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Tod eines Kritikers
Die Tür flog auf, Ralf Nagel stürmte wie ein Irrwisch in die Galerie, und das bis dahin an der Decke hängende Glockenspiel verabschiedete sich mit einem Misston aus seiner Halterung und knallte dem auf der Leiter stehenden Marcus Wonnemeier in den Rücken.
Erschrocken drehte der sich um. Nagel hatte inzwischen die Leiter erreicht und wedelte mit der Zeitung vor Wonnemeiers Gesicht.
„Hach, hast du mich erschreckt. Ich wäre ja fast zu Tode gestürzt“, säuselte Marcus Wonnemeier.
„Aus zwanzig Zentimeter Höhe? Das wäre Weltrekord. Hast du gelesen, was dieser Schmierfink wieder abgesondert hat?“
„Zumindest hätte ich mir blaue Flecken geholt. Und Blau steht mir ü-b-e-r-h-a-u-p-t nicht.“ Vorsichtig stieg Wonnemeier die zwei Stufen hinunter.
Nagel stampfte in die kleine Küche hinter dem Verkaufstresen und breitete die Zeitung auf einem Tisch aus. Das er dabei einen Aschenbecher vom Tisch fegte, störte ihn nicht. Hektisch fetzte er zwischen den einzelnen Seiten hin und her, bevor er schließlich seinen rechten Zeigefinger wie eine Stubenfliege auf LSD über einem Artikel kreisen ließ. Als Wonnemeier endlich neben ihm stand, stieß die Fliege auf die Zeitung herab.
„Hier, ich zitiere: ‚.“Wie lange wollen wir uns noch von Dilettanten täuschen lassen? Von Leo Fuchs.
Der Mainzer Künstler Ralf Nagel, von Einzelnen schon als die Rettung der Modernen angekündigt, will seine Werke im Rahmen einer Ausstellung in der Galerie Wonnemeier einem größeren Publikum präsentieren. Bisher hatten nur ausgewählte Freunde und Kunstkritiker Zugang zu Nagels Atelier.
Weil die was davon verstehen. Gib mir mal ´ne Zigarette. Weiter:
Auch dem Feuilleton-Chef dieser Zeitung - damit meint der sich - war es bis zu seinem ersten kritischen Artikel über die sogenannte Kunst Nagels gestattet, das Atelier zu besuchen. Scheinbar hält der Meister jedoch nichts von Widerspruch. Empfindlicher noch als eine Primadonna belegt er jeden, der es wagt, sich kritisch über ihn zu äußern, mit einem Bann.
Was heißt hier Bann? Rausgeschmissen hab ich diesen Kretin.
Nun jedoch plant Nagel eine Ausstellung seines Gesamtwerkes. Das kann soviel nicht sein, benötigt Nagel doch mehrere Jahre um eines seiner monströsen Bilder fertig zu stellen. Wie uns Galerist Wonnemeier mitteilte, sieht Nagel die Zeit gekommen, dem staunenden Publikum die Erneuerung der Postmoderne vor Augen zu führen.
Und so weiter und so fort. Hast du wirklich mit diesem Sudeljournalisten geredet?“
Schuldbewusst sah Wonnemeier zu Boden.
„Mein Aschenbecher. Du Verbrecher. Den hat mir Beuys persönlich geschenkt“, jammerte er und ging vorsichtig in die Knie.
„Scheiß auf Beuys! Hast du oder hast du nicht?“
Wonnemeier untersuchte den Aschenbecher auf Risse und stellte ihn dann vorsichtig auf der Küchentheke ab.
„Mach dir doch nix aus diesem Geschreibsel. Morgen ist Ausstellungseröffnung. Das Publikum reißt sich darum, endlich einen echten Nagel zu sehen.“
„Ich scheiß auf das Publikum, ich brauche Käufer. Bring die Dinger an den Mann, Wonnemeier, oder es hat sich ausgenagelt.“
Er knüllte die Zeitung zu einer Kugel zusammen und warf sie achtlos hinter sich.
„Und wenn der nicht aufhört mit seinem Gekrakel, werde ich die Fuchsjagd eröffnen.“
Am nächsten Abend saß Nagel wieder in Wonnemeiers kleiner Galerieküche. Er zog gierig an einer Zigarette und quetschte sie anschließend in einem leeren Joghurtbecher aus. Er stand auf, ging zur Küchentheke, entkorkte eine Flasche Rotwein, trank einen großen Schluck, wobei ihm ein kleines rotes Rinnsaal am Kinn entlang lief, setzte ab und rülpste.
„Der gute Beaujelais. Du Verschwender. Hast du immer noch nicht genug getrunken?“
„Soviel kann ich gar nicht trinken, wie ich kotzen möchte“.
„Da waren schon einige potenzielle Käufer dabei. Die sind noch etwas unsicher, müssen sich erst an deine Kunst gewöhnen. Ich garantiere dir, dass morgen...“
„Nix is’ morgen. Einen Scheiß werden die. Ich hab’ gesehen, wie sie hämisch grinsend über meine Bilder hergezogen sind. Dachten wohl, ich merke nix. Und alles wegen diesem Schmierfritzen. Das gemeine Volk glaubt nur, was ihm diese sogenannten Kritiker vorbeten “
Nagel setzte die Flasche an und trank. Schließlich knallte er die leere Flasche auf die Theke.
„Haste noch was?“
„Woher denn? Du hast doch den ganzen Tag nichts besseres zu tun gehabt als meinen Weinvorrat zu vernichten.“
„Alles seine Schuld. Den schnapp ich mir.“
Nagel sprang auf, kippte den Stuhl um und geriet ins Schwanken. Er fing sich wieder und stürmte aus der Galerie.
Am nächsten Tag saß Nagel einem entgeisterten Wonnemeier gegenüber.
„Untersuchungshaft. Meine Güte, Nagel. Was hast du nur gemacht?“
„Was ich schon längst hätte tun sollen. Ich habe diesem Fuchs gezeigt, was wahre Kunst ist.“
„Aber musstest du denn dafür deine Bilder zerstören?“
„Ich wollte ihm das Maul stopfen, und das habe ich getan. Wenn man bedenkt, dass sein Leichnam jetzt selbst so etwas wie eine Galerie ist, war die Strafe eigentlich noch viel zu mild."