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Tod in Schwarz und Gold
Ich betrete das Krankenzimmer. Mein Vater sitzt auf dem gelb überzogenen Bett, haarlos. Ausgerechnet die Haare. Sein Vater hatte schwarzes Haar, bis er mit fast neunzig Jahren starb. Ich mag ihn mit der Glatze. Sie passt zu seinen hellblauen Augen, die immer irgendwo weit in der Ferne zu verweilen scheinen. Ich wusste nicht, dass sein Kopf so rund ist. Sein Gesicht strahlt soviel Güte aus, soviel Selbtverleugnung. Als ich zu seinem Bett gehe, nehme ich den Mann in der Ecke wahr. Welch furchtbarer Ton kommt aus seinem weit offen stehenden Mund. Die Augen sind nach oben gedreht, nur das Weiße ist sichtbar. Das Stöhnen kommt mit jedem rasselnden Atemstoß. Ich begrüße meinen Vater, meine Mutter, die an seinem Bett sitzt. Wie grau sind ihre Haare geworden. Ihre Schönheit, auf die sie immer sehr stolz war, ist den Spuren von Verbitterung gewichen. Wieder dieses langanhaltende, rasslende Atmen. Ich kann kaum den Blick von dem Mann wenden.
Mein Vater zeigt mir die Ohrstöpsel die er für die Nacht bekommen hat. Vielleicht kann er damit schlafen, hört er den befremdenden Ton, seines Nachbarn nicht. Vielleicht wird er gar nicht mehr die ganze Nacht da sein, meine ich. Sehe in das gelblichweiße Gesicht, die schwarzen Bartstoppeln. Mutter sagt, er ist erst fünfundvierzig Jahre alt. Mein Alter, geboren 1958. Papa meint, wir sollten vielleicht auf einen Kaffee in das kleine Anstaltscafe gehen. Irgendwie sind wir alle drei unentschlossen. Eigentlich komme ich immer vormittags von meiner Dienststelle herüber. Heute hab ich aus unerfindlichem Grund vergessen. Bin aufgesprungen von der Arbeit und erst nachmittags zum Pavillon 23 gegangen. Das ist noch nie passiert, nur heute. Mama meint, dass der Mann große Schmerzen haben muss. Nein, ich denke, er nimmt hier nichts mehr wahr. Meine Eltern und ich beginnen zu plaudern, wie an jedem anderen Besuchstag. Aber die Stimmung ist gedrückt. Noch gedrückter als sonst.
Die Pausen zwischen dem Röcheln dauern länger an. Vielleicht beruhigt sich ja jetzt die Amtung, sage ich. Papa ist nervös. Er sieht von seinem Bett aus nur die zugedeckten Beine des Mannes. Ich blicke in sein Gesicht. Wieder reden wir über Belangloses. Ein Radio hat ihm Mama mitgebracht. Das Röcheln wird noch stiller, die Pause auffallend lang. Papa sieht mich an. So als hätte ich die Verantwortung hier im Raum. Irgendwie war es immer so gewesen. Ich stehe auf, geh zum dem Bett des Mannes. Seine Lippen haben eine völlig weiße Farbe. Der Mund ist weit aufgerissen und ich blicke in eine tiefschwarze Höhle. Wieviele Bartstoppeln der Mann hat, denke ich wieder. Dann fällt mein Blick hinauf zu den Augen. Sie sind nicht mehr weiß und nach oben gedreht. Sie starren geradeaus. Einmal noch sehe ich einen Schluckmechanismus auf seinem hervorstehenden Adamsapfel. Dann brechen die Augen. Ich wusste nicht, dass man das wirklich sieht. Sie haben keinen Glanz mehr, sondern verschwimmen hinter einem Schleier.
Ich gehe die Schwester holen. Ich glaube, er hat aufgegeben, sage ich zu ihr. Sie fühlt an der Halsschlagader und sagt, ja. Wir gehen in die Cafetaria. Irgendwie scheinen wir alle drei seltsam entfernt zu sein. Dennoch wirkt alles so klar und real. Wie gehst du um damit, Papa? Ja, eh, sagt er. Ich verabschiede mich bald darauf und beende meinen Büroalltag. Beim Heimkommen sieht mich meine Tochter seltsam an. Ich sah heute Nachmittag einen Mann sterben, sage ich Vielleicht wirke ich deshalb etwas komisch. Ich erzähle ihr kurz davon. Dann essen wir und ich bin recht froh, dass sie sich mit Freunden trifft, lebt.
Eine gemalte Blumenwiese steht auf der Bar in meiner Küche. Dort isst nie jemand, also male ich dort. Ich nehme einen Pinsel. Es ist das Gesicht des Toten, welches ich rechts in das Bild male. Es kostet mich unwahrscheinliche Anstrengung, halbwegs den schräg aufgerissenen Mund, die Rundung des Kopfes zu formen. Ich male viel Schwarz und Goldgelb. Meine Farben vom Tod. Warum kam ich ausgerechnet heute, genau in diesen Minuten, in das Zimmer meines Vaters. War es eine Generalprobe, um seinen Tod ertragen zu können? Als ich die gebrochenen Augen male, beginne ich furchtbar zu zittern, ich schluchze trocken auf. Weinen kann ich nicht.