Was ist neu

Tod

Mitglied
Beitritt
18.04.2010
Beiträge
18

Tod

Gesenkten Hauptes traten Stamm und Kisilewski vom offenen Grabe zurück.
„Er war ein guter Patient. Zu dumm, daß es so schnell mit ihm zu Ende gehen mußte“, sagte Dr. Stamm. Unter seinen Schuhen knirschte feuchter Kies.
„Wieder ein wacher Leser weniger, wirklich schade“, sagte der Autor Kisilewski und verkroch sich vor dem Nieselregen tiefer unter seiner Ballonmütze.
„Sag mir, Doktor, du Sachverständiger des Lebens“, flüsterte er in den nassen Dunst, „gibt es Hoffnung? Haben wir ein Leben nach dem Tode zu erwarten?“
Dr. Stamm schritt einher als fechte ihn der dünne Regen nicht an. Als sie den Hauptweg erreichten, schien sein Grübeln zu einem Schluß gekommen zu sein:
„Schau, lieber Dichter, du Kenner der menschlichen Seele, soeben mußten wir es doch erleben: Die Existenz des Individuums ist von begrenzter Dauer. Das Leben als solches hingegen hat relativ langen Bestand. Bestand - nein, das trifft es nicht ganz. Bewegung, ja, Bewegung ist das richtige Wort. Denn das macht ja das eigentliche Leben aus: alles in stetiger, chaotisch determinierter Bewegung, Fleuchen und Kreuchen, Altern und Gebären. Und du bist ein Teil davon, ein lebendiges Individuum.“
„Deiner Feststellung kann ich nicht widersprechen", unterbrach ihn Kisilewski enttäuscht, „aber das ist ein simpler Allgemeinplatz und keine Antwort auf meine Frage!“
„Aber deine Frage kann dir keiner beantworten - außer du selbst. Einzig und allein von dir selbst hängt es ab, ob deinem kärglichen Leben noch ein weiteres folgt.“
„Schäm dich was - das Fell schon vor der Zeremonie zu versaufen!“ entgegnete Kisilewski böse.
„Nicht doch, Waldemar, Freund - ich bin nüchtern wie am Ersten Tag. Paß auf, ich erklär's dir: Wenn du fest dran glaubst, dann gibt es selbstverständlich noch ein Leben. Es gibt alles, woran einer fest glaubt, jedenfalls für ihn selbst, einerlei, ob die anderen seinen Glauben teilen oder nicht. Und falls du nicht dran glaubst - ja dann braucht es logischerweise sowieso keins weiter zu geben. Ob du selbst deine Frage mit ja oder nein beantwortest, ist doch ohnehin nur wichtig für das Leben, das du jetzt gerade absolvierst. In einem nächsten - sei es als Frosch oder Storch, als Meier oder, Gott verhüte, wieder als Kisilewski - wirst du dich an dieses Leben, das du hier und heute führst, sowieso nicht mehr erinnern können. Oder erinnerst du dich vielleicht jetzt an ein früheres Leben?“
„Quatsch. Oder? Vielleicht doch - weiß ich, wovon ich manchmal träume?“
„Eben, du sagst es selbst: Du weißt es nicht! Und was wir wirklich nicht wissen können wegen unserer eigenen Begrenztheit als Individuum, das sollte uns schlicht kalt lassen - einfach aus praktischen Gründen. Aber wie du möchtest, keiner kann dich daran hindern: Du, der Dichter Waldemar Kisilewski, magst selbst entscheiden, ob du noch ein Leben haben möchtest oder lieber nicht. Solche Freiheit bietet dir dein Geist, den das Leben als Ganzes in dir kleinem Individuum hervorgebracht hat, stell dir das mal vor!“
Sie hatten mittlerweile das Friedhofstor passiert. Dr. Stamm öffnete seinen Wagen und hielt dem Freunde generös die Beifahrertür auf. Doch Kisilewski stieg nicht gleich ein sondern drehte sich noch einmal zur Pforte um. „Seltsam, Friedhöfe haben immer nur einen Eingang. Ich hab noch nie gesehen, daß auf einem von ihnen irgendwo ein Hinweisschild angebracht wäre mit der Aufschrift Ausgang.“
„Jaaa, das Auferstehungswunder kommt gemeinhin so selten vor, daß sich ein solcher Hinweis einfach nicht lohnt.“ Dr. Stamm plumpste hinters Lenkrad und zupfte Kisilewski am Ärmel, er möge sich doch endlich bequemen einzusteigen. Der Regen hatte zugenommen. „Übrigens", fuhr er fort und startete den Wagen, „was dich betrifft, mein Lieber, so bin ich fest davon überzeugt, daß du schon einmal gelebt haben mußt.“
„???“
„Unlängst las ich das Werk eines ziemlich bekannten russischen Schriftstellers aus dem vorigen Jahrhundert. Thema und Handlung wiesen eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit deinem neuesten Krimi auf.“
Kisilewski schlug die Beifahrertür zu und starrte zur Frontscheibe hinaus auf die glänzenden Pflastersteine. Sie fuhren nach Hause - ohne weitere Fragen.

 

>„Sag mir, Doktor, du Sachverständiger des Lebens“, flüsterte er in den nassen Dunst, „gibt es Hoffnung? Haben wir ein Leben nach dem Tode zu erwarten?“<, fragte der Arzt den Dichter.

Hallo dubiator und -
bei zehn Beiträgen ist's wohl nicht zu spät -
willkommen hierselbst vor Ort!

Ja, hier scheint derzeit ein Wettbewerb über Tod & Unsterblichkeit zu laufen und Deine Lösung - besser sag ich wohl: Dein Vorschlag ist da sicherlich nicht das Schlechteste. >„Seltsam, Friedhöfe haben immer nur einen Eingang. Ich hab noch nie gesehen, daß auf einem von ihnen irgendwo ein Hinweisschild angebracht wäre mit der Aufschrift Ausgang“< ist aber doch nur für Anhänger irgendwelchen Aberglaubens (und somit von diversen Arten von Zombies ob mit Flügeln oder Huf).

Auch eine altbekannte Definition der Zeit >Bestand - nein, das trifft es nicht ganz. Bewegung, ja, Bewegung ist das richtige Wort< denn die ist ja nix anderes als Bewegung und somit Veränderung - wie das Leben. Aber es gibt eh nix Neues unterm Himmelszelt (außer den technischen Weiterentwicklungen), worauf auch die Passage >„Unlängst las ich das Werk eines ziemlich bekannten russischen Schriftstellers aus dem vorigen Jahrhundert. Thema und Handlung wiesen eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit deinem neuesten Krimi auf“< hinweist. John Lennon drückte es sinngemäß so aus "Nothing you can say that isn't said" (was natürlich so nicht stimmt, heißt es doch in All You Need Is Love tatsächlich > Nothing you can say but you can learn how to play the game<).

Gleichwohl zwo kleine Hinweise der Kleinkrämerseele in mir:

ß - Schweizer Tastatur? I. d. R. müßte doppel s verwendet werden.

&

>„Schäm dich was - das Fell schon vor der Zeremonie zu versaufen!“KOMMA entgegnete Kisilewski böse.<

Gruß

Friedel

PS: Ärzte philosophieren idR nicht, was in diesem Fall am Gesprächspartner liegen mag. Im Krankenhaus sehen Gespräche etwa wie folgt aus: "Der Simulant von Zimmer 123 ist gerad gestorben", sagt der eine zum andern.
"Der musset auch immer übertreiben!"

 

Hallo Friedel,

vielen Dank für das Willkommen und dafür, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, Dich mit meiner Geschichte zu beschäftigen.
Dennoch ein paar Einwände meinerseits:
- Nicht der Arzt fragte den Dichter, sondern der Dichter den Arzt.
- Dass dem Doktor Kisilewskis Krimi bekannt vorkommt, liegt schlicht und einfach daran, dass letzterer bei dem besagten russischen Dichter (Puschkin?) geklaut hat.
- Seit man das daß mit ss schreiben soll, schreibt man es noch viel häufiger falsch, nämlich oft auch dann, wenn es nur mit s geschrieben werden darf. Daher meine Liebe zum althergebrachten ß. Kann mich aber bessern.
- Wird ein Satz hinter Ausführungszeichen der wörtlichen Rede fortgesetzt, folgt hinter den Ausführungszeichen nur dann ein Komma, wenn vor denselben kein Satzzeichen stand, also z. B.: "Komm her", rief Fritz. Aber: "Komm her!" rief Fritz. Wetten, dass...?
- Warum soll ein Arzt nicht auch mal philosophieren, zumal wenn ihm soeben ein einträglicher Patient abhanden gekommen ist? Was dabei rauskommt, sieht man ja an dieser Geschichte.

Herzlichen Gruß zurück

Dubi.

 

Hallo dubiator!

Oje, schon wieder eine Story über Tod und Jenseits, hab ich gedacht und mich lustlos ans Lesen gemacht.
Doch welch angenehme Überraschung. Mit dem, was sich die Beiden da auf dem Friedhof an den Kopf werfen, kann ich leben.
Wirklich lesenswert!

Für die Geschichte eigentlich nicht wichtig, möchte es aber dennoch erwähnen: Die Ansichten der Beiden ordne ich gefühlsmäßig umgekehrt zu. Der Doktor, eher bodenständig und praktisch, richtet die Frage nach der Hoffnung auf ein Jenseits an den Dichter und Denker.

Gruß

Asterix

 

Nun, da der Dichter und Denker sich in dieser Frage schon hoffnungslos verfitzt hat, fragt er halt mal den Doktor. Und sind dessen Antworten etwa nicht praktisch?
Danke, Asterix, freut mich, dass es Dir gefällt.

Beste Grüße

Dubi.

 

Nix zu danken,

lieber dubiator,

und die Mühe wurd durch die solide erzählte Geschichte, eigentlich mehr ein Dialog aufgewogen. Schade, dass ich nicht zum anschließenden Kaffeklatsch (hier heißt das Totenessen "Raue") geladen wurde, gehts doch da oft lustig zu.

Zu den Einwänden: >Nicht der Arzt fragte den Dichter, sondern der Dichter den Arzt.< Na, da behaupt ich doch einfach, Asterix vorweggenommen zu haben. Aber vom Text her hastu natürlich recht.

>Dass dem Doktor Kisilewskis Krimi bekannt vorkommt, liegt schlicht und einfach daran, dass letzterer bei dem besagten russischen Dichter (Puschkin?) geklaut hat.< Das mit dem Plagiieren ist vor Leipzig wieder hochgespült worden, und dass der Dichter klaut - wer will es ihm verübeln, kennen die meisten doch Puschkin nur als Wodka.

>Seit man das daß mit ss schreiben soll, schreibt man es noch viel häufiger falsch, nämlich oft auch dann, wenn es nur mit s geschrieben werden darf<, ist korrekt. Wer vorher nicht daß vom das unterscheiden konnte, kanns heute mit das(s) genauso wenig. Immerhin ist das ß nicht wegreformiert worden. Du wirst auch an anderer Stelle sehn, dass nicht jeder der Reform folgt. Wichtig ist allein, dass man weiß, was der andere sagt. Darum bräuchtestu Dich auch nicht zu bessern. Bist gut genug ... Hoff ich doch ...

>Wird ein Satz hinter Ausführungszeichen der wörtlichen Rede fortgesetzt, folgt hinter den Ausführungszeichen nur dann ein Komma, wenn vor denselben kein Satzzeichen stand, also z. B.: "Komm her", rief Fritz. Aber: "Komm her!" rief Fritz. Wetten, dass...?< Das wäre ein leicht gewonnene Wette, denn da haben die Reformatoren voll zugeschlagen. Deine Aufführungen galten vor der Reformation, jetzt gilt (siehe Duden Bd. 1, K wat weiß ich in der Einleitung und die Ausführungen §§ xx im Anhang). "Komm her", rief F. gilt noch immer, aber neu ist "Komm her!", rief F. wie auch "Kannstu kommen?", fragte F. Ich nehm leider äußerst selten den Duden mit ins Internetcafé ...

>Warum soll ein Arzt nicht auch mal philosophieren, zumal wenn ihm soeben ein einträglicher Patient abhanden gekommen ist?< Ja, so sind die Geschäftsleute allzumal.

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel,

Mann, machst Du Dir 'ne Mühe um meine bedeutungsarme Geschichte. Danke Dir.
Ich mach ja gerne allerlei Reformen mit, aber bei den Kommata, besonders im Zusammenhang mit der wörtlichen Rede, bleib ich einfach mal stur beim Alten.
(Finde übrigens auch in neueren belletristischen Werken ausnahmslos meine - wohl veraltete - Variante. Bsp.: Uwe Tellkamp: Der Turm, Taschenbuch, Ausg. 2010)

Beste Grüße

Dubi.

 

Hallo dubiator,

eine unterhaltende Geschichte mit Hintersinn und etwas Humor:
„In einem nächsten - sei es als Frosch oder Storch, als Meier oder, Gott verhüte, wieder als Kisilewski - wirst du dich an dieses Leben, das du hier und heute führst, sowieso nicht mehr erinnern können“

„Friedhöfe haben immer nur einen Eingang. Ich hab noch nie gesehen, daß auf einem von ihnen irgendwo ein Hinweisschild angebracht wäre mit der Aufschrift Ausgang.“
„Jaaa, das Auferstehungswunder kommt gemeinhin so selten vor, daß sich ein solcher Hinweis einfach nicht lohnt.“

Am Schluß wird der Schriftsteller in eine Zwickmühle gebracht – ein schöner Einfall.

Natürlich ist es schwer, über diese Thematik etwas zu sagen, doch du verpackst das ganz gut:

„Es gibt alles, woran einer fest glaubt, jedenfalls für ihn selbst, einerlei, ob die anderen seinen Glauben teilen oder nicht. Und falls du nicht dran glaubst - ja dann braucht es logischerweise sowieso keins weiter zu geben“

„Oder erinnerst du dich vielleicht jetzt an ein früheres Leben?“

Das kann man selbstverständlich bezweifeln: Eingebildete Gesundheit eines Kranken rettet ihn meist nicht – wenn man nicht an ein weiteres Leben glaubt, bedeutet es nicht, dass es keins gibt (da man nicht weiß, ob das jetzige Leben das erste ist, ist das ‚Erinnerungsargument‘ auch nicht stichhaltig).

„Und was wir wirklich nicht wissen können wegen unserer eigenen Begrenztheit als Individuum, das sollte uns schlicht kalt lassen - einfach aus praktischen Gründen“

Wir wissen nichts über den Tod, er sollte (vielleicht) aber er kann uns schlecht kalt lassen. Ein altes Problem, an dem sich Philosophie (Epikur: Der Tod geht mich eigentlich nichts an, denn wenn er ist, bin ich nicht mehr, und solange ich bin, ist er nicht) und Religion die Zähne ausbeißen.


Hier noch eine kleine Satzkritik:

„Dr. Stamm schritt einher als fechte ihn der dünne Regen nicht an. Als sie den Hauptweg erreichten, schien sein Grübeln zu einem Schluß gekommen zu sein:“

Eigentlich erwarte ich, dass dünner Regen ihn nicht anfechtet (starker Regen später schon).

Weiß nicht, ob du wirklich ausdrücken willst, dass ein ihm zugehöriges Grübeln Schlüsse zieht?

Woltochinon

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom