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Titellos
- Titellos -
Er saß, seine Beine von der Kante baumelnd, an der Brücke. Die eine Hand im Schoß, die andere auf dem Knie mit einer Zigarette zwischen den Fingern, saß er dort und kümmerte sich nicht.
Er versuchte die Welt einfach sein zu lassen, sich von den Problemen zu lösen und jemand anderes zu sein. Er wollte nicht nachdenken, weil er wusste wohin es führen würde. Doch er war hierher gekommen, um trotz allen inneren Widerstandes ein paar Gedanken zu fassen, um sich von den Konsequenzen leiten zu lassen. Um diese Konsequenzen zu finden, musste er nachdenken, und wovor er sich zuvor scheute, musste jetzt getan werden.
Seine Eltern hatten ihn vernachlässigt. Sie hatten an einem Punkt einfach aufgehört wirklich mit ihm zu reden. Die ganzen Worte die sie von sich gaben waren für ihn wie die unergründlichen Tiefen der Weltmeere, und die plötzlichen Emotionsausbrüche vor Wut, Enttäuschung oder Verzweiflung schienen ihn wie ein kleines Boot in zu großen Wellen hin und her zu werfen, bis er zerbrach.
Es war schon seit Jahren so gewesen. Seit er neun Jahre alt war, stritten seine Eltern sich, nahmen ihn als Symbol ihrer gescheiterten Ehe. Er konnte sich nicht dem Gefühl erwehren, dass sie ihn deswegen tief im Inneren aufrichtig hassten. Ihre Moral, die es ihnen verbot, schien scheinheilig, und es tat ihm unglaublich weh zu wissen, dass sie es nicht wussten.
Wenn der Mensch etwas bewusst tut, war er zu belehren, doch herrschte das Unterbewusstsein, und trickste es das Bewusstsein mit einer Farce aus, war es zu spät. Er war verzweifelt gewesen, hatte Zeichen gesetzt und um Hilfe geschrien, doch sie konnten ihn nicht hören.
Als sein Freundeskreis sich aufzulösen begann und er nicht mehr die Kraft hatte weiter an seinem sozialen Umfeld zu arbeiten, versank er tiefer im Morast des Leids. Auch seine Hilferufe zehrten an seiner Kraft, und er begann sich zu wundern wie viel er noch übrig hätte. Als er sich dazu entschied sie für bessere Tage zu sparen, entdeckte er zuvor unbekannte Reserven, die er abrufen konnte wenn er bei ihr war.
Sein Blick wanderte zum Horizont, wo sich ein paar Wolken angesammelt hatten. Sie waren groß und dunkel, und sie trübten seine Gedanken. Er dachte wie komisch es sei, dass diese Wolken ihn bedrücken konnten, dass sie eine Macht auf ihn ausübten, die sie scheinbar nirgends schöpfen konnten.
Er zog an seiner Zigarette, inhalierte tief und atmete aus. Sein Atem bebte, und er fürchtete sich vor dem Moment wo er die Kontrolle über ihn verlor, wo die Tränen löschten was noch da war.
Er erinnerte sich an das erste Treffen mit ihr, als sei es gerade erst gewesen. Wie sie ihn offen anlächelte und eine gebündelte Freundlichkeit ausstrahlte, die er nicht gewohnt war. Das Anders-Sein dieser Person faszinierte ihn, und er vergaß seinen Kummer wenn er mit ihr redete, wenn sie gemeinsam lachten. Er fühlte sich frei, als ob er kühle, frische Luft durchatmete, nachdem er sechs Stunden in irgendwelchen muffigen Kneipen gesessen hatte.
Und ehe er sich versah, brauchte er sie. Ohne sie erstickte er in dem liquiden Schwarz seines Lebens, und sie wurde zum Nagel an dem seine Welt hing.
Er war sich der Lage bewusst, und bald rollten Wellen der Angst vor dem Verlieren des letzten Haltpunktes über ihn hinweg wie Vorboten von Dingen, die noch kommen mögen. Seine Angst brachte ihn dazu sich an sie zu klammern, und je näher er ihr kam, je näher er sie an sich gelassen hatte, desto dunkler wurden die Momente, in denen er sich fragte was sein möge wenn er sie nicht kenne, oder wenn sie ihn nicht erlauben würde sie zu lieben, und desto kürzer wurden die Abstände zwischen ihnen.
Sie begann sich zu wehren. Zaghaft zunächst, nur andeutend. Er missverstand die Zeichen, und seine Angst vermehrte sich. Schon bald hatten sie ihn voll ergriffen, und das Leid von zu Hause durchbrach wieder die Mauer, die er mit ihrer Hilfe hatte bauen können. Und der ganze angestaute Schmerz wirbelte ihn herum, und er wusste nicht mehr was er tat.
Niemand reichte ihm eine Hand, und niemand half ihm. Er war auf sich allein gestellt, und keine Möglichkeit den Schmerz von sich zu stoßen, versetzte ihn, den Schmerz, in die Lage, die Kontrolle vollends über ihn zu ergreifen.
Ehe er sich bewusst werden konnte was er tat und wer er war schritt er zu Handlungen. Zu Handlungen von Ausmaßen die ihm erst später klar wurden.
Er spürte wie seine Augen wässrig wurden, doch er unterdrückte das Gefühl weinen zu müssen, zog noch einmal an seiner Zigarette und warf sie hinunter.
Der Wind wirbelte sie hin und her, zerrte und riss an ihr bis sie auf dem Boden ankam und die Glut in tausend kleine Punkte gesprengt wurde. Die hell-orange leuchtenden Partikel stoben in alle Richtungen davon, und verglimmten sofort wieder.
Er schaute auf zum Himmel. Die fast schwarzen Wolken begannen ihre Schwere abzubauen, indem sie vereinzelt Tropfen fallen ließen. In der Dämmerung begannen seine Gedanken in die letzten Abgründe seines Daseins zu gehen.
Er war zu ihr gegangen, wollte die Angst loswerden. Er sah keine Möglichkeiten mehr. Er konnte sie nicht verlieren ohne sich zu verlieren, und so glaubte irgend ein Teil in ihm sie töten zu müssen.
Ermorden war das falsche Worte, und töten war es eigentlich auch. Sie waren behaftet mit dem Geschmack des Bösen, doch er tötete aus Liebe und Verzweiflung heraus, und er war sich selbst nicht mehr im klaren, wie er glaubte das eine mit dem anderen verbinden zu können.
Nach dem sanften Ableben von ihr war ihm schlagartig bewusst geworden was er getan hatte. Als ob das Schreien und Rauschen, als ob der unglaubliche, unkontrollierbare Lärm des Lebens von einem auf die anderen Sekunde erlöschte, war er sich völlig im Klaren über sich und seine Handlungen. Und er konnte das Gefühl nicht abschütteln, als ob irgendetwas über ihn lachte.
Er zerbrach mit dem Ankerpunkt seiner Welt. Der Nagel an dem die Welt hing war zerborsten, und alles schien zu kollabieren. Hatte er zuvor noch die Möglichkeit gehabt sich zu kontrollieren, hatte er sie jetzt verloren. Er vegetierte von einem Tag auf den anderen, und nach weniger als drei tiefschwarzen Nächten hatte es ihn verzehrt.
Jetzt saß er an der Brücke, ließ den Regen über sich prasseln und nutzte seine Machtlosigkeit als Antrieb. Nur aus der Machtlosigkeit heraus konnte er noch Kraft sammeln, und er musste ganz loslassen, um genug Kraft zu sammeln, das zu tun, was ihm seine Gedanken vorschreiben mochten.
Er schloss seine Augen, richtete sein Gesicht in die Richtung der Blitze, die nun die Nacht in Sekunden Abständen für Millisekunden erleuchteten und schrie ihren Namen heraus.
Doch niemand hörte ihn, und mit dem verklingen seiner Stimme bahnten sich die angesammelten Tränen in seinen Augen einen Weg nach außen, liefen ihm über die Wangen, und als der erste Tropfen konzentriertes Leid auf seinen Lippen starb, ließ er los.
Während er fiel, lächelte er das Lächeln des Missverstehens, und als er aufprallte und sein Körper zerbrach, war er im Koma, nur wach.