Tod
Gesenkten Hauptes traten Stamm und Kisilewski vom offenen Grabe zurück.
„Er war ein guter Patient. Zu dumm, daß es so schnell mit ihm zu Ende gehen mußte“, sagte Dr. Stamm. Unter seinen Schuhen knirschte feuchter Kies.
„Wieder ein wacher Leser weniger, wirklich schade“, sagte der Autor Kisilewski und verkroch sich vor dem Nieselregen tiefer unter seiner Ballonmütze.
„Sag mir, Doktor, du Sachverständiger des Lebens“, flüsterte er in den nassen Dunst, „gibt es Hoffnung? Haben wir ein Leben nach dem Tode zu erwarten?“
Dr. Stamm schritt einher als fechte ihn der dünne Regen nicht an. Als sie den Hauptweg erreichten, schien sein Grübeln zu einem Schluß gekommen zu sein:
„Schau, lieber Dichter, du Kenner der menschlichen Seele, soeben mußten wir es doch erleben: Die Existenz des Individuums ist von begrenzter Dauer. Das Leben als solches hingegen hat relativ langen Bestand. Bestand - nein, das trifft es nicht ganz. Bewegung, ja, Bewegung ist das richtige Wort. Denn das macht ja das eigentliche Leben aus: alles in stetiger, chaotisch determinierter Bewegung, Fleuchen und Kreuchen, Altern und Gebären. Und du bist ein Teil davon, ein lebendiges Individuum.“
„Deiner Feststellung kann ich nicht widersprechen", unterbrach ihn Kisilewski enttäuscht, „aber das ist ein simpler Allgemeinplatz und keine Antwort auf meine Frage!“
„Aber deine Frage kann dir keiner beantworten - außer du selbst. Einzig und allein von dir selbst hängt es ab, ob deinem kärglichen Leben noch ein weiteres folgt.“
„Schäm dich was - das Fell schon vor der Zeremonie zu versaufen!“ entgegnete Kisilewski böse.
„Nicht doch, Waldemar, Freund - ich bin nüchtern wie am Ersten Tag. Paß auf, ich erklär's dir: Wenn du fest dran glaubst, dann gibt es selbstverständlich noch ein Leben. Es gibt alles, woran einer fest glaubt, jedenfalls für ihn selbst, einerlei, ob die anderen seinen Glauben teilen oder nicht. Und falls du nicht dran glaubst - ja dann braucht es logischerweise sowieso keins weiter zu geben. Ob du selbst deine Frage mit ja oder nein beantwortest, ist doch ohnehin nur wichtig für das Leben, das du jetzt gerade absolvierst. In einem nächsten - sei es als Frosch oder Storch, als Meier oder, Gott verhüte, wieder als Kisilewski - wirst du dich an dieses Leben, das du hier und heute führst, sowieso nicht mehr erinnern können. Oder erinnerst du dich vielleicht jetzt an ein früheres Leben?“
„Quatsch. Oder? Vielleicht doch - weiß ich, wovon ich manchmal träume?“
„Eben, du sagst es selbst: Du weißt es nicht! Und was wir wirklich nicht wissen können wegen unserer eigenen Begrenztheit als Individuum, das sollte uns schlicht kalt lassen - einfach aus praktischen Gründen. Aber wie du möchtest, keiner kann dich daran hindern: Du, der Dichter Waldemar Kisilewski, magst selbst entscheiden, ob du noch ein Leben haben möchtest oder lieber nicht. Solche Freiheit bietet dir dein Geist, den das Leben als Ganzes in dir kleinem Individuum hervorgebracht hat, stell dir das mal vor!“
Sie hatten mittlerweile das Friedhofstor passiert. Dr. Stamm öffnete seinen Wagen und hielt dem Freunde generös die Beifahrertür auf. Doch Kisilewski stieg nicht gleich ein sondern drehte sich noch einmal zur Pforte um. „Seltsam, Friedhöfe haben immer nur einen Eingang. Ich hab noch nie gesehen, daß auf einem von ihnen irgendwo ein Hinweisschild angebracht wäre mit der Aufschrift Ausgang.“
„Jaaa, das Auferstehungswunder kommt gemeinhin so selten vor, daß sich ein solcher Hinweis einfach nicht lohnt.“ Dr. Stamm plumpste hinters Lenkrad und zupfte Kisilewski am Ärmel, er möge sich doch endlich bequemen einzusteigen. Der Regen hatte zugenommen. „Übrigens", fuhr er fort und startete den Wagen, „was dich betrifft, mein Lieber, so bin ich fest davon überzeugt, daß du schon einmal gelebt haben mußt.“
„???“
„Unlängst las ich das Werk eines ziemlich bekannten russischen Schriftstellers aus dem vorigen Jahrhundert. Thema und Handlung wiesen eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit deinem neuesten Krimi auf.“
Kisilewski schlug die Beifahrertür zu und starrte zur Frontscheibe hinaus auf die glänzenden Pflastersteine. Sie fuhren nach Hause - ohne weitere Fragen.