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tock-tock-tock

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13.03.2003
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tock-tock-tock

Ich lächle oft, ich lache selten. Musik höre ich am liebsten leise, laute Menschen meide ich. Lärm in jeder Form beunruhigt mich, reißt an meinen Nerven, macht mich krank. Sogar schreiende Schlagzeilen sind mir zuwider. Einladungen zu Partys sagte ich stets ab, bis sie nach und nach seltener wurden und schließlich ganz ausblieben.
Ich streite mich nicht. Das ist ganz einfach: jeder Konflikt bietet mehrere Wege, einer davon ist immer der des geringsten Widerstandes – den gehe ich. Nie hörten meine Kinder mich schimpfen, nie meine Frau mich fluchen. Kinderjohlen, Kindersingen und Kinderlachen sind das einzige Lautsein, das ich toleriere.
Wollen sie von mir unterhalten sein, tobe ich nicht mit meinen Kindern, wie Väter es oft und gerne tun. Ich lese ihnen vor, erzähle ihnen Geschichten, zeige ihnen kleine Kunst- und Zauberstückchen. Ein Fünfmarkstück wandert von Fingergelenk zu Fingergelenk, verschwindet in der Innenhand und ist nicht mehr da; aus einem Kartenspiel finde ich jene Karte heraus, die meine Kinder zuvor ausgewählt haben, ohne sie mir zu zeigen. Ich zause in Kathrins Lockenkopf und ziehe einen Bonbon daraus hervor; mit Hendriks Stoppelhaar geht das nicht - ihm zaubere ich einen Weingummibären aus dem Ohr.
Und manchmal nehme ich den Gehstock, der in meinem Arbeitszimmer neben dem Schreibtisch steht: poliertes Wurzelholz und ein Griff aus geschnitztem Elfenbein, von dem ein Stückchen abgesplittert ist. Diesen Stock balanciere ich dann auf der Fingerspitze, auf der Stirn oder der Nase, bis Kathrin und Hendrik applaudieren. Und manchmal bitten sie mich: „Erzähl uns von dem Stock, Papa!“

Mama war Hausfrau und Mutter – meine Mutter. Papa war Techniker in einer kleinen Firma, die Pumpen baute; er ging früh zur Arbeit und kam spät heim. Damals wohnten wir in einer kleinen Mietwohnung in Berlin, im zweiten Stockwerk, bis Papas Firma umzog, und wir auch, in das Haus, in dem Oma und Opa heute noch wohnen.
Kurz bevor ich diesen Gehstock zum ersten mal sah, saß ich in unserer kleinen Küche und lernte für die Schule. Ich hatte ein Gedicht auswendig zu lernen, und Mama, die Geschirr spülte und Kartoffeln fürs Abendessen schälte, hörte mich nebenbei ab:

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.

tock-tock

Ich schaute Mama an, ihr Blick forderte mich auf: „Weiter!“

„Wie war“ (spricht er, sich erhebend –
und entschlossen weiterlebend)
möglich dieses Unglück, ja - :
dass es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in Bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivor...

Tock-Tock-Tock

Ein lautes, aufforderndes Klopfen an der Tür, obwohl es an unserer Wohnungstür eine Klingel gab. Mama sah mich fragend an, und ich sie auch. Sie trocknete ihre Hände in der Schürze ab, ging zur Tür und öffnete. Ich beugte mich auf meinem Stuhl ein wenig zur Seite um sehen zu können, wer geklopft hatte: eine kleine, alte Frau, leicht gebeugte Körperhaltung, weißes Haar und eine ziemlich große Nase. Sie stützte sich auf den Gegenstand, mit dem sie angeklopft hatte: ihren Gehstock.
„Juten Tach! Ick bin Ihre neue Nachbarin, Frau Weiß ausse dritte Etage, ick wohn direkt üba Sie!“, erklärte sie. Mama reichte ihr die Hand, stellte sich ebenfalls vor und bat Frau Weiß, einzutreten.
„Nee, ick will nich lange schtörn. Ham Sie Kinda?“.
„Ja, einen Sohn, zwölf ist der.“ Mama rief mich: „Komm, und sag Frau Weiß ‚Guten Tag‘!“. Das tat ich.
„Du machst doch wohl hoffentlich keen Krach, Junge? Ick bin ziemlich empfindlich, von Krach krie’ck imma Herzklabastern!“ Mama übernahm es, Frau Weiß zu erklären, dass ich ein sehr ruhiger Junge sei.
Ich musterte die alte Frau, die kaum größer war als ich, von oben bis unten und nahm dabei den merkwürdig muffigen Geruch wahr, der von ihr ausging. Und mein untrüglicher Kinderinstinkt sagte mir, dass Frau Weiß und ich nie Freunde sein würden. Mehr noch: ich ahnte, dass diese neue Nachbarin eine unerfreuliche Rolle in meinem Leben spielen sollte. Und damit lag ich richtig, sehr richtig. Nur – wie unerfreulich diese Rolle sein sollte, das konnte ich nicht ahnen, und noch weniger, welches dramatische Ereignis ihre Rolle beenden sollte.

Als mein Vater an dem Abend von der Arbeit nach Hause kam, lag ich im Bett und las. Er begrüßte mich, erkundigte sich nach der Schule, und ich trug ihm das auswendig gelernte Gedicht vor. Papa schmunzelte. Und dann begann er, mich zu kitzeln, wie so oft, wenn er gut gelaunt war. Ich war enorm kitzlig, damals, und das wusste er. Er liebte es, mich zu kitzeln, bis ich vor Lachen kaum noch Luft bekam. So auch an dem Abend: ich wälzte mich laut lachend im Bett und versuchte, seinen Fingern zu entkommen...
tock-tock
Tock-Tock-Tock
TockTockTockTockTock...

Papa ließ ab von mir und starrte an die Zimmerdecke, von der das Klopfen, das nun auch von Gekeife begleitet wurde, kam.
„Was ist das?“ fragte er mich.
„Frau Weiß!“ antwortete ich.
„Ach ja...“ sagte Papa, „Mama hat mir erzählt...“
TockTockTockTockTock
Das kam von der Wohnungstür. Und dann brach die Hölle los: Kaum hatte Mama die Tür geöffnet, wurde sie von einem Schwall böser Verwünschungen überhäuft. Vom „ins Grab bringen“ war die Rede, „rasenden Herzschmerzen“ und „gefühllosen Nachbarn“. Schlagartig war es wieder ruhig. Dann stand Mama in der Tür meines Zimmers und seufzte: „Da haben wir uns eine nette Nachbarin eingehandelt...“

Einige Tage darauf kaufte ich mir von meinem lange zusammengesparten Taschengeld eine Schallplatte mit einem damals sehr bekannten Lied. Froh, diesen Song, dessen einfachen Text ich vom häufigen Hören aus dem Radio bereits auswendig kannte, mein Eigen zu nennen, legte ich, kaum zuhause angekommen, die kleine Schallplatte auf meinen einfachen Dual-Plattenspieler, dessen Lautsprecher mein nicht minder einfaches Kofferradio war. Bassgitarre und Schlagzeug gaben den Takt vor: ein schwerer, träger Beat. Ich stellte mich in Positur, wiegte Kopf und Hüften im Takt und spielte die Luftgitarre dazu. Und dann sang ich mit, etwas gedämpft, aber selbstvergessen, so als stünde ich auf der Bühne des Beat-Club:

Hang on Sloopy! Sloopy hang on!
Sloopy lives in a very bad part of town
And ev'rybody, yeah, tries to put my Sloopy down
Sloopy, I don't care what your Daddy do
'Cause you know, Sloopy girl, I'm in love with you
And so I'm singing

tock-tock
Hang on Sloopy! Sloopy hang on!
Hang on Sloopy! Sloopy hang on!
Sloopy let your hair down girl, let it hang down on me

Tock-Tock-Tock
Come on Sloopy - come on, come on
Oh come on Sloopy - come on, come on

TOCKTOCKTOCKTOCK
Oh come on Sloopy - come on, come on
Well it feels so good – ...

„Musst du zu deiner verdammten Beatmusik auch noch mitgröhlen?“ Ich hatte meine Mutter nicht hereinkommen gehört, obwohl die Musik bestenfalls auf Zimmerlautstärke lief. Ich hatte mich weggeträumt. Ein wenig rücksichtslos nahm Mama die Nadel von der Schallplatte, was ein hässliches Geräusch machte und einen bleibenden Kratzer hinterließ.
„Ich will keinen Ärger haben, verstehst du? Es gibt nicht so viele Wohnungen, und schon gar nicht so günstige und gut gelegene wie unsere. Wir müssen Rücksicht nehmen auf die Nachbar...“ Das tocktocktock an der Haustür unterbrach Mamas Predigt.
„Siehst du? Jetzt geht’s wieder los...!“ Sie hatte recht, es ging wieder los. Mama hatte die Tür noch nicht geöffnet, da schimpfte Frau Weiß schon.
„Ihr Rotzlöffel hat mir mit sein Jeschreie und seine Negermusik aussem Mittachsschlaf jerissen! Und den muss ick machen, hat der Dokta jesacht, wegen mein Herz!“ schimpfte die Alte auf Mama ein. Dann sah sie mich, der ich vorhatte, sie um Entschuldigung zu bitten, hob drohend ihren Gehstock gegen mich und schrie mich an: „Wejen dir lie’ck bald im kühlen Jrabe, du rücksichtsloset Schtück! Wat glotzte mir so blöde an – macht dir wohl Spaß, ‘ne alte Frau zu Tode zu ärgern, wat? Na, da bin ick ja jespannt, wat der Hausverwalter da dazu sagen wird!“ Der drohend geschwungene Stock verfehlte seine Wirkung nicht. Alle guten Absichten vergessend flüchtete ich mich in mein Zimmer und begrub mich unter meinem Oberbett, hielt mir die Ohren zu, um das Gekeife und die ungerechten Vorwürfe der alten Frau nicht mehr hören zu müssen.
Von da an durfte ich meine Schallplatten nur noch ganz leise hören, mitsingen oder gar zum Takt trommeln war verboten. Mama und Papa stellten den Fernseher gerade so laut, dass sie die Moderatoren und Akteure ihrer Lieblingssendungen eben noch verstehen konnte. Papa verzichtete sogar auf seinen geliebten Samstagabend-Western im Ersten Programm. Er hatte Bedenken, dass Frau Weiß vom Getrappel der Pferde, dem Schreien der Indianer und John Waynes Schüssen aufwachen und vor Aufregung einen Herzanfall bekommen könnte.

Auf dem Sandweg vor unserem Mietshaus spielte ich Murmeln mit Bernie Wittkop. „Seid leise!“ hatte Mama uns ermahnt, denn es war ein warmer Tag und alle Fenster waren weit geöffnet, auch das Wohnzimmerfenster von Frau Weiß, das ich vom Kiesweg aus sehen konnte. Wir waren leise, flüsterten fast. Und das Klicken der Glaskugeln konnte Frau Weiß unmöglich stören.
„Na, ihr Memmen?“ Bernie und ich waren so ins Murmeln vertieft, dass wir Joschi Gericke und seine beiden Spießgesellen nicht hatten kommen hören.
„Murmeln – wie goldig! Und nachher fahrt ihr Puppen spazieren, wa?“
„Nee, nachher muss Bernie seinen Ollen wieder ausse Kneipe abholen und nach Hause lotsen!“ bemerkte der dicke Hotte Kremer spöttisch.
„Genau, ey!“ ergänzte der rothaarige Ingo und lachte hämisch. Und dann stimmten die Drei einen Spottgesang auf Bernies Vater an:

Bernie Wittkops
Vater issen Spritkopp
Bernie Wittkops
Vater issen Spritkopp


Dabei schubsten sie sich den kleinen Bernie, dessen halbherzige Versuche, sich durch Fausthiebe zu verteidigen, sie nur amüsierte, gegenseitig zu. Und mich, der ich Bernie helfen wollte, stießen sie zu Boden.

Bernie Wittkops
Vater issen Spritkopp
Bernie Wittkops
Vater issen Sprit....

tock-tock
Tock-Tock-Tock
TockTockTockTockTock

Frau Weiß hämmerte mit dem Griff ihres Stockes auf die blecherne Fensterbank vor ihrem Wohnzimmer und begann, mich und meine „Radaubrüder“ zu beschimpfen und zu verfluchen.
„Und du Rotzlöffel bist natürlich ooch wieda dabei! Imma, wenns Radau jibt, fühlste dir wohl! Wenn se mir ma tot inne Wohnung finden, is det mit Sichaheit dein Werk jewesen!“
Natürlich bekam Mama das mit – „Komm sofort rein!“ rief sie mir aus dem Fenster zu und entschuldigte sich sofort bei Frau Weiß, die aus dem Fenster über ihr herunterschrie. Das amüsierte Joschi und seine Kumpel noch mehr, aber immerhin ließen sie dabei von Bernie ab. Das nutzte ich – ich griff den schluchzenden Bernie am Ärmel und zog ihn hinter mir her ins Haus. In der Wohnung angekommen, ließ ich Mamas Vorwürfe und Bitten, leiser zu sein, nicht ohne Widerrede über mich ergehen:
„Wir waren leise, Mama! Bis Joschi mit seinen Freunden kam und sie Bernie zu ärgern begannen!“
Bernies wortloses Nicken bestätigte meine Verteidigungsrede. Mama seufzte, drückte mich kurz an sich und murmelte: „...tut mir leid, aber du weißt ja...“ Ja, ich wusste. Dann, in meinem Zimmer, tröstete ich meinen immer noch leise wimmernden Freund.
„Das Schlimme ist...“ sagte Bernie leise und zog den Rotz hoch, „..sie haben ja recht!“
Ja, recht hatten sie.

Wohnungen mit Zentralheizung gab es damals kaum. Die meisten Wohnungen hatten Kohle- oder Ölöfen. Und Herr Wittkop war Kohlenhändler in unserem Bezirk. Weiß war sein Kopf nie, auch wenn sein Name es verhieß. Der Kohlenstaub hatte sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte so tief in seine Poren gegraben, dass Herr Wittkop ein „schwarzer Mann“ geworden war. Und Herr Wittkop war immer durstig. Schon zum Frühstück, hatte Bernie mir erzählt, trank sein Vater den ersten Schnaps, „das Blut zu verdünnen, das sonst vom vielen Kohlenstaub zu gerinnen drohe, und den Magen auf den Staub des Tages vorzubereiten!“, so rechtfertigte der Kohlenhändler jene Angewohnheit. Diese gesundheitsvor-sorgenden Maßnahmen setzte Kohlen-Wittkop den ganzen Tag über fort, mit Bier und mit Schnaps. Ich hatte ihn mehrmals bei uns in der Küche sitzen und Schnaps trinken sehen, nachdem er uns Eierkohlen oder Briketts in den Keller geliefert hatte. Je nach Trunkenheitsgrad nannte er Bernd, der sein einziger Sohn war, „Bernie“, „Berndchen“, „Bengel“, „Schweinebengel“ oder „Rübenaas“. Letzteres meist dann, wenn sein Sohn auf Bitten der Mutter im „Zille-Eck“ erschien, um seinen Vater nach Hause zu holen.

Zuhause wurde bald nur noch geflüstert. Es wurde peinlich darauf geachtet, dass alle Zimmertüren geschlossen waren, damit sie nicht, von Zugluft bewegt, plötzlich und laut zuschlagen konnten, weil sonst: Tock-tock! Mama hörte auf, beim Bügeln Musik zu hören und die Begleitung zu pfeifen: Tock-tock! Ich lud keine Freunde mehr zu mir ein; wir waren in einem Alter, in dem es fast unmöglich ist, in einer Gruppe leise zu sein, und dann: Tock-tock!
Unsere gemeinsamen Lieblingssendungen im Fernsehen, in denen Chaplin, Keaton, Laurel&Hardy, Harold Lloyd und die anderen ihren Unfug trieben, sahen wir nur noch schlechten Gewissens und mit zusammengekniffenen Lippen an, blickten, wenn die Komiker es sehr arg trieben, zur Zimmerdecke und warteten, in unsere Hände prustend aufs: Tock-tock.
Tock-tock und das Warten darauf bestimmten unser Leben.

Mama hatte mich gebeten, eine Trage Briketts aus dem Keller zu holen, sie wollte den Badeofen heizen. Also ging ich vorsichtig und leisen Schrittes die Treppen zum Keller hinunter, das Laufen im Treppenhaus hatte ich mir längst abgewöhnt - tock-tock! Im Keller füllte ich den Blechbehälter mit dem schwarzem Ofenfutter und trug ihn leise in die Wohnung. Um die Türklinke nicht mit meinen rußigen Händen zu beschmutzem, klemmte ich mir die Trage vor die Brust und öffnete die Badezimmertür mit dem Ellenbogen. Etwas ungeschickt war ich dabei, die Tür entglitt meinem Ellenbogen, schlug gegen den Türstopper aus Gummi und schnellte zurück. War es ein Reflex, die Angst, Krach zu machen oder sonst etwas: ich ließ die Trage fallen und wollte die Tür festhalten. Das schwere Ding landete auf meinem Fuß – auf der Stelle vergaß ich Tock-tock! Während die Briketts scheppernd über den Fliesenboden schlidderten, hüpfte ich laut brüllend auf dem unversehrten Fuß und massierte den schmerzenden, vom Briketteimer getroffenen anderen.
Ein nie zuvor gehörtes Tock-tock-Gewitter verkündete, dass der Zwischenfall Frau Weiß auf den Plan gebracht hatte. Kaum eine Minute später hämmerte sie auch schon an unsere Wohnungstür. Mama, die mitbekommen hatte, was geschehen war, zeigte Nerven. Zum erstenmal nahm sie Frau Weiß‘ Beschimpfungen nicht unerwidert und nicht nur entschuldigend hin. Von einem kleinen Unfall, der doch jedem mal passieren könne, sprach sie in leisen Worten, in zu leisen Worten, wie ich fand, aber immerhin. Frau Weiß drohte an, den Vermieter darauf zu drängen, uns die Wohnung zu kündigen. Zuvor aber wollte sie, und zwar sofort, ihren Arzt aufsuchen, damit der ihre Herzschmerzen behandeln und einen Attest ausstellen könne. „Und mit den Attest jeh ick zum Vamieta, denn wolln wa ma sehn, wie lange Sie mir noch det Leben schwer machen, ja!?“ Puterrot war Mamas Gesicht, als sie die Tür schloss. Dann besah sie sich meinen geschwollenen Fuß.
„Du musst zum Arzt!“ entschied sie, „vielleicht ist was gebrochen.“

Obwohl ich humpelte, wollte ich mich nicht von Mama begleiten lassen. „Ich kann alleine gehen, Mama!“ Was, wenn Joschi Gericke mich gesehen hätte, möglicherweise Hand in Hand mit meiner Mutter?
Ich war auf dem Weg zur nahegelegenen Bushaltestelle; die Praxis unseres Hausarztes war eine halbe Busfahrtstunde entfernt. Als ich mich dem gelben Busstop-Schild näherte, sah ich, dass dort bereits eine Person stand und auf den 49er wartete: eine kleine, alte Dame mit weißem Haar und großer Nase, die sich auf einen Stock stützte. Sie erkannte mich schon von Weitem, ihre Augen müssen noch sehr gut gewesen sein. Wieder hob sie drohend ihren Stock:
„Jeh mir aus die Augen, du Rabauke! Ick krieg schon keene Luft mehr wejen dir!“ rief sie mir zu und massierte dabei ihre Herzgegend. Ich bekam Angst, und mein Fuß tat plötzlich kaum noch weh. Ich drehte mich um und begann, von Frau Weiß‘ Schimpfreden begleitet, zu laufen. Aber nur wenige Schritte, dann ließ mich ein durchdringendes, anhaltendes Hupen innehalten und stehenbleiben.

Herr Wittkop war nicht sonderlich betrunken, für seine Verhältnisse war er sogar fast nüchtern, stellte sich später heraus. Etwas an der Lenkung seines altersschwachen, aber zu der Stunde mit Kohlesäcken vollbeladenen Opel-Blitz-Kleinlasters war plötzlich kaputt gegangen. Die Lenkung war blockiert, und die Bremsen, lange nicht mehr gewartet, waren auf der leicht abschüssigen Straße überlastet. Wenn er der alten Frau an der Bushaltestelle, auf die sein LKW fast ungebremst zurollte, nicht ausweichen konnte, so wollte er sie durch ein vernehmliches Hupsignal dazu veranlassen, ihm auszuweichen. Aber er kannte Frau Weiß nicht.
Und so sah ich sie: Zeternd drohte Frau Weiß dem hupend herannahenden Fahrzeug der Firma „Hermann Witkopp – Heizstoffe“ mit ihrer hocherhobenen Gehhilfe, nicht bereit, dem Lärmenden auch nur einen Schritt auszuweichen. Trotzig bot sie der direkt auf sie zusteuernden bulligen Blechschnauze des Kohlenlasters die Stirn, den Stock und ihren ganzen zierlichen Körper.
In dem Graben, der nur wenige Schritte hinter der Bushaltestelle verlief, kam Herrn Wittkops Opel Blitz zum abrupten Stillstand. Wie gelähmt stand ich und blickte starr hin zu dem Fleck, auf dem Frau Weiß noch vor einer Sekunde gestanden hatte.

Tock-tock-tock-tock...
Beinahe hätte ihr Gehstock mich getroffen. Er fiel mir buchstäblich vor die Füße, gab im elastischen Nachfedern letztmalig die mir so verhassten Töne von sich. Ein kleines Stück Elfenbein muss abgesplittert sein, als der Griff auf das Steinpflaster aufschlug. Ohne nachzudenken nahm ich den Stock und lief los, nach Hause.
Eine Woche später bekam Papa das Angebot, mit seiner Firma nach Westdeutschland zu ziehen.

 

Hallo Bobo,
Schöne Geschichte, die du da geschrieben hast. :) Du schreibst in einem angenehm fliesenden Stil, und was mir aufgefallen ist( so beim ersten Durchlesen) ohne nennenswerten Rechtschreibe- und Zeichensetzungsfehler. :thumbsup: (Bin natürlich auch kein Profi). Eine Frage hätte ich allerdings noch. Warum mag dein Prot. nur leise Musik und keinen Lärm. Sind das immer noch die Nachwirkungen, weil er durch die alte Nachbarin immer leise sein musste? Müsste er dann aber nicht gerade andersherum denken, weil er ja am eigenen Leib erfahren hat, wie furchtbar es ist, wenn man ständig Rücksicht nehmen soll?

Liebe Grüsse
Blanca

 

Hallo Blanca,

danke für Deine nette Rückmeldung.
Er war ja schon als Kind nicht besonders laut, normal eben. Und der Unfall, bei dem Frau Weiß getötet wurde, und den er miterlebt hat, hat ihn wohl noch stiller werden lassen. So etwa....
Vielleicht ist er aber auch nur so still (geworden), weil mir stille, leise Menschen ungemein sympathisch sind...? ;)

Gruß
Bobo

 

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