, las er von einem schwarzen Blatt ab.
„Und was hat er verbrochen?“, fragte ich gelangweilt.
„Ähm...“ Er zögerte und runzelte die Stirn. Ich guckte skeptisch zu ihm rüber.
„Was, 'ähm'? Kannst du jetzt nicht einmal mehr lesen? Gib mal her!“ Ich ging auf ihn zu und riss ihn das Blatt aus der Hand.
Ich überflog den Text. Er war langweilig. Informationen über seine Herkunft, Seine Kindheit, blablabla. Einfach langweilig. Aber sonst war da nichts. Kein Grund. Nur der Befehl ihn zu töten.
„Da steht nichts.“, murmelte ich verblüfft.
„Nein.“, bestätigte Leon.
„Warum sollte ich ihn dann umbringen? Er hat doch gar nichts getan.“
„Keine Ahnung. Vielleicht solltest du ihn mal kennen lernen, dich mit ihn anfreunden. Möglicherweise wissen wir dann, warum er auf dem schwarzen Papier steht.“
„Wenn du meinst. Wir haben sowieso nichts besseres vor. Und zurück will ich nicht gehen. Noch nicht.“
Ich schloss die Augen und wir flogen. Wenige Sekunden später saßen wir auf einer Bank in irgendeinem Park.
Da! Da vorne ist er. Siehst du ihn? Der braun haarige. Leon zeigte mental auf den Mann, der am Brunnen saß. Er war gut aussehend. Außerdem zeichnete er irgendwas.
Ich seufzte und ging auf ihn zu. Dann setzte ich sein süßes Lächeln auf und tat einen auf niedlich und naiv.
„Entschuldigung? Was zeichnen Sie da?“, fragte ich fröhlich und lächelte.
„Ähm... ich zeichne eine Rose. Die da vorne da.“ Er deutete mit den Augen auf die rote Rose die vor ihm auf dem Rand des Brunnens stand. Ich verglich sie mit der Zeichnung.
„Das sieht toll aus.“, sagte ich mit echter Begeisterung.
„Danke.“, sagte er
„Hätten Sie was dagegen, wenn ich dabei zu schauen würde, wie Sie zeichnen?“ Er zuckte die Achseln. Ich wertete das als 'ja'.
Die Art, wie er mit dem Bleistift über das Papier strich hypnotisierte mich. Es war faszinierend ihm zuzuschauen. Ich musste kein Interesse heucheln. Es interessierte mich tatsächlich.
Ab und zu sah er auf und ich lächelte ihn an. Seine Augen hatten eine merkwürdige Farbe. Ein durchdringendes grün. Sie waren wunderschön, wunderschön und traurig.
Es dauerte eine Stunde, bis er fertig wurde, dennoch wurde mir nicht langweilig. Und auch das lächeln musste ich nicht mehr schauspielern. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart.
„Das ist unglaublich.“, lobte ich ihn, als er fertig war. „Mehr als das, es ist unbeschreiblich, unerträglich wunderschön. Verkaufen Sie es mir?“
Er guckte mich ungläubig an. „Sie mögen es wirklich?“
„Ja, natürlich! Ich liebe es sogar.“ Ich lächelte. „Also, verkaufen Sie es mir?“
Er überlegte kurz. „Nein, ich werde es ihnen nicht für Geld verkaufen. Aber haben Sie irgendetwas zum Tauschen?“
„Tauschen? Hm... nein, denke nicht. Außer...“ ich kramte in meiner kleinen Handtasche herum. „Ha! Das hier.“ Ich hielt ihm eine kleine Panflöte hin.
„Sie wollen mir eine Panflöte gegen ein Bild geben?“ Er lachte. „Nein, aber... wenn Sie etwas darauf Spielen gebe ich Ihnen das Bild.“
Sam war weder gierig noch unfair. Er war sogar sehr sympathisch. Ich mochte ihn und es brauchte schon eine ganze Menge, dass ich jemanden mochte. Es brauchte sogar eine Menge, damit ich einen Menschen nicht hasste.
„Okay... aber ich bin nicht besonders gut. Also falls Sie Kopfschmerzen bekommen, dann sagen Sie mir Bescheid, in Ordnung?“
Er lachte und ich begann zu spielen.
Die Töne, die aus der Flöte kamen, waren beruhigend und entspannend. Sam schloss die Augen und atmete gleichmäßig und ruhig. Es war ein Liebeslied. Ein Liebeslied an den Tod. Er stellte ihn als Erlösung. Es war mein Lieblingslied und das ein zigste Lied, was ich spielen konnte. Als ich fertig war machte er überrascht die Augen auf.
„Das war wunderschön. Ich glaube nicht, dass dies ein fairer Tausch wäre, wenn ich Ihnen das Bild geben würde. Ich hab eine Idee, Sie kommen mit mir in meine Wohnung. Da sind noch mehr Bilder. Natürlich nur wenn sie wollen. Außerdem könnte ich Ihnen eine Hülle geben, sonst zerknittert das Bild noch.“ Er guckt mir zögerlich in die Augen. „Also, wollen Sie mitkommen?“
Mein lächeln wurde noch strahlender. „Klar! Wieso nicht?“
Der Weg zu seiner Wohnung war nicht weit. Wir redeten die ganze Zeit über Bücher und Musik und stellten fest, dass wir den gleichen Geschmack hatten. Ich musste gar nicht lügen, ich war wirklich glücklich und fröhlich bei ihm.
„Und über welches Thema denkst du am meisten nach?“, fragte er mich, nach dem wir unsere Lieblingsgesprächsthemen besprochen hatten. Das Siezen hatten wir schon lange aufgehört.
Ohne zu nach denken antwortete ich: „Über den Tod.“ Er zog die Augenbraue hoch.
„Wirklich? Das sieht dir gar nicht ähnlich. Du wirkst so glücklich und lebensfroh.“
„Hm.. kann sein. Aber ich finde nicht, dass der Tod ein so trauriges Thema ist. Eher...“, ich zögerte. Ich konnte ihm nicht sagen, wie der Tod war. Ich konnte ihm nicht erzählen, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte als zu sterben. Endlich loslassen zu dürfen. Konnte ihm nicht erzählen, dass ich, ein ehemaliger Engel, der mit so gut wie allen Wassern gewaschen war, Angst vor den unendlichen Qualen hatte, die der Tod einer Hexe mit sich brachte. Und vor allem konnte ich ihm nicht anvertrauen, was die einzige Möglichkeit für mich wäre, zu sterben.
Einen winzigen Augenblick lang erlaubte ich mir traurig zu sein, dann lächelte ich und wechselte schnell das Thema. „Worüber denkst du nach?“
Sam wich meinem Blick aus. Auch er lächelte, doch es sah gequält aus. „Selbstmord.“, antwortete er und guckte mir nun intensiv in die Augen. Ein seltsamer Schatten lag in seinem Blick.
„Selbstmord.“, wiederholte ich nachdenklich. „Das hört sich viel trauriger an als der Tod an sich. Dennoch nicht so schlimm wie Mord. Möchtest du mir sagen, warum du darüber nachdenkst?“
Er atmete tief ein und aus. „Ja. Später. Ich werde es dir zeigen.“
Ab da schwiegen wir bis zu seinem zu Hause.
Die Wohnung war klein, die Wände weiß, aber mit vielen Bildern dekoriert. Ich starrte jedes einzelne mindestens eine halbe Stunde an. Begutachtete es, bewunderte die Sargfälligkeit und die Leidenschaft, die in jedem Bild steckte. Sam machte uns, während ich seine Bilder bewunderte und sehr häufig lobte, einen Kaffee. Am Ende des Flurs war eine weiße Tür, an dem eines von Sams Bildern hing.
Dieses faszinierte mich am meisten.
„Gefällt es dir?“
Ich fuhr zusammen, als ich Sams leise Stimme hinter mir hörte. „Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Nein, ist schon okay, und hm.. um ehrlich zu sein weiß ich nicht, ob es mir gefällt. Es ist zu traurig. Es tut mir weh es zu sehen, aber auch nur, weil es so schön gezeichnet ist. So lebhaft. Als könnte ich das Kind berühren.“ Ich streckte die Hand aus, um das Gesicht des toten Mädchens zu betasten, doch Sam hielt meine Hand fest.
„Bitte nicht anfassen. Bitte.“ Seine Stimme zitterte von den Tränen in seinen grünen Augen. „Bitte.“
„Sam...“ Ich streckte meine Arme nach ihm aus. Doch dann hielt ich mich zurück. Schließlich war es immer noch mein Auftrag ihn zu töten.
„Das ist Sophie.“, sagte er. „Sie ist der Grund, warum ich sterben will.“ Den letzten Satz flüsterte er nur, dann brach er in Tränen aus.
Ich wollte ihn trösten, ihn umarmen, mit ihm weinen, doch stattdessen rannte ich aus seiner Wohnung.
Warum ich sterben will. Sterben will! Ich musste ihn töten. Dort in seiner Wohnung. Hätte ich ihn angefasst, wäre er gestorben. Es wäre so einfach. Doch ich konnte es nicht.
Ich rannte zurück in den Park, wo Leon auf mich wartete.
„Und wie is es gelaufen?“, erkundigte er sich.
„Beschissen.“
„Wie? Weißt du immer noch nicht, warum er sterben soll?“, fragte er ungläubig.
„HALT DIE KLAPPE VERDAMMT!“, fuhr ich ihn an. „Er soll nicht sterben. Er hat gar nichts getan! Er WILL sterben! Ich soll ihn ERMORDEN!“
„Aber... tust das sonst nicht auch? Du hast mich zum Beispiel ermordet.“, erinnerte er mich.
„Ja, und ich wurde ausreichend dafür bestraft, jetzt hab ich dich für den Rest meiner Existenz an der Backe. Aber drum geht’s nicht. Du hast etwas getan, wofür du es meiner Meinung nach verdient hast zu sterben. Du bist grausam. Doch er... Ich mag ihn! Er hat nichts getan! Sam leidet wegen den Verlust seiner Tochter. Ich werde ihn nicht noch mehr Schmerzen zufügen.“
„Aber... wenn du ihn nicht tötest...“
„Ja ich weiß, wann dann passiert. Ich hoffe, dass du dann auch endlich befreit wirst.“
Um Mitternacht war ich in seiner Wohnung. Ich hatte ein schwarzes Kleid angezogen. Meine braunen Haare lagen auf meinen Schultern. Meine roten Augen guckten liebevoll in seine Richtung.
Er lag in seinem Bett. Er schlief. Noch.
„Sam, wach auf.“, befahl ich.
Augenblicklich öffnete er die Augen, setzte sich auf und bemerkte, dass ich vor seinem Bett stand.
„Marie? Was machst du hier?“, fragte er schläfrig.
„Hör mir zu, Sam. Hör mir gut zu. Ich bin ein Todesengel und ich hatte den Auftrag dich zu töten, aber nicht, weil du von der Schuld eines Mordes befreit werden solltest, sondern von den Qualen des Verlust, doch das werde ich nicht zu lassen. Ich werde dich nicht töten. Mit meiner Weigerung schenkte ich dir die einmalige Chance auf ein neues Leben. Nutze sie. Lass meine Qualen bitte nicht umsonst sein.“
Ich verschwand nachdem ich zu Ende geredet hatte und für Sam war das ein Traum, doch es war viel mehr als das.
Meine Weigerung war mein Todesurteil.Und mein Tod bedeutete für ihn einen Neuanfang.
Am Tag nach diesem Traum kam die Polizei zu ihn nach Hause, weil seine Schwester, die er nie kennengelernt hat, gestorben war und ein kleines Baby zurückließ, welches von nun an zu Sam gehören würde.
Ich beobachtete ihn den ganzen Tag noch. Dann ging ich in den Park.
„Leon, es tut mir nicht leid dich getötet zu haben, doch du warst doch eine angenehmere Gesellschaft als ich gedacht habe. Ich wünsche mir, dass dein Fluch aufgehoben wird, sobald ist gestorben bin. Viel Glück, wünsche ich dir.“, sagte ich meinem ehemaligen Schützling.
Danach schloss ich die Augen und ließ mich vom Schmerz in eine endlose Tiefe zerren, ins helle Nichts.