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Tod eines Kritikers

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10.07.2002
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Tod eines Kritikers

Die Tür flog auf, Ralf Nagel stürmte wie ein Irrwisch in die Galerie, und das bis dahin an der Decke hängende Glockenspiel verabschiedete sich mit einem Misston aus seiner Halterung und knallte dem auf der Leiter stehenden Marcus Wonnemeier in den Rücken.
Erschrocken drehte der sich um. Nagel hatte inzwischen die Leiter erreicht und wedelte mit der Zeitung vor Wonnemeiers Gesicht.
„Hach, hast du mich erschreckt. Ich wäre ja fast zu Tode gestürzt“, säuselte Marcus Wonnemeier.
„Aus zwanzig Zentimeter Höhe? Das wäre Weltrekord. Hast du gelesen, was dieser Schmierfink wieder abgesondert hat?“
„Zumindest hätte ich mir blaue Flecken geholt. Und Blau steht mir ü-b-e-r-h-a-u-p-t nicht.“ Vorsichtig stieg Wonnemeier die zwei Stufen hinunter.

Nagel stampfte in die kleine Küche hinter dem Verkaufstresen und breitete die Zeitung auf einem Tisch aus. Das er dabei einen Aschenbecher vom Tisch fegte, störte ihn nicht. Hektisch fetzte er zwischen den einzelnen Seiten hin und her, bevor er schließlich seinen rechten Zeigefinger wie eine Stubenfliege auf LSD über einem Artikel kreisen ließ. Als Wonnemeier endlich neben ihm stand, stieß die Fliege auf die Zeitung herab.

„Hier, ich zitiere: ‚.“Wie lange wollen wir uns noch von Dilettanten täuschen lassen? Von Leo Fuchs.

Der Mainzer Künstler Ralf Nagel, von Einzelnen schon als die Rettung der Modernen angekündigt, will seine Werke im Rahmen einer Ausstellung in der Galerie Wonnemeier einem größeren Publikum präsentieren. Bisher hatten nur ausgewählte Freunde und Kunstkritiker Zugang zu Nagels Atelier.

Weil die was davon verstehen. Gib mir mal ´ne Zigarette. Weiter:

Auch dem Feuilleton-Chef dieser Zeitung - damit meint der sich - war es bis zu seinem ersten kritischen Artikel über die sogenannte Kunst Nagels gestattet, das Atelier zu besuchen. Scheinbar hält der Meister jedoch nichts von Widerspruch. Empfindlicher noch als eine Primadonna belegt er jeden, der es wagt, sich kritisch über ihn zu äußern, mit einem Bann.

Was heißt hier Bann? Rausgeschmissen hab ich diesen Kretin.

Nun jedoch plant Nagel eine Ausstellung seines Gesamtwerkes. Das kann soviel nicht sein, benötigt Nagel doch mehrere Jahre um eines seiner monströsen Bilder fertig zu stellen. Wie uns Galerist Wonnemeier mitteilte, sieht Nagel die Zeit gekommen, dem staunenden Publikum die Erneuerung der Postmoderne vor Augen zu führen.

Und so weiter und so fort. Hast du wirklich mit diesem Sudeljournalisten geredet?“
Schuldbewusst sah Wonnemeier zu Boden.
„Mein Aschenbecher. Du Verbrecher. Den hat mir Beuys persönlich geschenkt“, jammerte er und ging vorsichtig in die Knie.
„Scheiß auf Beuys! Hast du oder hast du nicht?“
Wonnemeier untersuchte den Aschenbecher auf Risse und stellte ihn dann vorsichtig auf der Küchentheke ab.
„Mach dir doch nix aus diesem Geschreibsel. Morgen ist Ausstellungseröffnung. Das Publikum reißt sich darum, endlich einen echten Nagel zu sehen.“
„Ich scheiß auf das Publikum, ich brauche Käufer. Bring die Dinger an den Mann, Wonnemeier, oder es hat sich ausgenagelt.“
Er knüllte die Zeitung zu einer Kugel zusammen und warf sie achtlos hinter sich.
„Und wenn der nicht aufhört mit seinem Gekrakel, werde ich die Fuchsjagd eröffnen.“

Am nächsten Abend saß Nagel wieder in Wonnemeiers kleiner Galerieküche. Er zog gierig an einer Zigarette und quetschte sie anschließend in einem leeren Joghurtbecher aus. Er stand auf, ging zur Küchentheke, entkorkte eine Flasche Rotwein, trank einen großen Schluck, wobei ihm ein kleines rotes Rinnsaal am Kinn entlang lief, setzte ab und rülpste.
„Der gute Beaujelais. Du Verschwender. Hast du immer noch nicht genug getrunken?“
„Soviel kann ich gar nicht trinken, wie ich kotzen möchte“.
„Da waren schon einige potenzielle Käufer dabei. Die sind noch etwas unsicher, müssen sich erst an deine Kunst gewöhnen. Ich garantiere dir, dass morgen...“
„Nix is’ morgen. Einen Scheiß werden die. Ich hab’ gesehen, wie sie hämisch grinsend über meine Bilder hergezogen sind. Dachten wohl, ich merke nix. Und alles wegen diesem Schmierfritzen. Das gemeine Volk glaubt nur, was ihm diese sogenannten Kritiker vorbeten “

Nagel setzte die Flasche an und trank. Schließlich knallte er die leere Flasche auf die Theke.
„Haste noch was?“
„Woher denn? Du hast doch den ganzen Tag nichts besseres zu tun gehabt als meinen Weinvorrat zu vernichten.“
„Alles seine Schuld. Den schnapp ich mir.“
Nagel sprang auf, kippte den Stuhl um und geriet ins Schwanken. Er fing sich wieder und stürmte aus der Galerie.

Am nächsten Tag saß Nagel einem entgeisterten Wonnemeier gegenüber.
„Untersuchungshaft. Meine Güte, Nagel. Was hast du nur gemacht?“
„Was ich schon längst hätte tun sollen. Ich habe diesem Fuchs gezeigt, was wahre Kunst ist.“
„Aber musstest du denn dafür deine Bilder zerstören?“
„Ich wollte ihm das Maul stopfen, und das habe ich getan. Wenn man bedenkt, dass sein Leichnam jetzt selbst so etwas wie eine Galerie ist, war die Strafe eigentlich noch viel zu mild."

 

Hallo George!
Eine wirklich gute Geschichte, die du da geschrieben hast! Sie liest sich wirklich flüssig und ist mit netten/lustigen Formulierungen ausgeschmückt.
Mir sind keine inhaltlische, bzw. rechtschreibliche Fehler aufgefallen.
Und das Ende kommt zwar etwas erwartet aber man erwartet es wirkt trotzdem überraschend.

Wenn man bedenkt, dass sein Leichnam jetzt selbst so etwas wie eine Galerie ist, war die Strafe eigentlich noch viel zu mild.

Der Satz gefällt mir wirklich am meisten!
Ich stehe auf dunklen Humor :)

Turni :cool:

 

Flüssiger Stil, liest sich gut...

Zum Inhalt:

Irgendwie böööse :D gefällt mir :D

*fiesesgrinsen*

Jaddi

 

Hallo George,

Jaddi sei Dank, dass sie sich momentan querbeet liest und somit deine Geschichte wieder hervorgeholt hat.

Sie ist nämlich sehr gut geschrieben, du hast einen angenehmen Schreibstil,keine Sekunde langweilig oder langatmig.
Das Thema selbst ist leider etwas abgegriffen und auch die Umsetzung keineswegs so, dass es mich vom Hocker haut, trotzdem möchte ich deswegen nicht meckern, weil deine Personen wunderbar lebendig erscheinen, ohne mit Details überfrachtet zu sein. Gut gemacht.

Das Ende der Geschichte hab ich leider nicht verstanden. :shy: Sorry, vielleicht bist du oder einer der Kritiker mal bereit, mir da etwas Start-ähm bzw. Endhilfe zu geben.

Lieben Gruß
lakita

 

Der Titel bekannt,
der erste Satz monströs wie ein Werk von... Nagel. Routiniert, aber mit Sinn für Humor geschrieben.
War vergnüglich zu lesen, auch wenn du den Künstler noch ein wenig "schrulliger" hättest darstellen können. Da fehlt noch ein wenig Würze. Auch dem Ende hätte noch ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen gut getan, wirkt in seiner Kürze eher unmotiviert, da könnte man mehr draus machen.
Viele Grüße,
...para
Chefkoch und Kritiker.

............................................

Das er dabei einen Aschenbecher vom Tisch fegte, störte ihn nicht.
"Dass", oder?

 

Hi Para - Chefkoch und Kritiker,

wo hast Du denn die Uralt-Story ausgegraben? Ist ja schon gar nicht mehr wahr ;)
Trotzdem Danke für die Anmerkungen. Gegen Ende fehlt tatsächlich Fleisch auf den Rippen, das hat mich damals schon gestört. Wenn ich mich richtig erinnere (was mir mit zunehmendem Alter immer schwerer fällt), hatte ich die Geschichte für einen Wettbewerb mit Zeichenbegrenzung geschrieben. Und dann doch nicht abgeschickt. Warum auch immer :rolleyes:

Und der Hinweis auf dass ist korrekt. Ein Fehler, der mir ständig unterläuft. :(

Gruß
George

 

Moin George,

Ich schließe mich den anderen an. Die Geschichte ist wirklich ganz witzig geschrieben. Flüssig und locker geschrieben, es kommt keine Langweile auf.
Sehr schön fand ich den Running Gag mit dem Aschenbecher, dem später ein Joghurtbecher weichen muß.

Was mir aber nicht so gefallen hat, war das Ende. Erstens hast du die Pointe (Tod eines Kritikers) schon durch den Titel vorweg genommen, wodurch nichts überraschendes passiert. Und zweitens finde ich es irgendwie unplausibel, daß ein eitler Künstler sein eigenes Werk zerstört, um den Kritiker zu töten. Warum hat er ihm nicht einen Aschenbecher auf den Kopf gehauen?

Insgesamt aber eine gelungene Geschichte.

 

gnoebel: naja, Ehre, wem Ehre gebührt ... so unwahrscheinlich ist das Verhalten dieses (eitlen?) vor allem exzentrischen Künstlers gar nicht mal ... Ich kenne einige Menschen, die absolut nicht kritikfähig sind und lieber das kritisierte Stück beseitigen, als sich damit auseinanderzusetzen ... und der Gedanke, damit noch dem Verursacher allen Übels "das Maul zu stopfen", gibt dem ohnehin schon hintergründigen Humor dieser Story einen - meiner bescheidenen Meinung nach - perfekt bemessenen Hauch Zynismus ...

Wunderbar in diesem Zusammenhang auch das Verhalten des Galeristen, der nach einem Mord - begangen von seinem Freund - als erstes wissen möchte, warum dieser die Bilder zerstört hat ...

Kurz gesagt: Mag der Titel auch das Ende vorweg nehmen, so hat mir diese Story dennoch ausnehmend gut gefallen!

so long
SaltyCat

 

Hallo george,
mir ging es beim lesen ähnlich wie lakita - ich habe den schluss auch nicht verstanden. hat er den kritiker irgendwie abgemurkst, um dann seine leiche in die leinweind seiner monströsen gemälte einzuschlagen? wäre der künstler wenigstens bildhauer gewesen, so hätte er kräftige waffen in der hand gehabt!
kannst du mir bitte erklären, wie es tatsächlich war?
danke und gruß
ernst

 

Hallo Ernst,
also, die Geschichte hab ich ja irgendwie komplett übersehen. Da sind ja noch Kommentare von gnoebel (hallo gnoebel) und salty cat (ebenfalls hallo). Die Kommentare hab ich sehr wohl gelesen, nur irgendwie vergessen, zu antworten. Mist. Aber das kann ich jetzt nachholen: Danke für die Kommentare. Ich habe mich sehr darüber gefreut.

So, und nun zu der alles entscheidenden Frage, wie denn der Kritiker überhaupt zu Tode kam:
Ralf Nagel zerstörte seine Bilder, zerschnitt sie in kleine Schnipsel, die er dem Kritikerfuchs zu (fr)essen gab. Und zwar so viel und so lange, bis dieser an den Bildern bzw. den Stücken davon erstickte. Daher auch der Schluß: Er (Nagel) hat ihm (Fuchs) das Maul gestopft, wodurch er (Fuchs) quasi selbst so etwas wie eine Galerie wurde (weil doch die Bilder jetzt in ihm ausgestellt sind). So hatte ich mir das zumindest vorgestellt. Scheint aber nicht gut rübergekommen zu sein - sonst müsste ich es ja nicht erklären. Aber seit mir nicht böse, ich werde den Schluss trotzdem nicht ändern. Irgendwie hab ich mich dran gewöhnt ;)

Liebe Grüße und Danke an alle Kommentatoren (auch die, die ich vergessen hab, namentlich zu erwähnen)
George

 

ich hatte keine verständnisprobleme. umgehauen hat mich die geschichte aber nicht. schade, dass alles, auch der schluss wegen des titels, total vorhersehbar ist. da fehlt komplett irgendein überraschungseffekt, deswegen ist die geschichte leider komplett spannungsfrei. allzu witzig fand ich sie auch nicht, das war eigentlich die größte enttäuschung, weil ich gerade bock auf was lustiges hatte.
läuft ja alles irgendwie auf die pointe am schluss hin, nur haut einen diese nicht gerade vom hocker. alles in allem aber doch ganz nett, mehr aber auch nicht.

 

@ Waldemar

allzu witzig fand ich sie auch nicht, das war eigentlich die größte enttäuschung, weil ich gerade bock auf was lustiges hatte.
Pech gehabt :D

Mein Trost: Dies ist das Los eines jeden Autors. Der eine Leser steht auf Brachialhumor, der andere mag es lieber etwas subtiler. Alle zu befriedigen ist noch keinem gelungen :rolleyes:

Dein Trost: Wenn Dir das nächste Mal der Sinn nach etwas Witzigem steht, musst Du Dir Deine Zeit mit meinen Geschichten nicht vergeuden ;)

Danke für den Kommentar.

Gruß
George

 

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