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Tod, Trauer und Treue
Er betrat den Friedhof langsamen Schrittes, wohl wissend, dass sie da sein würde. Er blickte auf die rote Mohnblume, welche er mitgebracht hatte. Die Trauer hatte die junge Frau fest in der Hand. Trotzdem durfte er sie jetzt auf keinen Fall allein lassen. Das wäre der Untergang, für beide.
Leo schaute in den Himmel, während er die scheinbar endlosen Reihen an Grabsteinen entlangging. Sah nach Regen aus. Das fand er irgendwie passend. Sein schwarzer Mantel wehte im Wind während er nach der, zwischen einer Reihe kahlen Bäumen versteckten Treppe suchte, die zu dem Grab führte, an dem sie stehen würde. Niemand war in Sichtweite, es war als ob der Friedhof selbst gestorben wäre. Das einzige Geräusch, neben dem beständigen kreischen der Krähen, waren die Schritte auf dem harten Beton, welche Leo machte.
So viele Tote waren hier versammelt. Jeder Mensch hat seine Geschichte und hier war das Ende all jener. Egal wie reich oder arm jemand war, egal wie berühmt oder unbekannt. Der Tod sieht nur Menschen, er macht keinen Unterschied.
„Ein unbestechlicher Richter“, murmelte Leo, „wie es sein sollte.“
Gedanken an seine tote Oma schossen ihm durch den Kopf, als er die Treppe erreichte, an der er um ein Haar vorbeigelaufen wäre.
Obwohl er fest entschlossen war, zögerte Leo dennoch auf die erste Stufe zu treten. Für einen Moment stand er ganz still, wie eine einsame Statue in einer verlassenen Burgruine. Von Geistern der Vergangenheit umgeben.
Ob er, Leo, es schaffen konnte sie zu trösten? Ihre letzte Begegnung war nicht sehr erfolgreich verlaufen. Doch so leicht wollte er sie nicht aufgeben. Ein letzter Versuch. Alle seine Hoffnungen lagen auf dieser Unterhaltung. Womöglich war es ihre letzte. In dieser letzten Unterhaltung würde er allerdings alles geben, egal was sie danach über ihn dachte. Wenn er nicht zu ihr durchdrang, hatte dies ohnehin keine Bedeutung mehr.
Ein Gefühl der Aufregung machte sich in seinem Magen breit, es war gemischt mit Hoffnung und Angst. Eine schreckliche Mischung. Leo schloss die Augen, atmete tief ein, hielt die Luft ein wenig und atmete wieder aus. Nachdem er die Augen wieder aufgemacht hatte, nahm er die erste Stufe. Ein Krieger, der zu seiner letzten Schlacht antrat, hätte sich wohl nicht anders gefühlt. Der einzige Unterschied war, dass der Soldat kalten Stahl statt einer Blume zur Hand gehabt hätte.
Als er von der letzten Stufe der Treppe trat, umfasste Leo zärtlich die Blüte der Mohnblume und atmete noch einmal tief durch, dann drehte er sich nach links.
Dort war sie. Anna, die womöglich schönste Frau, die er jemals sehen würde. Sie kniete vor einem Grab, wie ein Engel, der gerade voll und ganz im Gebet versunken war. Ihr langes braunes Haar viel in ihr rundes Gesicht. Er hörte das Schluchzen bis zu seiner Position. Für Leo war es kaum zu ertragen. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung.
Zu bemerken schien Anna ihn nicht. Sie direkt anzusprechen wäre, unter normalen Umständen, sehr unklug gewesen. Wenn er aus Erfahrung etwas wusste, dann dass sie es hasste vor anderen schwach zu erscheinen. Sie würde wütend werden. Trotzdem, er hatte keine Wahl!
Leo stellte sich vor das Familiengrab Gerber, welches neben dem Familiengrab, vor dem Anna kniete, lag. Das Grab, in dem jetzt auch ihr Opa lag. Die beiden hatten sich sehr nahe gestanden. Das Grab war mit vielen Blumen, darunter einigen Chrysanthemen, geschmückt, zudem leuchtete eine kleine Kerze vor den Pflanzen.
Ohne es zu wollen, bewegte sich seine Hand, wie von selbst, zur Schulter von Anna. Die Trauernde schlug die Hand sofort weg. Sie wischte sich ihre Tränen aus den geröteten Augen. Ihre vor Wut glühenden Augen erinnerten eher an einen Dämon als an einen Engel.
„Was willst du hier? Ich habe doch gesagt, dass ich nichts mehr von dir hören will!“
Leo hatte sich so viel zurechtgelegt, dass er Anna sagen wollte, doch nun, als er die Gelegenheit dazu hatte, war alles wie weggewischt. Um nicht so verwirrt auszusehen wie er sich gerade fühlte, sagte er einfach das Erste, das ihm in den Sinn kam.
„Hast du mal Feuer?“
„Du willst jetzt eine Zigarette rauchen?“ Die Ungläubigkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Du weißt, dass ich nicht rauche.“
Ohne weiter nachzufragen stand Anna auf. Sichtlich irritiert über diese Bitte, zog sie ein kleines silbernes Feuerzeug aus der Tasche ihrer alten grauen Regenjacke. Das Feuerzeug fühlte sich eiskalt an, die Initialen ihres toten Großvaters waren auf der länglichen Seite eingekerbt.
Leo kniete sich vor das Familiengrab der Gerbers, legte seine Blume auf die Seite und zündete die kleine grüne Kerze dort an. Vier Leute waren dort begraben. Danach blickte Leo Anna fest in ihre Augen. Sie wich dem Blick aus.
„Wusstest du, dass Gerber der Mädchenname meiner Mutter war?“
Jetzt wirkte sie ziemlich verwirrt.
„D-das hast du mir nie erzählt.“
„Kein Wunder, der Name starb mit meiner Oma.“ Die Erinnerung an seine Großmutter schmerzte Leo nach all der Zeit immer noch. Er stand auf, griff sich die Blume und gab Anna das Feuerzeug wieder.
„Komisch wie uns sogar der Tod verbindet, oder?“
„Also war es ein Zufall, dass du hier hergekommen bist?“
Leo schüttelte langsam seinen Kopf.
„Dann geh wieder, ich will nicht mit dir reden.“
„Gleich. Davor möchte ich dir noch etwas sagen.“
„Mach schnell.“ unverhüllte Wut lag in ihrer Stimme,
„Und dann verschwinde.“
Der Ton in dem sie das sagte, war verletzender als jede Beleidigung, die aus ihrem Mund hätte kommen können.
„Ich weiß, es ist schmerzhaft wenn ein geliebter Mensch stirbt, aber dein Opa hatte eine Familie, eine Frau die er liebte, ebenso wie seine Kinder und seine einzige Enkelin.“
„Was hat es ihm gebracht?“ Annas Stimme hatte sich geändert die Wut war zwar noch spürbar, wich aber langsam wieder der Trauer um ihren Verlust.
„Glück.“, Leo guckte auf den Boden, „Dein Opa konnte vieles davon bis zum Schluss genießen. Du musstest nicht miterleben, wie er immer mehr auf einen unaufhaltsamen Abgrund zuraste.“
„Du-Du weißt doch gar nichts!“ es war mehr ein zischen aus ihrem Mund. Tränen standen in ihren moosgrünen Augen.
Gar nichts. Die Worte klangen wie ein Echo in seinem Kopf nach. Gar nichts. Das dachte sie also. Trauer hin oder her, Anna sollte überlegen was sie sagte bevor sie es tat. Als ob sie die Einzige wäre, der etwas schlimmes im Leben passiert wäre.
„Schon mal erlebt, wie eine Person nach und nach ihre Vernunft verliert? Hat dein Opa dich schon mal nicht mehr erkannt?“, die Wut hatte Leo gepackt, „Dein Opa musste nicht von einer verdammten Pflegekraft gefüttert werden!“
Anna sah ihn geschockt an. Das Dämonische in ihren Augen war verschwunden. Noch nie hatte er in ihrer Gegenwart so die Beherrschung verloren.
„Entschuldigung.“
Leo wandte sich gerade zum gehen, als Anna die Fassung wiedergewann.
„Wer von ihnen ist so gestorben?“ Sie zeigte auf das Grab seiner Familie.
Einen Augenblick spielte Leo mit dem Gedanken einfach wegzugehen, besann sich aber eines besseren.
„Alle.“
Beide wussten, was das bedeuteten konnte.
„Also kann es sein, dass du...“ Den Satz konnte sie nicht mehr vervollständigen.
„Das Risiko ist da, ja.“ Er schaute ihr wieder in die Augen, diesmal erwiderte sie den Blick. In ihren großen grünen Augen spiegelte sich unendliche Trauer wieder, die seinen Zorn auf der Stelle verrauchen ließ. Dieser Blick erinnerte Leo wieder daran, weshalb er gekommen war.
„Man darf sich davon trotzdem nicht verunsichern lassen. Ich meine es kann genauso gut sein, dass ich ein gesundes Leben führe. Und ohnehin, allzu bald würde das sowieso nicht passieren.“
„Aber es war doch sicher schlimm zu sehen wie deine Großeltern.. du weißt schon.“
„Dieses Gefühl wünsche ich wirklich niemandem.“
Jetzt waren die beiden auf Augenhöhe, Anna hatte auch seinen Schmerz anerkannt. Eine Weile standen sie einfach nur herum, vor den Gräbern einstmals geliebter Menschen, dann ergriff Leo erneut das Wort.
„Ich weiß dein Opa hätte nicht gewollt, dass du nur noch Trübsal bläst. Niemand würde das Leben eines Nahestehenden mit seinem Tod zerstören wollen.“
„Meinst du etwa ich soll nicht mehr Trauern?“
„Nein, das meine ich nicht. Trauere, aber versinke nicht darin. Du sollst den Tod als Teil des Lebens akzeptieren. Alles muss eines Tages enden. Dann wird es leichter zu ertragen“
Nun überreichte Leo ihr die rote Mohnblume. Anna fing an zu weinen.
„Ich vermisse ihn doch so!“ schluchzte sie.
Leo trat auf sie zu. Er konnte nicht anders als die trauernde Schönheit, die vor ihm stand, zu umarmen. Dieses Mal wehrte sich Anna nicht dagegen. Es war ein schöner Moment, für beide.
Nach einer Weile ließ er sie wieder los.
„Ich lasse dich jetzt wieder allein, aber du kannst jederzeit zu mir kommen und denk bitte daran, schau immer vorwärts.“
Als er sich diesmal umwandte hielt sie ihn nicht davon ab. Wie er gekommen war, ging er auch langsamen Schrittes wieder. Das was ihn am meisten erstaunte folgte jedoch unmittelbar.
„Danke, Leo.“ Es war zwar nur geflüstert, doch er hörte es.
An der Treppe blieb er stehen und sprach mit einem Lächeln auf den Lippen die Worte, an die Anna sich für alle Ewigkeit erinnern sollte.
„Ich bin immer für dich da, ob du willst oder nicht.“
Mit diesem Satz verließ er den Friedhof.
Der Schmerz würde nicht sofort verschwinden, bei allem was er gesagt hatte wusste Leo das doch sehr gut. Auch die Mohnblume würde bald verwelkt sein.
Schmerz gehört zum Leben dazu, auch dieses Gefühl macht einen Menschen aus. Wichtig ist nur sich davon nicht auffressen zu lassen.
Leo hoffte nur, dass es ihm zumindest ein bisschen gelungen war Anna dies klar zu machen.