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Toby und sein Haustier
Mit den Erinnerungen verhält es sich manchmal so wie mit den ehemaligen Lieblingsspielsachen.
Entweder man hebt sie auf. Oder sie landen auf dem Müll. Vielleicht kann ein anderer etwas damit anfangen.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Die Fragen nehmen mit jedem Tag zu.
Warum habe ich mich so verhalten?
Da wäre zum einen die Sache mit dem Roman. Ich meine, warum habe ich nicht gleich etwas gesagt? Der Verlag rief mich an und wollte mit mir über das Skript sprechen. Und ich hörte einfach zu. Es war lange her, dass ich über eines meiner Skripte mit einem Verlag sprechen durfte. Sie waren begeistert und erklärten mir die Pläne und Termine. Ein paar Wochen später erschien es dann. Hier und da gab ich ein paar Signierstunden. Alles war wieder wie früher. Ich war wieder im Spiel. Der Verlag war zufrieden. Ebenso mein Agent. Alles war perfekt. Bis auf die Tatsache, dass mit diesem Buch ein paar Fragen aufkamen.
Und ein paar Probleme. Denn die Räder drehten sich bereits.
Das Buch war ein Bestseller. Und was für einer. Ich wurde verglichen, interpretiert und gefeiert. Doch mit der Geschichte, die sich zwischen den Buchdeckeln versteckte, schlich sich ein Virus in die Realität. Alles begann aus dem Ruder zu laufen.
Und irgendwann gab es da diese Vermutung, dass mein Roman die Ursache sei. Das war natürlich zu jener Zeit, als es schon zu spät war. Der Schaden war bereits angerichtet. Die Paranoia griff um sich, wütete und infizierte jeden Leser.
Für jene gab es zwei Arten des Wahnsinns.
Die eine war -
sich zu verstecken.
Sie verkrochen sich in den Kellern. Unter den Häusern. Unter der Fassade der Normalität. Sie wollten einfach nicht mehr raus. Bis der Hunger sie auffraß. Anfangs bemerkte man das gar nicht. Hier und da schien es, als würden Leute verschwinden. Doch das war nur eines der Dinge, die weitere Fragen aufwarfen.
Warum?
Wieso?
Wie konnte das passieren?
Und während ich das hier auf ein kleines Stück weiße Tapete schreibe, frage ich mich, für welchen Wahnsinn ich mich entscheiden würde. Wenn ich mich entscheiden müsste. Oder könnte.
Aber für mich galt das anscheinend nicht. Bin ich immun?
Wie gesagt: Die Fragen nehmen mit jedem Tag zu.
Warum hatte ich von Anfang an nichts gesagt? War es die Verzweiflung? Seit Jahren wurden sämtliche Skripte von jedem Verlag grundlos abgelehnt. Und auf einmal war ich wieder gefragt. Habe ich deshalb nichts gesagt? Nicht gesagt, dass die Geschichte, um die es in dem Buch geht, gar nicht von mir ist?
Sie ist doch nicht von mir oder? Habe ich deshalb nichts gesagt, weil ich mir hin und wieder nicht sicher bin? Mal glaube ich, dass es so sein könnte. Dass ich es geschrieben habe. Aber dann frage ich mich auch -
wann und wo?
Die Sache mit dem Erinnern ist meine kleine Nemesis.
Seit dem Unfall vor langer Zeit. Selbst heute noch gibt es Momente und Stunden die im Schleier verschwinden. Und nicht immer sind die Tabletten daran schuld. Manchmal scheint auch etwas anderes der Grund zu sein.
Die Straßen sehen friedlich aus. Alles scheint normal zu sein. Dann ist es immer am gefährlichsten. Ich steige auf mein Fahrrad und fahre los. Schnell. Schneller. Immer. Auch wenn die Anderen, jene die nicht in den Kellern verhungern, harmlos wirken, so lauert in ihnen der andere Teil.
Das andere bisschen Wahnsinn.
Fressen oder gefressen werden, denke ich.
Ich erinnere mich nicht mehr an bestimmte Teile meiner Kindheit. Einzelne Kapitel scheinen einfach rausradiert worden zu sein. Nachdem ich fiel. Und fiel.
Auch an Toby werde ich mich nie wieder erinnern können. Eigentlich kann Toby also gar nicht existieren. Und eigentlich kann ich euch auch deshalb gar nicht von Toby erzählen. Aber genau darum geht es doch. Das Grauen steckt im Fehler.
Ich habe mir die Geschichte immer und immer wieder durchgelesen. Jedes Mal blitzen Bilder auf. Das kann ein Teil der Fantasie sein. Es kann daran liegen, dass ich es wirklich geschrieben habe. Es kann aber auch ein Stück geraubte Erinnerung sein. Aber ich erinnere mich nicht. Nicht daran wie ich Toby dabei erwischt habe. Daran wie er sein eigenes ganz besonderes Haustier hielt. Auf den Straßen wirkte das Leben so normal wie immer. Aber in seinem Keller bewahrte Toby seine Nichtmenschlichkeit auf. Er war für mich, damals als ich klein war, ein Monster in Menschengestalt. Mit Menschenhaut. Und Menschenaussehen. Etwas vor dem man sich fürchten musste.
Und in meiner Fantasie bin ich jener Held, der seine Angst besiegt und dieses besondere Haustier, das wie ein kleines menschliches Wesen aussieht, rettet.
Aber solche Tage passieren nur in den Geschichten, die gelobt in den Bücherregalen stehen und über die man redet. Während ich mich nicht daran erinnere, ob ich weglief und fiel oder etwas unternahm und gestürzt wurde.
Doch ich kenne dieses Angstgefühl. Tief im Inneren. Vor solchen Tobymonstern. Die einem sagen, dass sie die Macht über Alles und Jeden haben. Dieses Grauen an das man glaubt, wenn man klein ist, während die Ungeheuer groß erscheinen. Das macht sie so gefährlich. Vielleicht bleiben Kinder immer klein und die Monster werden schon groß geboren.
Ich weiß es nicht.
Ich erinnere mich nicht an die Geschichte einer Rettungsmission, die ich geschrieben haben soll und weshalb mich der Verlag anrief. Aber ich habe nichts gesagt. Ich habe nur dagestanden. Vielleicht nicht zum ersten Mal in meinem Leben. Nur dass ich dieses Mal nicht falle. Denn als Toby vor ein paar Wochen starb, wurde der Roman an einen Verlag geschickt.
Und jeder der damit in Berührung kam, steckte sich unweigerlich an.
Es war ein schleichender Prozess.
Die Verwandlung war kaum sichtbar.
Die Einen wurden Tobymonster.
Und die Anderen verkrochen sich.
Es sei denn, ich unternehme dieses Mal etwas.