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Tod 2.0
Über die sehr bunte Frühlingswiese hoppelte ein niedliches Zwergkaninchen. Es blieb kurz stehen, streckte sein entzückendes Näschen in die Luft und schnüffelte. Es merkte, dass etwas nicht stimmte, und versuchte zu flüchten. Vergebens. Der Himmel verfinsterte sich schlagartig. Rote Reißzähne erschienen in der Luft, ein riesiges Maul, das den ganzen Horizont ausfüllte. Steve beobachtete fasziniert, wie das vor Entsetzen erstarrte Kaninchen verschlungen wurde.
Die Erregung hielt nicht lange an. Obwohl das Kaninchen so real wie alles in Steves Welt gewesen war, hatte es eben doch nur aus Bits bestanden - so wie Steve selbst.
Die Tiermorde wurden ihm langsam langweilig, so verbrachte er die nächsten hunderttausend Zyklen damit, mit jedem Topmodel der Welt zu schlafen. Nicht schlecht für einen Toten.
Er musste an den Vortrag des enthusiastischen jungen Ingenieurs zurück denken, den er einige Jahre vor seinem natürlichen Tod gehört hatte.
Dessen Hoffnung war es gewesen, dass ein DiGhost mit seinen immensen Fähigkeiten zu einer Art Schutzengel für die Menschheit werden würde. Fortschritt durch digital aufgemotzte Intelligenz. Er hätte Zugriff auf jedes Fitzelchen Information der Welt, dazu praktisch unendlich Zeit und ein Gehirn, das fast mit Lichtgeschwindigkeit arbeiten würde.
Steve hatte Milliarden in das Projekt Unsterblichkeit investiert. Doch der Fortschritt der Menschheit war dem Todkranken dabei völlig egal gewesen. Auch jetzt, wo der Traum Realität geworden war, scherte er sich einen Dreck um alle, die das unverschämte Glück hatten, noch zu leben.
Steve war frustriert. Die einzige Einschränkung seiner tausendfach potenzierten mentalen Fähigkeiten stellte die Notwendigkeit dar, den Verstand nicht zu überlasten, was seine Persönlichkeit und das Bewusstsein zerstört hätte. Die beiden Dinge, die am ehesten dem Leben vor dem Tod ähnelten. Er musste grinsen, was einige Millionen Bits zu heftigen Zustandswechseln veranlasste. Persönlichkeit? Bewusstsein? Nichts als kalte Daten. Unterprogramme, die gut geschützt irgendwo in seinem neuen Gehirn lagen. Seit Millionen von Zyklen versuchte er, die Firewall zu knacken. Nicht, weil er seine Persönlichkeit nicht gemocht hätte - sie war ihm einfach langweilig geworden. Eine komplizierte Art der digitalen Todessehnsucht. Doch für Suizid gab es kein Unterprogramm, und die Unendlichkeit hätte höchstens durch einen totalen Stromausfall unterbrochen werden können.
Obwohl Steve alles erdenkliche erschaffen konnte, sehnte er sich seit einiger Zeit nach echten Menschen. Zwar hatte er unbegrenzte Macht, aber nur in seiner eigenen kleinen Welt. Wahre Macht war für ihn die Macht über Menschen. Doch dafür hätte er die Möglichkeit gebraucht, mit ihnen zu kommunizieren. Sinnlos. Die paar Minuten, die ein einziger Dialog "draußen" dauerte, waren für ihn Jahrzehnte. Ein Patch, mit dem er seinen eigenen Prozessortakt verlangsamen würde können, war in Arbeit. Das bedeutete, dass Steve in einer halben Unendlichkeit damit rechnen konnte. Schon damals, als er noch in Echtzeit gelebt hatte, war ihm immer alles zu langsam gegangen.
Ein leises Summen erregte seine Aufmerksamkeit. Er durchstöberte seine manifestierten Speicherbänke, fand aber keine Ursache, obwohl das Summen überall war. Diese elenden Stümper mussten etwas übersehen haben, einen sich anbahnenden Hardwaredefekt oder unsauber programmierte Software.
Steve entschloss sich zur ersten Helpdeskanfrage seines neuen Lebens. Das Summen wurde lauter, wurde zu einem Dröhnen. Er wollte sich die Ohren zuhalten, doch das ging nicht. Die Schmerzen begannen. Eiskristalle bohrten sich in seinen digitalen Schädel. Erst einer, dann zehn, dann tausend. Die Schmerzen waren bereits unerträglich, und doch potenzierten sich mit jedem Zyklus weiter. Panisch schickte er weitere Anfragen nach, Millionen davon, alle mit einem einzigen Inhalt: ZIEHT DEN STECKER. Die Eiskristalle verwandelten sich in Klauen, die ihn in ein schwarzes Meer aus Schmerz zogen.
Am anderen Ende der Zeit kehrte der Techniker mit einer dampfenden Tasse Kaffee in den Rechnerraum zurück. Sein Postfach war heiß gelaufen. “Na na, mein Alter, kannst du mir nicht mal eine Minute Pause gönnen?”, murmelte er und las die Nachricht. “Grad mal seit einer Stunde online, und schon wird er melodramatisch.” Achselzuckend startete er die Diagnoseprozedur.