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Tobi fährt
Manchmal roch es nicht gut im Bus. Die Kunden waren alt, ihre Blasen schwach. Die Männer hatten eine vergrößerte Prostata, die Frauen versteckten den Verfall hinter süßem Parfum. Am Anfang hatte Tobi Kaugummi gekaut und sich Minz- oder Limettenatem in die Nase gepustet. Inzwischen tat er das nicht mehr. Dieser Job, dieser Bus, hatten ihn hart gemacht.
Korfesmeyer musste nicht abhärten. Er war immer hart gewesen. Ein Profi. Knutschte und knuddelte die Omis, sprach mit den Männern über Stuhlgang und Krieg. Nicht Syrien oder Afghanistan, sondern den Krieg.
Der Geruch heute, Gott im Himmel. Das war nicht nur ein bisschen Pippi mit Erdbeer. Korfesmeyer zog ein Gesicht, das sagte: Du meine Fresse! Tobi erinnerte die Luft an einen fiesen Darmbazillus, der ihn nach faulen Eiern hatte aufstoßen lassen, vor ein paar Monaten, stundenlang, immer wieder, bevor er die Nacht im Sitzen verbracht hatte. Zum Glück hatte er noch Kaugummi im Handschuhfach aus seiner Zeit als Anfänger.
Vielleicht hatte es auch etwas mit ihren Schuhen zu tun. Diese unsagbar dreckigen Schuhe, die sie diesmal alle hatten. In der Erde auf dem Boden könnten sie Kartoffeln pflanzen.
Korfesmeyer präsentierte die Produkte. Er räusperte sich oft und ständig verhaspelte er sich. „Das darf in keiner Küche fallen, fehlen ...“ Es klang nicht wie Korfesmeyer, der Profi. Es klang wie ein Doppelgänger, der noch lernte, während Reptiloiden den echten Korfesmeyer gefangen hielten.
„Jedenfalls ...“ Gewitter in der Leitung. Nichts Technisches. Ein weiteres Räuspern. Boxen und Mikro waren Müll wie fast alles im Bus. Korfesmeyer kalkulierte nicht mit Stammkunden. Einmal abziehen, fertig. Bevor die Beschwerden reinkamen, hatte er das Unternehmen umbenannt.
Korfesmeyer schluckte. Es kam durch die Boxen, weil er das Mikrofon noch am Mund hatte. Er hielt es zu und beugte sich zu Tobi runter.
„Willst du mir was sagen?“
„Was?“ Tobi nahm den Blick nicht von der Straße. Die Realschule hatte er geschafft, aber seitdem stockte seine Karriere, seit gut zwanzig Jahren jetzt. Verantwortung war nicht seine Welt, außer am Steuer, da schon. Zu viele Bilder in den Nachrichten. Blech und Blut. So ein Schild wollte er haben: Bitte den Fahrer nicht während der Fahrt ansprechen.
„Hast du einen Hund überfahren und ihn irgendwo zwischen die Sitze gesteckt?“, fragte Korfesmeyer. „Das ist doch nicht normal.“
„Wir können ein Fenster aufmachen.“
„Es schneit.“
„Nur kurz.“
Korfesmeyer studierte den vitaminschonenden Entsafter in seiner Hand. Er hob wieder das Mikrofon. „Liebe Leute, wer ist für ein bisschen frische Luft?“
Die Kundschaft schwieg. Ob sie was ahnten? Wer stinkt, merkt es ja selbst nicht. Herr Fabry stand auf und setzte Korfesmeyers Vorschlag in die Tat um.
„Danke!“ Korfesmeyer zeigte auf den Kunden: Mein Mann.
„Seid ihr verrückt, es ist jetzt schon zu kalt!“, schimpfte eine Frauenstimme von den hinteren Bänken.
„Es müffelt aber wirklich hier drin“, antwortete Herr Fabry.
Müffelt. Tobi griff das Lenkrad fester. Das Schlafzimmer müffelt im Winter morgens, wenn man bei geschlossenem Fenster geschlafen hat. Das hier war irgendwas zwischen Biotonne und Kläranlage.
Frau Borchers trug Ohrringe, die größer waren als ihr Kopf. Sie drehte sich zu Fabry um. „Als ob du besser riechst.“
„Oh, hey!“ Korfesmeyer lachte. „Liebe Leute, meine Damen und Herren, wir sollten uns nicht selbst die schöne Fahrt vermiesen.“
Borchers winkte ab. Pah. Ein greises Männerflüstern von irgendwo zwischen den Bänken: „Blöde Kuh. Mit ihren Zigeunerringen da.“
„Leute!“ Korfesmeyer gestikulierte wie ein Trainer am Spielfeldrand. Die Mannschaft ignorierte ihn. Tobi knuffte den Chef gegen den Oberschenkel und zeigte auf das Schild. Rasthof in fünf Kilometern.
Korfesmeyer atmete auf, als hätte der Fleck auf seinem Röntgenbild sich gerade als Fettgerinnsel herausgestellt. „Liebe Leute! Eine Pause wird uns allen guttun!“ Er hängte das Mikrofon zurück in den Halter und stellte die Musik an. Hoch auf dem gelben Wagen. Ein Eisbrecher. Funktionierte nicht. Diesmal nicht. Niemand sang mit. Nur eine Frau sagte etwas. „Ich habe nie viel von diesem düsteren Zinnober bei Beerdigungen gehalten.“ Dann sagte sie noch etwas. Korfesmeyer blickte geradeaus, als hätte er nichts gehört. Sein Adamsapfel hüpfte, als die Frau sprach.
„Darum wird das bei meiner gespielt.“
Es mochte an der Musik liegen oder am Gestank, Sauerstoffmangel im Gehirn, aber Tobi war sicher, die Frau hatte etwas anderes gesagt. Nicht wird.
Wurd'.
Korfesmeyer saß auf der Lehne der Parkbank. Die Sitzfläche war vollgeschneit. Er rauchte und spuckte sich zwischen die Beine wie ein Teenager. Tobi spuckte auch, seinen Kaugummi in den Schnee. Er blieb stehen zum Rauchen. Er saß ja die ganze Zeit, Stunden am Stück und am Ende immer noch ein bisschen was drauf, bis Korfesmeyer den letzten Hornhauthobel aus Schweizer Manufaktur für sechshundert Euro verkauft hatte. Einkaufspreis fünf Euro. Er gab Tobi dann ein Zeichen, ein kreisender Zeigefinger: Ich brauche noch.
„Künstlicher Darmausgang.“ Tobi streckte das rechte Bein durch und zog die Zehen an. Dann das linke. „Kann so was sein? Kann der platzen oder so was?“
Korfesmeyer schüttelte den Kopf. „Das riecht anders. Scheiße meine ich.“ Er rauchte hastig, verschluckte sich und hustete.
Tobi sah zum Bus. Sie waren ein paar Meter gegangen, wie immer. Außer Hörweite. Um zu besprechen, wie sie mit dem Klugscheißer umgehen sollten. Ein Fips Asmussen war fast immer dabei oder einer, der ganz genau wusste, was für Ganoven sie waren, sie alle mit diesem Verkaufsbusscheiß. Einer, der da nur seiner Annegret zuliebe saß.
„Das ist keine Scheiße“, sagte Korfesmeyer.
Sie zogen ein paar Mal an ihren Zigaretten. Tobi winkte einer der Omis, die vom Klo hinter der Tankstelle zurück zum Bus tippelte. Alle hatten Angst, auf dem Schnee auszurutschen und sich die Hüfte zu brechen. Das war so ein Ding, wusste Tobi inzwischen. Sich die Hüfte brechen. „Soll ich raten?“
Korfesmeyer sah ihn an.
„Dein Gefühl.“
Der Chef schnipste seine Zigarette weg und steckte sich eine zweite an. „Wenn ich's dir erzähle, glaubst du, ich hab' gesoffen.“
„Juckt dich das?“
Korfesmeyer hatte die Hosen an. Gab Tobi eine Einschätzung zum besten, die nicht mit seiner übereinstimmte, sagte er: Es interessiert mich nicht, was du davon hältst. Tobi war das recht so. Er bekam weniger Geld, denn er fuhr nur den Bus, aber der Richter würde ihm auch weniger aufbrummen, wenn es dann doch mal so weit war. „Hast du die Erde gesehen, die sie im Bus verteilen?“, fragte Korfesmeyer.
„Ja. Alle pottdreckige Schuhe.“
Korfesmeyer zeigte ihm einen Vogel. „Sind alle über einen Acker gelaufen, oder was?“
Warum nicht? Die meisten Kunden stammten vom Dorf, saßen allein in zu großen Häusern und wollten einfach mal raus. „Irgendwoher muss es ja kommen.“
Korfesmeyer bewegte den Mund, als kaute er auf Worten herum und als fragte er sich, ob er sie nicht doch lieber runterschlucken sollte. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich die Adressen kaufe.“
„Und?“
„Wenn du Adressen kaufst, sind sie teurer, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie noch stimmen. Also, wenn der letzte Kontakt nur ein paar Wochen her ist, irgendein Nudelholz bestellt, dann kostet das richtig Geld.“
Korfesmeyer sah ihn an, als müsste es längst Klick gemacht haben. Tobi breitete die Arme aus wie Flügel. „War es das schon?“
Korfesmeyer blickte zum Bus. „Ich hab diesmal lieber zehn billige als eine teure gekauft. Viel hilft viel.“
Tobi schüttelte den Kopf. Solche Informationen wollte er nicht haben. Keine Details. Wer sich solche Gedanken machte, handelte mit krimineller Energie. Der nützliche Idiot, der den Bus fuhr, kam mit Bewährung davon. Vielleicht ein Jahr, keine Bewährung. Immerhin säße er nicht zum ersten Mal auf einem dieser knochenharten Stühle, die sie im Gerichtssaal hatten. In jedem vermutlich. Sicher sagen konnte er es von vieren.
„Warum erzählst du mir das?“
„Die billigen sind billig, weil sie das Gegenteil von den teuren sind.“
Ach?
„Guck nicht so dämlich. Das heißt, der letzte Kontakt ist Jahre her. Kein Mensch weiß, ob die Adresse noch stimmt. Und einer von den Adressentypen hat mir mal gesagt, es weiß entsprechend auch keiner, ob die überhaupt noch leben. Wenn einer schon beim letzten Mal siebzig oder achtzig war, gibt es natürlich eine Chance, dass er ...“ Ein Räuspern, ein nachdenklich langer Zug an der Zigarette.
Auch Tobi steckte sich jetzt eine zweite an. Eigentlich reichte ihm eine, selbst bei längeren Pausen.
Korfesmeyer zog heftig an seiner Zigarette. Das Papier brannte runter bis zum Filter. „Eigentlich habe ich gedacht, was soll's.“ Er sah zum Himmel. Es schneite kaum noch. Ein oder zwei Flocken trafen ihn im Gesicht. „Aber ich glaube, sie sind wirklich gekommen.“
„Was?“
„Der Gestank und die Erde, wie willst du das sonst erklären?“
Tobi rieb sich die die Augen. „Fahren wir weiter?“, rief Herr Möller mit dem Jägerhut. Er stand vor dem Bus und winkte ihnen. Im Licht der Parkplatz-Laternen schienen seine Wangenknochen durch die Haut zu brechen.
„Geht gleich weiter!“ Tobi winkte zurück. „Kleinen Moment.“
Möller sah ihn an, als würde ihm die Antwort nicht genügen. Dann nickte er und stieg ein.
Korfesmeyer spuckte aus. „Die Frage ist, wohin?“
„Was meinst du?“
„Wo fahren wir jetzt hin?“
„Zum Weihnachtsmarkt. Deine eigene Ansage. Wunderschön, die Lichter in der erhabenen Dunkelheit eines späten Winternachmittags. Wie sonst auch.“
Korfesmeyer lachte. Es klang traurig. Ein bisschen irre. „Es ist nicht wie sonst auch.“
„Doch.“ Tobi stapfte trotzig seine Zigarette im Schnee aus. „Es ist wie sonst auch.“
Korfesmeyer stammelte sich von Heintje-Platinum-Editionen über Körnerkissen zu durchblutungsfördernden Pillen, die aus Wasser und Zucker bestanden. Tobi versuchte, die Schleife zu vergessen.
Sie hatte auf den Stufen gelegen, als sie wieder eingestiegen waren. Er rutschte darauf aus. Korfesmeyer fing ihn auf. Herr Möller hatte gelacht. Frau Borchers ermahnte ihn, über so etwas lache man nicht, der junge Mann hätte sich die Hüfte brechen können. Tobi hob die schwarz-weiße Seide auf. Er und Korfesmeyer starrten den Schriftzug an. „Geht's endlich weiter?“, hatte jemand gerufen.
Jetzt ging der Satz Tobi im Kopf herum. Der Satz auf der Schleife. Gut Schuss im Himmel, Hans. Deine Kameraden vom Schützenverein Volltreffer.
Tobi hätte es nicht für möglich gehalten, aber der Gestank wurde schlimmer. Zwischen all der Erde auf dem Boden wand sich ein Regenwurm. Immer wieder erhellten Straßenlaternen das Innere des Busses. Wie Blitzlicht. Bitte lächeln. Eine Frau, deren Blick genau in dem Moment den von Tobi im Rückspiegel kreuzte, bleckte plötzlich die Zähne, auf denen etwas herumkrabbelte. Tobi verzog kurz nach links. Wütendes Hupen draußen. Wütender Gegenverkehr.
„Bisschen sachte, junger Mann“, mahnte einer der Fahrgäste.
Fick dich. Tobi entschuldigte sich. Was hat sie mit ihren Lippen gemacht?
Vielleicht hatte Korfesmeyer doch recht gehabt. Es war nicht wie sonst auch. Sie hatten Erde in den Haaren und Erde in den Taschen. Fingernägel mit schwarzen Rändern. Je länger der Bus fuhr, desto weniger verstellten sie sich. Als würden sie die Hose aufmachen und die Schuhe ausziehen.
Auch den lebenden Fahrgästen wurde klar, neben wem sie da saßen. Sie tuschelten. Der Rest genoss die Fahrt.
Tobi fuhr den Bus rechts ran. Er stellte sich neben Korfesmeyer, dem das Mikrofon in der Hand zitterte. Er wollte den Chef, den Trottel, der sie in diese Scheiße gerissen hatte, gerade unterstützen, da erhob sich ein gewaltiger Mann. Herr Wiehagen. Sein Doppelkinn war in Bewegung. Etwas rührte sich darin. „Wir sind geladene Gäste“, sagte er. „Wo ist das Problem?“
Korfesmeyer senkte den Blick.
Der dicke Wiehagen wusste, wo das Problem war, sonst hätte er ja nicht unaufgefordert danach gefragt. Trotzdem sagte Tobi: „Kein Problem.“ Er hob die Hände. „Aber was wollt ihr?“
Eben noch wirkte Wiehagen empört, jetzt entspannte er sich. „Es ist arschkalt in der Erde.“ Er zeigte auf Korfesmeyer. „Er soll was dagegen machen.“
Mit einem Schlag gegen den Oberarm riss Tobi Korfesmeyer aus den Gedanken. „Die Heizdecken!“, flüsterte er.
Korfesmeyer sah ihn an. Seine Augen weiteten sich, als er verstand.
„Gib sie ihnen!“ Tobi hob die Decke auf, die Korfesmeyer für die Präsentation vorn hatte. Er drückte sie dem Chef in die Hand. „Los!“
Holprig pries Korfesmeyer die Decke an. Es ging weiter mit der Verhaspelei, schlimmer als zuvor. Die Toten ließen ihn trotzdem ausreden. Wiehagen kniff zunächst misstrauisch die Augen zusammen, doch dann bannten ihn Korfesmeyers Ausführungen zur Stromsparfunktion. Er wehrte sich nicht, als seine augenlose Frau ihn am Ärmel des schwarzen Sakkos zurück auf den Sitz zog. Tobi kratzte sich an der Stirn. All die schwarze Kleidung. Wie hatte ihm das nicht auffallen können?
Weil du nur den Bus fährst. Augen geradeaus. Denk an die Nachrichten.
Ein lebender Kunde protestierte, man könne jetzt nicht einfach weitermachen, als wäre nichts.
„Exklusiv auf dieser Fahrt für nur 399 Euro.“ Etwas hatte dem schockstarren Profi in Korfesmeyer eine Schelle verpasst. Er war vorübergehend wieder bei sich. Klang wie jemand, der tut, was getan werden muss. Wie die Band auf der Titanic.
„Die wollen uns doch verarschen“, schimpfte ein Lebender.
„Wenn Sie ein vergleichbares Angebot irgendwo günstiger finden, zeigen Sie es uns und Sie bekommen ihr Geld zurück.“
„Das meine ich nicht. Wir ...“
Wiehagen, der dem Protestler gegenüber saß, legte ihm die riesige Hand auf die Brust, den Blick starr auf Korfesmeyer gerichtet. Der Protestler wollte weitersprechen, doch seine Frau warnte ihn, jetzt still zu sein.
Wiehagen zeigte auf Korfesmeyer. „Ich nehme so eine.“ Er schüttelte langsam den Kopf und ließ im selben Takt seinen Zeigefinger hin und her wippen. „Aber ich zahle da keine achthundert Mark für.“
„Das ist top Qualität.“
Tobi schlug Korfesmeyer auf den Rücken. „Herrgott, schenk sie ihm notfalls!“
Widerwillig ging Korfesmeyer auf Wiehagen zu und gab ihm die Decke. Der Kunde studierte das Produkt. Als seine Frau Hand daran legte, zog er die Decke ungeduldig an sich. Mit Augen hätte sie ihn wohl vorwurfsvoll angesehen.
„300“, sagte Korfesmeyer. Tobis Blick ging zur Decke.
„Zwei“, sagte Wiehagen. „Für die Decke und deine Därme.“
Korfesmeyer räusperte sich. „Bitte?“
Wiehagen strich über die Decke. „Die ist schön, aber das wird nicht reichen. In Stalingrad haben wir uns mit den Därmen der Gefallenen zugedeckt. Das hilft.“
Seine Frau stöhnte und wandte ihr Gesicht zum Fenster. „Du bist '37 geboren.“
„Halt die Klappe.“ Er streichelte Korfesmeyers Bauch wie ein glücklicher Vater den der Mutter. Korfesmeyer wollte zurückweichen, aber drei der Fahrgäste in schwarz standen auf und hielten ihn fest.
„Wie ein heißes Bad“, erklärte Wiehagen. Er glotzte auf Korfesmeyers Bauch mit Geilheit in den Augen. Korfesmeyer drehte sich um zu Tobi. Der wollte sich gerade für ihn einsetzen, da schnitt ihm der Schrei des Chefs das Wort ab. Während die Fahrgäste mit Taschen voller Erde Korfesmeyer hielten, riss Wiehagen ihm erst das Hemd und dann die Bauchdecke auf. Knöpfe fielen auf den Boden. Der dicke Wiehagen schloss die Augen, als ihm Blut ins Gesicht spritzte. Er lächelte. Dann zog er die Schläuche durch den Riss und legte sie sich und seiner Frau um den Hals. Sie zog ihn am Arm runter und küsste ihn auf die Wange.
„Oh Gott, tu ihn zurück!“, schrie Korfesmeyer und zerrte an den Händen, die ihn hielten. Wie unglaublich lange er das tat. Bis seine Worte keine Worte mehr waren.
Tobi hatte viele Jobs gehabt. Einmal hatte er Zement gemischt, war aber nach drei Tagen nicht mehr hingegangen. Die Alte im Jobcenter auf hundertachtzig. Knochenarbeit. Zement gemischt, neun Stunden lang. Seine Popel kleine Steinchen. Jetzt floss ihm der Zement durch die Adern und härtete langsam aus. Er konnte die Beine nicht bewegen und die Arme nicht heben. Wenn sein Körper ein Haus war, war er nur Gast und hatte nichts zu sagen.
Die lebenden Kunden unterdrückten ihre Panik nicht länger, als sie Korfesmeyers Fleisch reißen hörten. Keine Verhandlungen mehr, kein Gerede. Krieg. Sie versuchten, aus dem Bus zu kommen, aber die meisten schafften es nicht einmal aus ihrem Sitz. Die Toten machten ihre Därme zu Decken. Wie Stalingrad mit vertauschten Rollen. Auf dem Gang schmatzten Schuhe durch tonfarbenen Matsch.
Als Tobi die Beine wieder spürte, war es zu spät. Hände so kalt wie der Schnee packten ihn. In der Erwartung zuzusehen, wie seine Eingeweide losgewickelt wurden wie ein Feuerwehrschlauch, fing er an zu pinkeln. Es lief ihm die Beine runter in die Socken. Warm. Er schüttelte den Kopf. „Bitte nicht.“
„Doch.“ Herr Wiehagen. Seine Initiative hatte ihn zum Anführer gemacht. Er kam auf ihn zu und tippte ihm auf die Brust. „Wir wollen den Weihnachtsmarkt sehen. Wie Sie ihn versprochen haben.“
Blaulicht störte die Romantik des späten Winternachmittags. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann viele. Zu den Chipmunks, deren Quäkgesang sich vom Kinderkarussell ausbreitete und sich vermischte mit Wham!s Last Christmas, gespielt an der Bude für gebratene Champignons, gesellte sich eine dritte Stimme. Sie klang blechern und forderte Tobi auf, den Bus mit den Händen hinter dem Kopf zu verlassen.
Er drehte sich noch einmal zu den Kunden um. „Sagt etwas, ihr dämlichen alten Säcke.“
Den Teufel taten sie. Selbst Wiehagen schwieg. Sie waren so, wie sie sein sollten. Jetzt auf einmal. Starr und bleich. Als wären sie nie hier gewesen, um sich aufzuwärmen. Aber die Scheiben des Busses glänzten rot und um die Hälse der Verwesenden baumelten Innereien wie Lametta am Weihnachtsbaum.
Tobi öffnete die Bustür. Es zischte. Er stieg die Treppe runter. Langsam. Sie war glitschig. Sobald er seinen Fuß auf den Asphalt setzte, wurde er zu Boden gerissen. Skimasken und dicke Westen und Maschinenpistolen. Sein Kinn schlug auf und ein Stück Zahn brach ab. Es kratzte an der Zunge wie ein Zementpopel. Wenigstens hatte er sich nicht die Hüfte gebrochen. Jemand drückte ihm kaltes Metall in den Nacken und nannte ihn gestörtes Stück Scheiße. Er wurde gefragt, ob da noch einer war, noch ein Stück Scheiße.
„Auf jeden Fall!“ Ein Bulle trat seine Beine auseinander. „Ich fahre nur den Bus!“